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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

kam, war es zu spät. Er eilte hinaus. Die vier Extrapostpferde flogen schon im Galopp mit dem Wagen davon. Der Wirth rief. Der Postillon hörte es nicht mehr, und der Wagen verschwand.

„Wo ist die Frau, Herr?“ fragte der Knecht.

„Hat er es Euch nicht gesagt?“

„Wir haben ihn nicht gefragt.“

Auch den Postillon und den Knecht hatte das Wesen des Fremden in Respect gehalten. Keiner von ihnen hatte gewagt, ihn nach seiner Frau zu fragen. Er war rasch in den Wagen gestiegen, hatte dem Postillon sein befehlendes „Fort!“ zugerufen und die Wagenthür zugeschlagen. Der Postillon hatte auf die Pferde eingehauen, der Wagen flog davon. Den Wirth hatte eine ungeheure Angst ergriffen. Er hatte den Kopf völlig verloren und wußte nicht mehr, was er thun sollte. Er weckte das ganze Haus.

„Wir haben eine Leiche im Hause! Die Frau des Fremden. Und er ist fort!“

Angst und Entsetzen ergriff sie Alle, wie ihn. Sie eilten in das Zimmer oben und schlugen die Vorhänge des Bettes auseinander. Die Leiche der Frau lag vor ihnen in dem Bette. Sie lag ineinander gekrümmt; Arme und Hände waren wie verrenkt; das Gesicht war dunkelroth, fast blau. Das waren Erscheinungen, die allerdings einen Tod im Krampfanfall andeuteten. Die Leiche war schon kalt; der Tod mußte seit mehreren Stunden eingetreten sein. Es war die Leiche einer noch sehr jungen Frau. Sie konnte höchstens achtzehn Jahre gezählt haben. Sie war eine ungewöhnlich schöne Frau gewesen; eine große, schlanke Gestalt, vollendete Körperformen. Das Gesicht war verzerrt; aber man erkannte auch in der Verzerrung die schönen, regelmäßigen Züge. Und, es war wunderbar, diese Züge, je länger man das Gesicht ansah, traten um so regelmäßiger, schöner, edler hervor und selbst die dunkle Farbe entwich mehr und mehr und machte der natürlichen weißen des Todes Platz.

Das Entsetzen der Leute wich der Theilnahme, dem tiefsten Mitleiden mit der schönen, so jung Verstorbenen. Das Mitleiden wich wieder dem Entsetzen: die Unglückliche hatte hier in der Fremde sterben müssen, allein mit dem Manne, der keine Hülfe zu ihr gerufen, der mit jener Ruhe dem Wirth ihren Tod hatte ankündigen, der sie allein, ganz allein in der Fremde, wildfremden Menschen hatte überlassen können!

Der Krämer in dem Zimmer nebenan war durch die Unruhe wach geworden. Man wollte ihn wecken; da trat er in das Zimmer. Er mußte irgend eine Auskunft geben können. Er theilte mit, was er wußte. Es zeigte nicht geradezu ein Verbrechen an, auch jetzt nicht, da man die Todte vor sich sah. Ein Krampfanfall, von dem der Fremde gesprochen hatte, war noch immer möglich, natürlich. Aber –

„Hier ist ein Verbrechen begangen, ein Mord!“

Man las es auf all den bleichen, entsetzten Gesichtern. Und was nun weiter? Der Mörder war fort. Vier rasche, kräftige Extrapostpferde hatten ihn früher zu der nächsten Station gebracht, als man in der Linde Pferde zu seiner Verfolgung satteln konnte. Hatte man die nächste Station erreicht, so war er schon auf der dritten. Gleich hinter der zweiten Station war die Landesgrenze, jenseits welcher der Verfolgung neue Hindernisse entgegentraten. Und man wußte nicht einmal seinen Namen. Der Wirth hatte nicht gewagt, ihn danach zu fragen; den Postillon noch einmal zu fragen, hatte er vergessen. Vielleicht gaben die Kleidungsstücke und die Wäsche der Todten Auskunft. Man durchsuchte sie, fand aber nur einen Unterrock, das Hemd, ein Nachttuch. Alles Andere mußte der Fremde in die Koffer gepackt und mitgenommen haben. War es nicht ein neuer Beweis für ein Verbrechen? Hemd und Tuch trugen den Buchstaben B. eingenäht. Das war Alles, was man fand. Was war weiter zu thun?

Man beschloß Folgendes. Der Krämer mußte in der Richtung weiter reisen, in welcher die Extrapost gefahren war. Die nächste Poststation war in dem nächsten Städtchen. In diesem waren Gerichts- und Polizeibehörden. Ihnen sollte der Krämer von dem Vorgefallenen Anzeige machen. Gericht und Polizei mußten dann sofort herüber kommen. Bis zu ihrer Ankunft sollten Leiche, Bett und Zimmer in dem Zustande bleiben, in dem sie waren. Das Weitere mußten die Beamten wissen. Der Krämer reiste auch schleunig ab. Das Zimmer, in dem die Leiche war, wurde verschlossen.

Nach einer Stunde kam der Postillon mit den Pferden zurück.

„Was ist es mit der Frau?“ fragte er.

„Was hat man Euch von ihr gesagt?“ war die Rückfrage.

„Gar nichts!“

Der Postillon hatte nicht den Muth gehabt, an den stolzen, hochfahrenden Mann eine einzige Frage zu richten. Auf der Station hatte der Fremde sich sofort neue Pferde geben lassen und war ohne Aufenthalt weitergefahren.

„Und sein Name, Schwager?“

Der Postillon zog seinen Begleitzettel hervor.

„Herr Bormann aus Hamburg, zwei Personen.“

Das war Alles, was über den Fremden und die Todte in dem Zettel stand. Am späteren Vormittage kamen die Gerichtsbeamten aus dem Städtchen. Gericht und Polizei dort waren vorsichtig gewesen, vielleicht zu vorsichtig. Zu einer schleunigen Feststellung des Thatbestandes forderte die Anzeige des Krämers sie auf. Aber zu einer Verfolgung des Reisenden hielten sie sich erst dann berechtigt, wenn der Thatbestand eines Verbrechens festgestellt sei. Das Gericht erschien sofort mit den Gerichtsärzten. Die Untersuchung begann.

Die Aerzte gewannen in den ersten zehn Minuten die Ueberzeugung, daß die Frau keines natürlichen Todes gestorben war: sie war vergiftet - durch Strychnin. Schon der äußerliche Befund sprach unzweifelhaft dafür. Die gekrümmte, verzerrte Lage der Verstorbenen, die dunkelrothe Gesichtsfarbe zeigten, daß der Tod in jenem eigenthümlichen Starrkrampfe, Tetanus, erfolgt war, der gerade durch den Genuß von Strychnin herbeigeführt wird. In einer der Theetassen, die noch auf dem Tische im Zimmer standen, fand man die Ueberreste des Giftes selbst. Die darauf vorgenommene Section der Leiche wies die Spuren des Giftes in dem Köper auf. An eine Selbstvergiftung war nicht zu denken; es lag ein Giftmord vor. Das Gift war der Frau in dem Thee beigebracht. Der Mörder war ihr Mann. Sie selbst hatte krank im Bette gelegen; ihr Mann hatte ihr den Thee einschenken, reichen müssen; nur er hatte das Gift in die Tasse bringen können. Und mit welcher furchtbaren Rohheit war das Verbrechen verübt worden! Der Mann hatte der krank im Bett liegenden Frau das Gift in das Getränk mischen können; er selbst hatte es ihr gereicht; er hatte dabei gestanden und zugesehen, wie sie es genoß; er hatte die Tasse aus ihrer Hand zurückempfangen. Das Alles hatte er mit ruhigem Blute, mit völlig klarer Ueberlegung gekonnt; hatte er gekonnt gegen das arme, junge, schöne Geschöpf, das mit ihm allein in fremdem Lande, unter wildfremden Menschen allein, das seine Frau war, das er wenigstens selbst seine Frau genannt hatte, das unter allen Umständen nur in seinem Schutze stand, nur von ihm Hülfe erwarten, erhalten konnte. Er war ihr Mörder geworden. Welche empörende Rohheit zeigten dabei die Nebenumstände! Auch das Geschirr für sein Abendbrod, stand noch auf dem Tische; er hatte Alles verzehrt, die ganze Flasche Wein geleert. Er hatte Hunger gehabt, er hatte sich an dem Wein laben können, während die Unglückliche in jenen entsetzlichen Schmerzen sich krümmte, mit dem fürchterlichen Tode rang, den er ihr bereitet hatte. Wie er ihr dann augenblickliche Theilnahme geheuchelt, wie ihm aber das bald langweilig geworden, davon war der Krämer in dem Zimmer nebenan Zeuge gewesen.

Polizei und Gericht verfolgten die Spur des Verbrechers, in der Richtung, aus der er mit seinem Opfer gekommen war, in der, die er nach vollführter That weiter genommen hatte. In jener ersten kam man nur bis zu der zweiten Station vor der Buchhauser Linde. Es war eine größere Provinzalstadt. Der Fremde, Herr Bormann, wie er sich auch dort genannt hatte, war am Abende vorher in einem Gasthofe der Vorstadt mit einem fremden Lohnkutscher angekommen. Der Lohnkutscher war nach kurzem Aufenthalt zurückgekehrt. Niemand hatte ihn gekannt – er war noch nie dort gewesen; Niemand hatte ihn gefragt, wer er sei, woher er komme. Der Fremde hatte sich mit seiner Begleiterin, die er auch damals seine Frau genannt, sofort in das ihnen angewiesene Zimmer begeben. Beite hatten dieses den Abend nicht verlassen. Die Frau hatte frisch, gesund ausgesehen; nur war sie still gewesen. Der Herr hatte ein kurzes, vornehmes, befehlendes Wesen gezeigt. Am folgenden Morgen hatte er den Wirth zu sich kommen lassen.

„Kaufen Sie mir einen Reisewagen,“ hatte er in seiner kurzen, befehlenden Weise gesagt.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_019.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2018)