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lassen, daß ihr abgegebenes amtliches Gutachten zur Superrevision auswärtigen medicinischen Autoritäten unterbreitet wurde. Ebenso mußten sich die Hofleute und Diener Herzog Friedrichs dem Gerichtshofe stellen, um sich über die physischen und moralischen Eigenheiten des Herzogs zu Protokoll vernehmen zu lassen. Selbst die Waschfrauen wurden über die Gesundheitsverhältnisse des Herzogs examinirt. Von auswärtigen Zeugen wurden mehrere Personen aus Stadtilm vorgeforden, die den Herzog in einem Zustande von Geistesabwesenheit und kindischer Abhängigkeit von seiner Umgebung gesehen haben wollten. Zwei Deutsche, ein Professor Hasper aus Leipzig und ein Herr Rißler, ich weiß nicht woher, dienten dabei, im Interesse der englischen Compagnie, als Aufspürer von den Klägern nachtheiligen Zeugen. Der „Allg. Anzeiger der Deutschen“ findet, in dem erwähnten Artikel, die „Schamlosigkeit“ dieser Zeugenaussagen über oder gegen das Leben eines eben verstorbenen deutschen Regenten ganz gleich der Schamlosigkeit, welche die Zeugenvernehmungen in dem noch im frischen Andenken lebenden Scandalprocesse gegen die Königin Caroline von England zu Tage förderten. Endlich wurde die Untersuchung, nachdem sie, wie bereits bemerkt, fünf volle Monate gedauert halte, geschlossen und die Acten nach England geschickt, ohne daß den Klägern Einsicht in dieselben gestattet wurde, während die Beklagten in England ohne Schwierigkeiten Abschriften erhielten. Dagegen hatten die gothaischen Bürger die Ehre, die Gasthausrechnnug für die hohe Commission mit circa sechstausend Thalern berichtigen zu dürfen.

Die deutschen Policeninhaber beschlossen jetzt, zunächst ihre 3208 Pfund Sterling betragende Forderung gegen die Atlas Company einzuklagen, da ja ein günstiges Urtheil in dieser Sache auch für die andern Forderungen entscheidend sein mußte. Die Hauptverhandlung fand vor dem Geschwornengericht der Kings-Bench am 21. October 1828 statt, unter dem Vorsitze des Lord Tenterdon. Der Anwalt der deutschen Kläger war kein Geringerer, als der berühmte spätere Lordkanzler Brongham, der mit glänzender Beredsamkeit, kräftig und gewandt, ihre Sache führte. Ueber die Ergebnisse des Zeugenverhöres wurde vom Gerichtshofe Dr. Green, Arzt am londoner Thomashospital, vernommen, dessen Aussage dahin lautete, daß die Geistesschwäche des Herzogs nicht der Art war, daß sie seine physische Gesundheit benachtheiligte, daß er (Zeuge) jedoch, wenn ihm die Ausstellung des besagten Gesundheitsattestes übertragen worden wäre, es für nöthig erachtet haben würde, der Geistesschwäche des Herzogs und seiner mangelhaften Sprachorgane Erwähnung zu thun. Der Vorsitzende, Lord Tenterdon, erklärte demnach, er würde den Geschworenen zu entscheiden geben, ob ihrer Meinung nach Thatsachen verschwiegen worden seien, die den Versicherern hätten bekannt gemacht werden sollen; fiele die Antwort bejahend aus, so wäre die Police dem Gesetze nach für null und nichtig zu halten. Diese Aeußerung machte sichtlich einen den Klägern nachtheiligen Eindruck auf die Stimmung der Geschwornen, so daß Lord Brougham es nicht für rathsam hielt, es auf einen Spruch ankommen zu lassen, sondern es vorzog, sich – wie die englische Proceßordnung es erlaubte – mit dem Vorbehalte abweisen zu lassen, das; er auf eine neue Untersuchung antragen könne.

Aber die Kläger verzichteten auf eine weitere Verfolgung ihres Rechts vor dem englischen Forum. Ihr Muth war durch den ungeheuren Kostenaufwand dieses ersten Versuches gebrochen. Lord Brougham liquidirte für seine Bemühungen als Anwalt nicht weniger als 2700 Pfund Sterling (gegen 19,000 Thaler); eine gestellte Caution von 900 Pfund Sterling war für die Kosten der Verhandlung vor der Jury daraufgegangen. Kurz, Alles in Allem gerechnet, belief sich der gemachte Aufwand bereits auf 27,000 Thaler, während es sich zunächst nur um ein Object von 3208 Pfund Sterling oder nicht ganz 22,000 Thaler handelte!

So endigte, noch bevor es zu einem Verdict gekommen, dieser merkwürdige deutsch-englische Lebensversicherungs-Proceß, der nicht blos für die Geschichte der deutschen Rechtspflege, sondern für die Blätter unser neueren vaterländischen Geschichte überhaupt eine nicht gerade heitere Illustration liefert. Wurde doch durch diesen Rechtshandel und noch dazu vor den Schranken einer englischen Gerichtsstätte actenmäßig constatirt, daß in Deutschland die Geschicke eines Staates in den Händen eines Fürsten ruhen konnten, der von dem Antritte seiner Regierung bis zu seinem Tode total geistesschwach, der Sprache beraubt und halb erblindet war und für dessen Regierungshandlungen kein constitutioneller Minister die Verantwortung übernehmen konnte, weil eben das gothaische Land damals noch ein unconstitutionelles, absolut regiertes war. Daß Herzog Friedrich der Vierte von unschädlichen, gutmüthigen Instincten geleitet war – wer sieht dem edlen, lockigen Byronskopf der auf der Gothaer Schloßbibliothek ausgestellten, von Rathgeber gefertigten Marmorbüste des Herzogs überhaupt eine Spur physischer wie geistiger Verkümmerung an? – so wie der Umstand, daß seine geschäftleitenden Staatsbeamten gewissenhafte, umsichtige Männer waren, welche die Unzurechnungsfähigkeit ihres Gebieters nicht zum Nachtheile des Landes mißbrauchten, mag immerhin die Thatsache in milderem Lichte erscheinen lassen, das Widernatürliche derselben wird dadurch nicht aufgehoben.

Aber wir können diese Misère heute vergessen oder doch zu dem übrigen Unerquicklichen legen, dessen die vaterländische Geschichte an ähnlichen Thatsachen mehr als zu viel bietet, im Hinblick auf die glorreiche Nutzanwendung, welche der sein berechnende Kopf und der Unternehmungsmuth eines verdienten Mannes in Gotha, unterstützt von der patriotischen Beihülfe seiner Mitbürger, aus dem verunglückten Processe zu ziehen wußte. Der harte Schlag, der den Wohlstand gothaischer Geschäftshäuser tief erschütterte und einige derselben zum Falle brachte, gab, mit elektrischer Wirkung, den ersten Anstoß zur Schöpfung der deutschen Lebensversicherungsbank zu Gotha.

Es war der geniale Begründer der Feuerversicherungs-Bank zu Gotha, der Kaufmann E. W. Arnoldi, den der Verlust, welchen seine Mitbürger in diesem eben so kostspieligen wie nutzlosen Proceß erlitten, in seinem bereits 1827 entworfnen Plane bestärkte, die deutsche Nation von den englischen Lebensversicherungsinstituten zu emancipiren durch eine That nationaler Selbsthülfe.

Warum sollte deutsches Geld, deutsche Rechenkunst, deutsches Wissen von den Gesetzen des Lebens und Sterbens, vor Allem aber die Macht deutscher Vergesellschaftung nicht ausreichen in unserm Vaterlande, unter dem Schutze vaterländischen Rechtes, ein Institut ähnlich weittragenden und wohlthätigen Wirkens zu begründen? Und dieser Gedanke verwirklichte sich in rascher That.

Schon am 1. Januar 1829 wurde die Lebensversicherungs-Bank für Deutschland in Gotha eröffnet mit einem Stamme von 794 Theilnehmern und einer Versicherungssumme von 1,390,000 Thlrn. Am 1. November 1864 zählte das noch jugendlich zu nennende Institut – denn erst in vier Jahren wird es sein Schwabenalter erreichen – bereits 26,397 Personen zu seinen Theilnehmern mit einer Versicherungssumme von 45,604,00 Thalern. Der Bankfond betrug 12,450,000 Thaler! Facta loquuntur – Zahlen sprechen!

Dieses Institut, das erste in Deutschland der Zeit nach, das erste auf dem europäischen Continente der Bedeutung nach, ja in mehr als einer Beziehung, in welcher es die älteren englischen Lebensversicherungsanstalten überflügelt, das erste der Welt, verdient wohl in unserm Vaterlande besser gekannt zu sein, als eine flüchtige Vorstellung von dem Wesen desselben oder ein Blick in seine Statuten solches ermöglichen. Stellt sich doch in keiner andern volkswirthschaftlichen deutschen Schöpfung die Macht der Association in so imposanten Ziffern in so sichtbar wohlthätiger Einwirkung auf das Familienleben und indirect auf den nationalen Wohlstand dar! Und doch war diese Schöpfung durch den ebenso genialen wie kühnen Gedanken eines Mannes in’s Leben gerufen, lange bevor noch die rastlose Agitation Schulze-Delitzsch’s die Idee der auf Vergesellschaftung begründeten Selbsthülfe und deren Verwirklichung durch die Volksbanken eine landläufig populäre geworden ist. Ich darf darum hoffen, daß meine Leser mich gern aus einem Gange durch die verschiedenen Bureaus der Gothaer Lebensversicherungsbank begleiten werden, um das ebenso großartige wie interessante Getriebe dieses Institutes kennen zu lernen. Der Leser hat nicht zu befürchten, in den Schematismus eines trockenen Geschäftsganges hineinzugerathen. Denn nirgends wohl dürfte ein Griff in’s volle Menschenleben interessantere Erscheinungen zu Tage fördern, als gerade an dieser Stätte, wo der letzte Athemzug des Sterbenden capitalisirt und in harte klingende Münze umgesetzt wird.



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