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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Ein Agitator.

James Fazy.

Es muß doch eine eigene Bewandtniß haben mit einer Stadt, welche heute noch so klein wie unzählige obscure Städte zweiten und dritten Ranges in großen Staaten, noch viel kleiner vor wenigen Jahren, der Hauptort des kleinsten Staates in einem Staatenbunde zweiten Ranges, außerdem abseits von der welthistorischen Heerstraße und in einer Sackgasse, die das höchste Gebirge Europas abschließt, auf einem zum größten Theile unergiebigen Pudding-Boden und an einem noch unfruchtbaren, d. i. unschiffbaren Wildwasser gelegen – es muß mit einer solchen Stadt eine eigene Bewandtniß haben, die, trotz aller dieser ungünstigen Bedingungen, dennoch die Aufmerksamkeit des ganzen Welttheiles zu den verschiedensten Zeiten zu fesseln und in den entferntesten Gegenden Parteileidenschaften für und wider zu wecken weiß. Diese Stadt muß noch eine jener energischen, unabhängigen, gewaltigen Stadtseelen haben, die in früheren Jahrhunderten die Geschicke der Welt entschieden und die heute beinahe überall in der Allgemeinheit großer Staaten verschwunden sind. In der That hat das kleine Genf eine Geschichte, die sich, was Geist, Heldenmuth, Bürgersinn, politische Schöpferkraft betrifft, in vieler Beziehung mit den Städten der antiken Welt und, was Freiheitssinn, Leidenschaft, Ausdauer anlangt, mit den berühmtesten Städtegeschichten Italiens messen kann.

Es ist hier weder Ort noch Raum, zurückzugreifen bis auf den allobrogischen Ursprung der Stadt, auch nicht auf die endlosen Kämpfe, die sie durch Jahrhunderte mit ihren eigenen Bischöfen und den mächtigen Herzögen von Savoyen zu bestehen hatte; nicht der Ort, das Joch von Blut und Eisen zu schildern, das ihr, nach kaum errungener Selbstständigkeit, die Reformation und jener unerbittliche finstere Eiferer aus Frankreich auflegte, welcher aus dem heitern, freiheitsdurstigen Genf eine düstere Stadt von Leichenbittern, Pfaffen und Pfaffenknechten, Censoren und Spionen schuf, – wir werfen nur einen kurzen Blick auf die letzten siebenzig Jahre.

Zur Zeit, da Frankreich die Weltgeschichte absorbirt, wird bekanntlich Genf französisch und geschichtslos. 1814 erfreut es sich der Befreiung vom napoleonischen Joche wie alle andern Staaten, und sein sehnlichster Wunsch ist es, sich, künftiger Sicherheit wegen, als Canton an die Eidgenossenschaft anschließen zu dürfen. Es bittet und fleht, wie ein unglücklich liebender, aber die Eidgenossenschaft benimmt sich sehr spröde. Die katholischen Urcantone wollen vom calvinistischen Rom nichts wissen; Bern, Freiburg und andere patrizische Cantone stemmen sich gegen die Verbindung mit einer Stadt, die schon vor der französischen Revolution demokratische Wünsche hegte; Zürich und andere deutsche Cantone fürchten für ihren Zopf, überhaupt sträuben sich die deutschen Schweizer gegen eine Vermehrung des „wälschen“ Elementes in der Eidgenossenschaft. Endlich aber setzt es Genf doch durch, besonders da es mit einer Verfassung auftritt, vor der Patrizier,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_085.jpg&oldid=- (Version vom 10.2.2022)