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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Der Knecht ging hinaus und kam bald mit einem Reisenden zurück, einem Krämer aus der Nachbarschaft, der, ein Bekannter in der Buchhauser Linde, oft hinkam.

„Woher noch mitten in der Nacht, Herr Brand?“ rief ihm der Wirth entgegen.

„Ich kann doch Nachtquartier bei Euch bekommen, Lindenwirth?“

Der Wirth kratzte sich hinter dem Ohr.

„Wenn Sie hier unten in der Wirthsstube vorlieb nehmen wollen, Herr Brand?“

„Unmöglich, Lindenwirth. Ihr wißt, ich bin nicht der Festeste, ich muß meine Nachtruhe haben; dazu bin ich durchfroren zum Erbarmen. Ihr müßt mir eine warme Stube und ein gutes Bett geben.“

Der Herr Brand war ein kränkliches Männchen, und da er in einem offenen Einspänner gekommen war, den er selbst gefahren hatte, so war er in der kalten Nacht, zu Ende Octobers, auch durchfroren. Ueberdies war er, wie gesagt, ein alter Bekannter des Hauses, und so mußte der Wirth ihm nachgeben.

„Da oben ist noch ein warmes Zimmer, Herr Brand, und ein gutes Bett steht fertig darin. Es war für eine Herrschaft bestimmt, die aber nachher nur ein Zimmer wollte. Sie sollen es haben, Herr Brand, wenn Sie stiller sein wollen, als eine Maus.“

Der Wirth erzählte nun dem Krämer, wie oben im Hause ein vornehmer fremder Herr mit einer kranken Frau logire; wie diese nicht das geringste Geräusch ertragen könne und wie er dem Fremden versprochen habe, es solle sich da oben keine Maus rühren. Der Krämer versprach, stiller zu sein als eine Maus, und wurde hinauf geführt. Der Wirth selbst geleitete ihn in das versprochene Zimmer, das unmittelbar neben dem Zimmer der fremden Herrschaft lag, mit dem es eine Thür verband. Der Wirth deutete dem Krämer die Thür mit dem Finger an. Sie sprachen kein Wort miteinander. Auch nur durch Zeichen sagten sie sich gute Nacht. Sie waren kaum hörbar eingetreten, und so entfernte sich auch der Wirth wieder.

Draußen im Gange, vor der Thür der fremden Herrschaft, horchte er doch noch, hörte aber nichts in dem Zimmer. „Sie schlafen,“ dachte er, worauf er und der Knecht sich zu Bett legten. Im Hause blieb es still.

Der Krämer Brand hatte in seinem Zimmer nur mit den Funßspitzen aufzutreten gewagt. In das Bett hatte er sich so leise gelegt, daß Einer, der im Zimmer selbst gewesen wäre, es nicht gehört hätte. Er hatte vorher und nachher nach den Fremden hingehorcht, aber keinen Laut vernommen. „Die schlafen,“ dachte auch er und wollte selbst einschlafen. Plötzlich mußte er in seinem Bette hoch auffahren. Ein lauter, furchtbarer Schrei kam aus dem Zimmer der Fremden. Es war der Schrei einer Frau.

„Um Gotteswillen, ich sterbe!“ schrie die Frau des Fremden.

Den Krämer überlief es heiß und kalt. Er horchte mit angehaltenem Athem, bebend am ganzen Körper. Es war wieder still drüben. Nur eine Bewegung, als wenn sich Jemand in einem Bette krümme, glaubte der Krämer zu hören. Es war an derselben Stelle, von welcher der Schrei gekommen war. Es mußte also in dem Bette der Frau sein. Aber das Geräusch war so undeutlich, daß der Krämer sich auch irren konnte. Einen andern Ton vernahm er gar nicht; kein Wort von dem Manne der Frau, kein Gehen, kein Aufstehen. Es war sonderbar. „Sollte er so fest schlafen?“ fragte sich der Krämer. Aber auf einmal wiederholte sich der Schrei, lauter, durchdringender.

„Ich sterbe! Hülfe! Ich sterbe!“

Und wiederum antwortete Niemand der Frau; kein Wort, kein Schritt, keine Bewegung wurde hörbar. Dem Krämer war es nicht mehr sonderbar: ein Grausen erfaßte ihn.

„Ich sterbe! O mein Gott, mein Gott!“ rief die Frau zum dritten Male.

Die Stimme war nicht mehr so laut und scharf, sie war leiser. Endlich antwortete ihr Jemand.

„Es wird vorüber gehen. Bekämpfe den Schmerz; um so eher hört er auf.“

Es war eine Männerstimme; der Mann sprach zu seiner Frau. Er sprach beruhigend, besänftigend. Aber der Krämer hatte ihn nicht aufstehen, nicht zu der Frau hingehen hören. Er war also schon vorher an dem Bett der Frau gewesen, als diese zum ersten Male aufschrie, als sie dann in dem Bette sich krümmte. Und er hatte da kein Wort für die Frau gehabt, die jenen Schmerzensschrei ausstieß, die vor Schmerzen im Bette sich krümmte! Fast zehn Minuten blieb Alles still. Der Krämer meinte, es werde so bleiben, die Frau habe nur heftige Kopfschmerzen gehabt, sie seien wirklich vorübergegangen. Da schrie sie zum vierten Male auf.

„Meine Brust! Ich ertrage es nicht mehr! Mein Rücken! Ich muß sterben!“

Die Stimme war noch heiserer als vorher, schwächer, wie unterdrückt.

„Nimm Dich zusammen,“ sagte der Mann noch einmal.

„Hülfe!“ rief mit schwächerer Stimme die Frau.

„Es wird vorübergehen,“ sagte wieder der Mann, aber als wenn es ihn langweile.

Die Frau sprach und rief nicht mehr. Aber der Krämer hörte sie leise stöhnen und wimmern, und dabei rauschte und bewegte es sich wieder in dem Bette, als wenn sie in Schmerzen oder in Krämpfen sich krümme. Auch das hörte bald auf, zuerst nach und nach das Stöhnen und Wimmern, dann das Andere. Den Mann hatte der Krämer gar nicht wieder gehört. Es war und blieb völlig still in dem Zimmer. Der Krämer glaubte, daß die Frau wieder schliefe. Auch er schlief endlich ein.

Am nächsten Tage zeigte es sich, was es gewesen war; für ihn freilich erst etwas spät. Als am andern Morgen die große Wanduhr unten in der Wirthsstube fünf schlug, hatte der Postillon, pünktlich gehorsam dem Befehle des fremden Reisenden, die Pferde eingespannt und den Wagen zur Abreise bereit gemacht. Die Koffer der Herrschaft mußten nur noch aufgepackt werden und die Herrschaft selbst mußte kommen. Der Postillon wartete draußen am Wagen auf sie. Der Wirth und sein Knecht harrten unten in der Wirthsstube. Die andern Bewohner des Hauses schliefen noch.

Die Wanduhr in der Wirthsstube zeigte zwei Minuten nach fünf, als der fremde Reisende in die Stube trat. Er war reisefertig, in Pelz und Pelzmütze, wie am gestrigen Abende; sein Gesicht war aber eben so wenig zu erkennen. Er war allein; seine Frau war nicht bei ihm.

„Holen Sie meine Sachen,“ befahl er dem Wirth.

Er sprach vollkommen ruhig und vollkommen so kurz und befehlend, wie am Abend vorher. Wie er die Worte gesprochen hatte, kehrte er zurück nach seinem Zimmer oben im Hause.

„Also ohne Frühstück!“ sagte der Wirth zu sich.

Er folgte ihm mit dem Knecht. Oben in dem Zimmer war Alles in Ordnung. Die beiden Koffer standen gepackt und verschlossen da. Der Fremde, wie vornehm er war, mußte sie selbst gepackt und verschlossen haben, wenn sie überhaupt geöffnet gewesen waren. Von der Dame war nichts im Zimmer zu sehen, das Bett, in das sie sich gestern gelegt, war noch immer fest von den Vorhängen umzogen, und Alles war still. Wo war sie? sollte der Mann, der abreisen wollte, seine Frau zurück lassen wollen, während doch beide Koffer zum Wagen getragen wurden? Der Fremde sprach kein Wort; an seinen Bewegungen sah man nur, daß er ungeduldig war. Der Wirth und der Knecht beeilten sich, die Koffer zum Wagen zu schaffen; das herrische Wesen des Fremden imponirte ihnen. Der Wirth kehrte darauf in die Wirthsstube zurück, in welcher ihn der Fremde erwartete.

„Meine Rechnung!“

Der Wirth nannte ihm den Betrag. Der Fremde zog eine Börse, zählte das Geld auf den Tisch und legte ein Trinkgeld für die Domestiken hinzu. Dann zählte er noch zwanzig Stück Friedrichsd’or auf den Tisch. Der Wirth sah ihm verwundert zu. Der Fremde, als er die Zahl voll gezählt hatte, sagte ruhig:

„Mir ist ein Unglück begegnet in Ihrem Hause – – meine Frau ist diese Nacht an einem Krampfanfalle gestorben. Leider warten wichtige Geschäfte auf mich, ich kann mich keinen Augenblick länger aufhalten. Nehmen Sie das Geld und bestreiten Sie inzwischen die Beerdigungskosten; Sie werden bald Weiteres von mir hören.“

Damit ging er. Er hatte die Worte mit seinem ruhigsten, hochfahrendsten Tone gesprochen.

Der Wirth stand erstarrt, betäubt. Der Schreck hatte ihm die Besinnung genommen; der Respect vor dem vornehmen, herrischen Wesen des Fremden trat hinzu. Im ersten Augenblicke dachte er nicht daran, dem Fremden zu folgen. Als er daran dachte, hatte er zuerst nicht den Muth. Als ihm auch der Muth

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_018.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)