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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Der Landweg von Reykjavik zu dem Mückensee ist in der That ein schauerlicher, wo man „die Schrecken der vulcanischen Einöde in ihrer ganzen Wucht auf sich wirken lassen kann.“ (Man verzeihe mir diese Phrase, ich hörte ihr Urbild neulich von einem enthusiastischen Fußwanderer, Turnsetzling und Bewunderer des alten Jahn, der mir sagte, er sei an irgend einem Schweizer See zu Fuße hergegangen. „Warum fuhren Sie nicht lieber mit dem Dampfschiffe?“ fragte ich, „da hätten Sie beide Ufer gesehen.“ – „Daran habe ich in der That nicht gedacht,“ antwortete er mir und sann eine Weile nach, hierauf aber, den Kopf leise zurückwerfend: „wenn ich längs des Ufers gehe, kann ich die Schrecken der Felsen in ihrer ganzen Wucht auf mich wirken lassen!“ – „Der Himmel lasse Ihnen das Sturzbad wohl bekommen!“ antwortete ich und zeichnete, nach des seligen Mark Ausdruck, die Phrase mit diamantenem Griffel auf die Stahltafeln meines Gedächtnisses.)

Aber zurück zu unserem Mückensee. Anfangs wohl reitet man von Reykjavik aus durch angebautes Land, wenn man überhaupt eine Gegend so nennen kann, wo je in Entfernung von mehreren Stunden ein grüner Grasplatz mit einer Erdcasematte, von den Isländern Haus geheißen, sich findet, aber nach einem Tagesritte hat man auch das letzte Gehöfte erreicht. Und nun gilt es sich versehen mit Heu und Brennmaterial, mit Allem, was der Mensch während zwei oder drei langen Tagen brauchen kann, denn der letzte Hof, den man erreicht, ist schon für einen Menschen mit einer gewöhnlichen Nase und übrigen gesunden Sinnen geradezu unerträglich. Nun geht es über die Wüsten, von Geysir aus über den Sprengisandur, von Reykjavik über die Holtavördurheidi, und wer ganz ungerupft von Wind, Sturm und Hagel, ohne Verlust von Pferden und Gepäck in einem langen, doppelten Tagesritt sie durchkreuzen kann, darf von Glück erzählen! Meist ruht man in Akureyri, am Eismeere, einige Tage aus von den Strapazen oder geht auch von Lundarbrekka, einem Hauptkirchenort tiefer im Lande, gleich in östlicher Richtung an den Mückensee.

„Nie,“ sagen Preyer und Zirkel in ihrer trefflichen Reise durch Island, „nie hat die geographische Bezeichnung irgend einer Oertlichkeit besser das Wesen und die Eigenthümlichkeit derselben wiedergegeben als der Name Myvatn, Mückensee. In Grimstadir (einem Hofe am südlichen Ufer) mußte nothwendig angehalten werden, denn unsere Pferde waren fast wahnsinnig durch die Mücken; man kann sich in einem Kubikfuß Luft nicht mehr lebende Wesen denken, als hier sind; ihre Schwärme sind so dicht, daß man oft seinen nebenber reitenden Reisegefährten nicht zu erblicken vermag, daß man die Augen nicht öffnen, nicht athmen kann; kurz es ist eine der entsetzlichsten Plagen, welche nur mit der ägyptischen der Heuscknecken zu vergleichen ist. Wir suchten uns durch Schleier und starkes Tabakrauchen in Etwas davor zu schützen, doch das hilft sehr wenig. Dazu brannte die Sonne glühend auf unsere Häupter, der Sandstaub wirbelte um uns her, so daß es keiner sehr lebhaften Einbildungskraft bedurfte, um sich aus Island in die Wüste Sahara versetzt zu wähnen.“

Der Mückensee war früher bedeutend größer. Aber zwischen den Jahren 1724–30 hatten zwei im Nordosten gelegene Vulcane, Leirhnukur und Krafla, furchtbare Ausbrüche, welche ungeheure Lavaströme unter beständigem Erdbeben und Aschenregen ergossen. Die kohlschwarze, blasige Lava erreichte glühend den See, ergoß sich in denselben, kochte und trocknete das Wasser aus, tödtete alles Lebende umher und erst nach acht Monaten floß wieder Wasser in den See und wagten Menschen sich in die Nähe. Der Boden des Sees, die Ufer desselben bestehen aus riesigen Lavablöcken und Schollen, die in furchtbarer Unordnung aufgethürmt, übereinandergeschoben und zerklüftet sind; das Bett des Sees selbst ist so sehr ausgefüllt, daß es nirgends über dreißig Fuß tief ist; aus den mit fast dunkelschwarzem Wasser erfüllten Spalten kochen noch heiße Quellen hervor, eine Unzahl schwarze Inselklippen erhebt sich über den Spiegel, meist nackt und kahl, nur hier und da von Gras und Engelwurz bedeckt. Das Wasser des Sees ist lauwarm und friert nie; herrliche Forellen bevölkern es, prächtige Fische mit dunkelschwarzem Rücken, brennenden Seitenflecken, rothgelbem Bauche und orangefarbigem Fleische, die getrocknet und geräuchert nach allen Theilen Islands, selbst nach Kopenhagen als Leckerbissen versandt werden.

Die Zerstörung der Ufer war fürchterlich. Die Gehöfte, die dort standen, wurden unter Asche und glühender Lava begraben, Menschen und Vieh (dem Isländer vielleicht noch empfindlicher) gingen zu Grunde; erst nach Jahren wagten sich die Grundbesitzer wieder in der Nähe anzusiedeln, und ihre Ruhe wurde bis in die Neuzeit nicht gestört. Als sie aber nach den Schreckensscenen wieder zurückkehrten, fanden sie – fast ist es ein Wunder zu nennen! – das alte Kirchlein von Reykjahlid unzerstört. Es stand mitten auf einem etwas erhöhten Rasenplatze, von einer trockenen Erdmauer umgeben, in der Nähe des gleichnamigen Gehöftes. Letzteres wurde von Grund aus zerstört, aber an der Erhöhung und der Erdmauer theilte sich der feurige Strom; er schob seine Schollen und Schlacken auf die Mauer hinauf, erhöhte sie dadurch selbst haushoch, vereinigte sich unterhalb des Rasenplatzes und stürzte weiter hinab in den See. So steht denn nun das Kirchlein heute so, wie es den Lesern hier vorgeführt wird, mitten in der aus zackigen Lavaschollen aufgethürmten Ringmauer, die sich im Kreise herumzieht und die es nicht überschauen kann, denn an vielen Stellen erreicht diese Mauer die Höhe des Daches, ein sprechender Zeuge für die ewige Macht der Naturgesetze und durchaus kein Wunder! denn die Schwere war es, welche den andringenden Lavastrom zwang, sich vor der rundlichen Erhöhung und der breiten Erdmauer zu theilen und seitlich abzufließen, wie ein langsamer Wasserstrom, der um eine Insel sich herumzieht.

Des auf so überraschende Weise verschonten Kirchleins wegen wird aber ein Alterthumsforscher ebensowenig den Mückensee aufsuchen, wie ein Feinschmecker wegen der Forellen. Auch die Mücken werden keinen Touristen anlocken. Aber er birgt andere Naturwunder. Auf dem See selbst treiben unzählige Wasservögel ihr Spiel. Sie nisten an den Ufern, auf den Klippen, auf den Inseln und brüten so viele von ihren Jungen aus, wie die eiersuchenden Anwohner ihnen lassen, und im Winter selbst geben sich auf den stets offen bleibenden Gewässern die Vögel des höchsten Nordens Stelldichein. Tauchvögel aller Art, von dem kleinen Steißfuße der Polargegenden bis zu dem gewaltigen Eistaucher, der dem Schwane an Größe kaum nachsteht; Dutzende von Mövenarten, von der niedlichen Seeschwalbe, die sich heldenhaft um ihre Jungen wehrt, bis zur grimmigen Raubmöve, die selbst der gansgroßen Heringsmöve ihre Beute abjagt, sie im Fluge beim Fallen auffängt und verzehrt; Schwärme der seltensten Entenarten und Sägetaucher bedecken in unsäglichen Mengen den See, während Schneehühner, Regenpfeifer, Brachvögel an den Ufern wimmeln. Jede Art hält sich in Schwärmen für sich, und man kann Tage lang im Boote auf dem Mückensee umherkreuzen und wird stets wieder neue Gäste, neue Nester und bisher ungesehene Vogelarten finden.

Was der See selbst für den Vogelkenner, das ist seine Umgebung für den Geologen. In nicht großer Entfernung ist der größte Strom von vulcanischem Glas, sogenanntem Obsidian, den die Isländer treffender Weise wegen seiner glänzenden schwarzen Farbe Rabenstein (Hrafntinna) nennen. Centnerschwere Stücke kann man dort ohne Mühe sehen; sie fortzuschaffen, ist eine andere Aufgabe. Nur durch ein enges Thal von dieser Glaslava geschieden, breitet sich der vulcanische Rücken der Krafla aus, mit vielen seitlichen Kratern und einem wunderschönen, kreisrunden, grünen See, einem ehemaligen Krater, der noch im Jahre 1814 unter donnerndem Gebrülle eine dampfende Schlammsäule emporwarf, so furchtbar, daß die doch an solche Erscheinungen gewöhnten Isländer den Ort die „Hölle“ (Viti) nannten. Heute vergleichen die Reisenden den mit klarem Wasser gefüllten Schlund, der von senkrechten, wohl achtzig Fuß hohen Abstürzen umgeben ist, dem See von Nemi bei Rom, so friedlich liegt er da!

Näher dem See aber, am Fuße des zweihörnigen, durch eine tiefe Spalte zerrissenen Leirhnukur, kocht die vulcanische Hitze noch ungebrochen. Heißer Dampf bricht überall hervor; der Boden ist in einen zähen Thonschlamm verwandelt, den eine trügerische Kruste deckt. Sie bricht leicht ein, der Unvorsichtige sinkt mit den Füßen wenigstens in den kochend heißen, weichen Untergrund. Mitten auf diesem Boden erheben sich mehrere von wulstigen Rändern umgebene Kessel, die nach Preyer und Zirkel etwa fünfzehn Fuß im Durchmesser haben. „Die Wände,“ sagen die Reisenden, „sind fester Thon, der Kessel ist mit einem widrigen, graublauen bis blauschwarzen, flüssigen Schlamme bis zehn Fuß unter die Oberfläche angefüllt. Durch diese Schlammessen entweicht der Dampf mit furchtbarer[WS 1] Gewalt; die Flüssigkeit brodelt in dem Kessel wie im heftigsten Sieden begriffen; an den Seitenwänden des Kessels sind es meist kleine Blasen, welche zu einem Fuß Höhe anschwellen und dann im Zerplatzen den Schlamm nach allen Richtungen hinspritzen;

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: furchbarer
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_046.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)