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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Das Clavier und seine Geschichte.

Kein musikalisches Instrument hat den Sinn und die selbstthätige Liebe zur Tonkunst in hervorragenderer Weise angeregt, befördert und verallgemeinert und von einer gewissen Zeit an in Wahrheit auch auf die Entwicklung der Musik wesentlichern Einfluß ausgeübt, als das Clavier. Es ist nicht zu leugnen, daß das Clavier in mancher Beziehung weniger vollkommen ist, als viele andere Instrumente; daß es namentlich rücksichtlich der vornehmsten Zierde jedes Tonwerkzeugs, der Klangschönheit und Modulationsfähigkeit des Tones, trotz der hohen Vervollkommnung, die ihm auch nach dieser Seite hin seit Ende des vorigen Jahrhunderts zu Theil geworden ist, dennoch von fast allen Streich- und Blasinstrumenten übertroffen wird, wir erinnern nur an die so rührend und eindringlich zum Herzen redende Violine, an das romantische Waldhorn, an die majestätisch prächtige Posaune. Diesen Vorzügen gegenüber aber, die alle nur eine einseitige, melodische Ueberlegenheit begründen, hat das Clavier eine glänzende und siegeskräftige Gegenseite aufzuweisen, in der Vereinigung der Melodie mit der Harmonie. In dieser Vereinigung der beiden mächtigsten musikalischen Factoren liegt sein Schwerpunkt; sie ist ihm, und zwar nur ihm, mit alleiniger Ausnahme der Orgel, welche jedoch dem täglichen und gesellschaftlichen musikalischen Verkehr aus mancherlei Gründen wohl für immer entzogen bleiben wird, in höchster Vollendung eigenthümlich, so daß die tiefsinnigsten und complicirtesten harmonischen und melodischen Combinationen ihm ebenso zu Gebote stehen und seinem Wesen entsprechend sind, wie die einfachste Verbindung und Wendung; sie weist ihm einen unerschöpflichen Reichthum zu und verleiht ihm die Befähigung zur Darstellung selbst des Höchsten in der Kunst.

Zunächst als Soloinstrument betrachtet, mußte es die besondere Vorliebe und Auszeichnung der größten Tonmeister gewinnen. Die Literatur keines andern Instrumentes hat auch nur eine annähernd glänzende Reihe der bewundernswerthesten Geistesschätze eines Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Weber, Mendelssohn, Chopin, Schumann u. A. m. aufzuweisen. Aus derselben Quelle entspringt ihm aber noch eine andere Eigenthümlichkeit von größter Bedeutung: die Fähigkeit, alle übrigen Instrumente zu repräsentiren, sei es einzeln oder gleichzeitig, und überhaupt ohne fremde Hülfe Alles, was die Tonkunst nur auf irgend einem Gebiete Großes geschaffen hat, mit mehr oder minder großer Treue und Vollkommenheit zu reproduciren, wie etwa ein vollendeter Kupferstich ein Oelgemälde wiederzugeben vermag, und wir meinen, daß bei der Beurtheilung des Werthes des Claviers diese seine Repräsentationsfähigkeit, sein universeller Charakter wohl nicht minder schwer in die Wagschale fallen dürfte, wie seine Vorzüge als Soloinstrument. Wer wollte denn nicht gern zugestehen, daß z. B. die vortrefflichen vier- und zweihändigen Arrangements Haydn’scher, Mozart’scher und Beethoven’scher Symphonien, Ouverturen, Quartetten u. dergl., die heut zu Tage auf keinem Clavierpulte fehlen und nichts anderes als die schimmernde Farbenpracht der Originale vermissen lassen, mehr als alle immerhin doch nur seltnen Orchesteraufführungen das volle Verständniß dieser erhabenen Schöpfungen vermittelt und verbreitet haben, und daß vornehmlich der Mithülfe des Claviers nach dieser Richtung hin die hohe Stufe der musikalischen Durchbildung zu danken ist, die ein so charakteristisches Zeichen unsrer Zeit ausmacht? Und so ist das Clavier auch überall, wo dem menschlichen Geiste eine Freistätte geboten ist, in jeder Familie, in jedem Kreise, der, nur einigermaßen über die materiellen Bedürfnisse des Lebens sich erhebend, Empfänglichkeit für ein höheres Dasein sich bewahrt hat, der treueste Dolmetscher der reinsten Kunst, der freundlichste Vertraute in Freud’ und Leid, den großen musikalischen Geistern aber der sicherste Bahnbrecher für die Anerkennung ihres Wirkens und ihre dereinstige Unsterblichkeit geworden.

So allgemein bekannt nun aber auch das Clavier in allen seinen Formen und verschiedenen Theilen ist, so zwar, daß es uns Niemand Dank wissen würde, wollten wir, auf die obigen Bemerkungen mehr allgemeiner Art, hier eine specielle Beschreibung folgen lassen, so höchst spärlich verbreitet ist dagegen eigenthümlicher Weise die Kenntniß seiner Geschichte geblieben. Wir glauben uns keiner Uebertreibung schuldig zu machen, wenn wir behaupten, daß namentlich in den Kreisen der clavierspielenden Dilettanten – und mit diesen haben wir es hier wohl fast ausschließlich zu thun – über dieses für jeden Clavierspieler so vielfach interessante und wissenswürdige Thema noch vollkommene Dunkelheit herrsche. Wie viele von unsern freundlichen Lesern haben auch nur über den Ursprung des Claviers jemals das Geringste erfahren, oder den Namen des Erfinders unseres heutigen Claviers, des Pianoforte, nennen hören? Wer von ihnen weiß es, daß das glanzvolle Prachtinstrument, das heutzutage unter der Hand des Meisters bald wie im Sturm und Ungewitter daherzubrausen und bald wieder lieblich wie mit Elfen im Mondscheine zu flüstern und zu tändeln versteht; dessen mächtige Tonfluth nicht mehr blos ausreicht, das „Boudoir der intimern musikalischen Conversation“ auszufüllen, sondern im glänzend großen Concertsaale Tausende von Zuhörern in Bewunderung und Mitvibration zu versetzen vermag; wer von ihnen weiß es, daß das Clavier noch vor einer kurzen Spanne Zeit, vor nicht länger als etwa hundertfünfzig Jahren, nur ein kleines unscheinbares Instrument war, das in ärmlicher Hülle auch nur einen dem entsprechenden dünnen und reizlosen Ton enthielt, und in seiner musikalischen Dürftigkeit sich nicht hinauswagen durfte in die strenge anspruchsvolle Oeffentlichkeit? Und ferner, daß, während es gegenwärtig in allen Welttheilen zu finden ist, so weit die Civilisation gedrungen, in dem bescheidenen Stübchen des einfachen Bürgers sowohl wie in den prunkenden Palästen der Großen dieser Erde; während seine Fabrikation ein eigner Industriezweig von staunenerregender Ausdehnung geworden ist – in London allein werden von etwa zweihundertundfünfzig Fabrikanten alljährlich an 25,000 Instrumente gefertigt – daß es zu jener Zeit meist nur ein seltner Schmuck, ein fast heilig gehaltenes Kleinod in den Studirstübchen weniger hervorragender Gelehrten und Organisten war; daß diese zugleich auch wieder in dem alleinigen Besitze und der langsamen Ausübung der Kunst seiner Verfertigung sich befanden, und daß eigentlich erst von der Mitte des vorigen Jahrhunderts, seit der berühmte Organist und Orgelbauer Johann Andreas Stein in Wien die erste wirkliche Kunstwerkstätte für den Clavierbau einrichtete, die allgemeinere Verbreitung des Claviers datirt?

Der Stammvater des Claviers[1] ist das Monochord (Einsaiter), als dessen Erfinder der im elften Jahrhundert lebende berühmte Benerictinermönch Guido von Arezzo anzusehen ist. Es bestand aus einem zwei bis vier Fuß langen und etwa drei Zoll breiten gerade gehobelten Bretchen, worüber, auf einem beweglichen Stege ruhend, eine Drahtsaite gezogen war, die mit dem Finger angerissen wurde. Das Monochord diente und genügte auch nur dazu, um beim Gesange den Ton anzugeben. In Folge der Unbequemlichkeit des steten Verschiebens des Stegs mit der Hand, zur Erlangung eines andern Tones, kam man darauf, mehrere Saiten von verschiedener Tonhöhe nebeneinander anzubringen; später legte man Holzleistchen (Tasten, Claves) darunter, an deren einem Ende kleine aufrechtstehende Messing- oder Eisenstifte, sogenannte Tangenten, in der Art befestigt waren, daß sie beim Niederdrücken der Taste an die Saiten schlugen und diese erklingen machten; dann erweiterte man nach und nach die Anzahl der Saiten und Tasten, zunächst nur bis auf zwanzig, umgab das Ganze mit einem Kasten, und das Clavier war erfunden! In dieser Gestalt existirte es wohl schon im zwölften oder dreizehnten Jahrhundert. Längere Zeit behielt es noch den Namen Monochord bei, wurde aber in der Folge Clavichord (Clavis, Schlüssel, chorda, Saite, Sehne) genannt. Natürlich war es noch ein in jeder Hinsicht äußerst unvollkommenes Tonwerkzeug. Die zwanzig Saiten waren, mit Ausnahme von zwei, welche das kleine und eingestrichne B angaben, sämmtlich in der diatonischen Tonreihe von C gestimmt; die dazwischen liegenden halben Töne konnten nur durch stärkeres Anschlagen der Tangenten an die Saiten hervorgebracht werden, wodurch aber neben dem Uebelstande, daß sie nie vollkommen rein erklangen, der Nachtheil eintrat, daß die Saiten häufig der angewendeten Kraft nicht widerstanden und zersprengt wurden, zudem wurde aber auch

bei dem nöthig werdenden zu ungleichmäßigen Anschlage eine rasche

  1. In der Benennung werden wir den Namen „Clavier“ als allgemeinen Classennamen beibehalten; wo von den verschiedenen Gattungen als Clavichord (auch kurzweg Clavier genannt), Clavicembal, Pianoforte etc. die Rede ist, werden deren Namen gebraucht werden.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_054.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)