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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Sealsfield-Postel’s und die Katastrophe, welche ihn als Postel verschwinden ließ, um ihn – nach Jahrzehnten – als Sealsfield zum berühmten Schriftsteller werden zu lassen.

Carl war der älteste Sohn des Anton Postel, eines behäbigen Landwirths im Dorfe Poppitz, Herrschaft Pöltenberg, Kreis Znaym, Markgrafschaft Mähren in Oesterreich, geb. den 3. März 1793; ihm folgten sechs Geschwister, vier Brüder und zwei Schwestern. Die Pfarrei Poppitz und die nahegelegene Probstei Pöltenberg gehörten und gehören noch dem ritterlichen Orden der Kreuzherren in Prag. Dieser Orden, gleich den Johannitern und Templern, zur Zeit der Kreuzzüge gestiftet zur Beschützung der Pilger und zur Krankenpflege, verwandelte sich im Laufe der Zeiten in einen Mönchsorden mit ziemlich freien Ordensregeln; er behielt sein Ansehen und seine beträchtlichen Güter; sein Kleid war ein schwarzer Talar mit einem rothen Kreuz aus Seide auf die linke Brust gestickt.

Es scheint ein besonderes Ziel des Ehrgeizes der Eltern, insbesondere der strenggläubigen Mutter, gewesen zu sein, den ältesten der Söhne als „Kreuzherrn“ zu sehen, im stattlichen Ordensgewand, an Seele und Leib geborgen, nicht nur sich selbst, sondern auch allen seinen Angehörigen die Wege zum Himmel bahnend. Der Knabe mustte studiren. Er absolvirte die Gymnasialclassen in Znaym. Nachdem seine Studien so weit gediehen waren, kehrte er eines Tages in sein Elternhaus zurück. Er trat vor die Mutter und fragte: „Frau Mutter, was soll nun aus mir werden?“

Die Mutter, welche den klugen und gelehrten Sohn mit den Augen des Geistes bereits im schwarzen Talar mit dem rothseidenen Kreuze auf der Brust sah, erwiderte erschrocken: „Müßt’ ich glauben, dast Du jetzt noch daran zweifelst, was aus Dir werden soll, so würde mich jeder Kreuzer, den wir an Dich wandten und jede Entbehrung reuen, welche wir uns auferlegten, Dir das Studiren möglich zu machen.“

Carl Postel nahm den Urtheilsspruch schweigend entgegen und trat in das Ordenshaus der Kreuzherren in Prag als Novize ein. Es mochte dies um’s Jahr 1813 sein. Bald genug kam der verhängnißvolle Tag der Priesterweihe. Der geniale junge Ordensbruder wurde Secretariatsadjunct und brauchte nicht sehr lange zu warten, bis er von dem Großmeister des Ordens zum Ordenssecretair ernannt wurde. Der Ehrgeiz des Bauernsohnes von Poppitz durfte sich keineswegs als zurückgesetzt betrachten; aber das Mönchsleben taugte nicht für den freien, hochfliegenden Geist des jungen Mannes. Ein jüngerer Bruder Carl Postel’s, des Kreuzherrn, widmete sich ebenfalls den Studien; er lag in Prag der Rechtswissenschaft ob. Nicht selten besuchte er den älteren geistlichen Bruder im Kloster.

Eines Abends, es war im Sommer 1822, spricht er, wie gewohnt, bei ihm vor; wie gewohnt, erscheint eine Flasche Wein aus dem Klosterkeller auf dem Tisch. Aber der Bruder erscheint gedrückt, verstimmt, zerstreut. Endlich bricht er in die Worte aus: „Heute siehst Du mich zum letzten Male, ich fliehe aus dem Kloster!“ Dann schildert er dem Erschrockenen seine innern Kämpfe, die ganze Qual der geistigen Tortur, welcher ein strebsamer junger Mann mit hellem, gebildetem und denkendem Geiste in den Klostermauern zu erliegen Gefahr laufe. Er schloß: „Willst Du von mir Abschied nehmen – fürs Leben, so komm morgen früh acht Uhr in den Klosterhof. Dort wirst Du mich in den Wagen steigen sehen. Ich geleite einen Ordensbruder nach Karlsbad zur Brunnencur und werde nicht wieder zurückkehren.“

Des andern Morgens fand sich der jüngere Postel im Klosterhof ein. Der Bruder drückte ihm die Hand, während seine Augen sich mit Thränen füllten. Er stieg in den Wagen und rollte davon. Es waren die Klostergäule, die ihn dem Kloster entführten … Der Abschied der Brüder war für’s Leben, – sie sahen sich niemals wieder.

Von Karlsbad wandte sich Carl Postel, der flüchtige Kreuzherr, nach Wien. Dort hatte er einen hochgestellten Gönner, der ihm einst die Stelle eines Hofcaplans zugesagt hatte. Eine solche Stelle war eben vacant. Postel stellte sich dem Gönner vor und erinnerte ihn an sein Versprechen. Die Antwort war keine erwünschte: „Die erledigte Stelle sei schon vergeben; Postel sollte nach Prag in sein Kloster zurückkehren; das nächste Mal werde er dann ganz gewiß berücksichtigt werden.“ Postel entgegnete: „Es ist zu spät! Ich bin gegen das Gebot meiner Ordensobern statt in’s Kloster nach Wien gereist, ich kann nicht wieder zurück.“

Sein letzter Besuch galt einer jungen Dame aus hohen Kreisen, deren Bekanntschaft von Prag her datirte; dann verschwand er. Er soll sich nach Tirol gewendet haben und von da nach der Schweiz. Weiter seine Spur zu verfolgen, gelang selbst der österreichischen Polizei nicht. Der Secretair des Kreuzherrenordens, Carl Postel, war der Welt für immer entschwunden. Sie ließ es sich nicht träumen, daß er zehn Jahre später unter amerikanischer Maske, als genialer Romanschriftsleller, sie wiederum in Anspruch nehmen und in Aufregung setzen werde.

Vorstehende Erzählung bietet uns eine vollständige Lösung des psychologischen Räthsels und erklärt uns genügend das Benehmen des Mannes, der sich vor seiner eigenen Berühmtheit fürchtete und versteckte. Das bis über’s Grab bewahrte Geheimniß des eigenen Namens, das lebenslängliche Cölibat, die Scheu sein Bildniß unter die Leute kommen zu lassen, das Ausweichen vor katholischen Geistlichen auf seinen Spaziergängen, die Ungeduld über das Glockengeläute der Klöster, die sich in der Nähe seiner Wohnung „unter den Tannen“ befinden, das Nüchterne, Zellenartige seiner Wohnungsräume, dies Alles findet seine ungezwungenste Erklärung. Kein heimlicher Verbrecher war er, für welchen er zuweilen gehalten wurde, sondern ein aus seinem Kloster entwichener Mönch. Kaum bedarf es der directen Beweismittel, welche diese Thatsache bestätigen: der Signatur C. P., welche der Verewigte auf seinen Grabstein zu setzen verordnete, der Bestimmungen seines Testaments, für welche sich sonst kein vernünftiges Motiv finden ließe, der typischen Aehnlichkeit seiner Gesichtszüge mit denen der Geschwister Postel (von welcher Schreiber dieser Zeilen selber sich zu überzeugen Gelegenheit hatte), der Identität der Handschrift Carl Postel’s und Charles Sealsfield’s.

Die Vermuthung, welche Kertbeny in seinen „Erinnerungen“ aufstellt, Sealsfield sei „ein Jude aus Oesterreich“, ist durchaus nicht stichhaltig. Er habe sich, als einst die Rede auf einen Rabbiner kam, des höflichen Ausdrucks „Israelite“ bedient; das ist aber doch nichts weniger als ein Beweis für Sealsfield’s Judenthum. Kertbeny sagt ferner, bei der schweizerischen Volkszählung von 1860 habe er die Frage des Formulars: „katholisch? protestantisch?“ mit den Worten ausgefüllt: „von anderer Religion“. Dies ist unrichtig. Das Formular lautete: „katholisch? reformirt? von anderer christlicher Confession?“ Sealsfield subsumirte sich unter letztere Rubrik. Braucht man erst noch auf die Gesichtszüge zu weisen, welche durchaus nichts „Orientalisches“ an sich haben? oder auf den Umstand, daß sich der sterbende um Weihnacht 1863 das Abendmahl in seiner Krankenstube reichen ließ? Er war kein „Israelite“, sondern ein entwichener Mönch, der während seiner letzten kranken Tagen zum Protestantismus sich hinüberneigte, aber kaum je sich zum förmlichen Uebertritt veranlaßt sah.

Ebenso schief ist Kertbeny’s Urtheil über Sealsfield’s Stellung zu der Schweiz und den Schweizern. Sealsfield brachte – annähernd berechnet – wenigstens fünfundzwanzig Jahre seines Lebens in der Schweiz zu, nämlich von 1832 bis 1850 und von 1857 bis 1864. Er hatte – früher und später – Umgang und Bekanntschaft mit vielen bedeutenden Männern der Schweiz. In letzter Zeit zählte er die Nationalräthe Peier in Hof, Gutzwyler und andere hervorragende Persönlichkeiten zu seinen Freunden und bestimmte den erstgenannten zu seinem Testamentsexecutor. Er kaufte sich, der sein Leben lang wie ein rollender Stein keine bleibende Stätte gehabt hatte, endlich noch ein Haus in der Schweiz und machte sie dadurch zu seiner dritten Heimath. Hätte er bei gesunden Sinnen dies Alles gethan, wenn er die Schweizer im Allgemeinen als „unangenehme Patrone“, welche „kein geistiges Leben haben“, und die Schweiz als ein Land, wo man „verbauern und verwildern“ muß, qualificirt haben würde? Sealsfield als Adoptivsohn und Bewunderer Amerikas wäre es schlechter als einem Andern angestanden, den nüchternen, derbrealistischen, wenig überschwenglichen, aber gesunden und schwindelfreien schweizerischen Volksgeist zu mißachten. Manche, welche sich, der Gastfreundschaft des schweizerischen Bodens erfreut haben, mögen mit solchem Urtheil später ihren schnöden Dank abtragen – Sealsfield war nicht so undankbar gegen ein Land und Volk, welches ihm während fünfundzwanzig Jahren ein Asyl und endlich seinem müden Leib ein Grab gewährte.

Alfred Hartmann.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_095.jpg&oldid=- (Version vom 4.5.2023)