Seite:Die Gartenlaube (1865) 099.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

unwohl sei, beruhigte sie sich und sprach ihre Freude aus, daß er die Einladung ihres Vaters angenommen, auch heute den Tag mit ihnen zu verleben.

Wie gern Erich nun auch die Zusage rückgängig gemacht hätte, die er am vergangenen Abend gegeben, und zu seiner Mutter geeilt wäre, die unpäßlich war, er fühlte, daß er die Sache nicht ändern könne, ohne zu verrathen, wie unglücklich es ihn mache, Ingeborg verlobt mit Dem zu wissen, auf den er als Kind schon eifersüchtig gewesen.

All sein Stolz, sein Ehrgefühl – und er besaß von beiden viel zu viel für das Glück des Herzens und den Frieden seiner Seele – empörte sich in wildem Ungestüm gegen den Gedanken, seine unerwiderte Liebe zu Ingeborg entdeckt zu sehen und seiner alten Freunde, seiner jungen Freundin Mitleid zu erregen! – –

So kämpfte er tapfer mit dem Schmerz, der ihn fast zu ersticken drohte, und als die Hälfte des unseligen Tages glücklich verflossen, die Morgen- und Mittagsstunde vorüber war, die Pein zur Qual stieg, der Schmerz in’s Stadium der Verzweiflung trat, da – da, wo er fürchtete zu erliegen, bot sich ihm endlich die heißersehnte Gelegenheit, fern von der Geliebten neue Kraft zu erringen für die nächsten, letzten Stunden des Beisammenseins. Ingeborg hatte nämlich einen Spaziergang vorgeschlagen, und die Deichgräfin bat, denselben bis nach dem Boikenhügel auszudehnen, in dessen Nähe sie wohnte, weil sie ihrem Vater versprochen habe, gegen Abend daheim zu sein.

Erich Larsson hatte sich nicht der fröhlichen Jugend, sondern dem ernsten Alter angeschlossen. Sah man ihn zwischen den Beiden dahinschreiten, auf die der Kummer seine Last so sichtbar geworfen hatte, so fand man ihn dieser Gruppe, trotz des Unterschieds der Jahre, vollkommen anpassend. Seine Stirn war zwar nicht gefurcht, auf ihrer hohen, freien Fläche lagen aber die dunkeln Schatten trüber Gedanken und das glanzlos starre Auge, das so düster in die öde Weite starrte, schien sich fest zu bannen an dem dunkeln Gewölke, das in schweren Gebilden den goldnen Schein der Sonne verhüllte. Nur dann und wann einmal zuckte ein Strahl von Leben und Bewegung durch das finstere Antlitz des jungen Mannes, wenn das helle frische Lachen Ingeborg’s, vom Winde getragen, an sein Ohr klang, – doch rasch, wie er gekommen, verglomm der Schimmer wieder.

Unter Scherz und Lachen erreichte die erste Gruppe das Ziel der Wanderung, den Boikenhügel; in stummem Schweigen, sowie sie den ganzen Weg zurückgelegt, gelangten die drei Letzten des kleinen Zuges auf dem Plateau an, wo die jungen Leute, ausruhend, Platz genommen hatten und sich lebhaft unterhielten.

Der Boikenhügel wird von den Syltern, von den Friesen überhaupt, als kein gewöhnlicher Hügel betrachtet, sondern bald als das Grab des Meerriesen „Boh“ angesehen, von Anderen wiederum als die Stätte bezeichnet, die man ihm, als dem „Rächer alles Unrechts“, geweiht habe.

Der alten Volkssage nach hatte der Meerriese Boh einen sehr edeln Bruder, Namens Bolder, der, vermählt mit einer der schönsten Friesinnen, Nanna mit Namen, seinen Sohn Forsete schon so gut erzogen hatte, daß er der Schlichter aller Streitigkeiten im Lande der Friesen geworden und sehr angesehen war. In die schöne Frau des edeln Bolder verliebte sich aber ein jütländischer Meerriese, Namens Hother, der von der Todesgöttin Hel ein Gewand erhalten, das ihn gegen alle Angriffe schützte und unverwundbar machte. Angethan mit diesem Zauberkleide, ermordete er den Gatten der schönen Nanna, bemächtigte sich dann ihrer und wurde erst für seine Sünden bestraft, als Boh, Bolder’s Riesenbruder, von der That hörte, Hother überfiel, als er nicht sein schützend Gewand trug, ihn tödtete und damit, nach Ansicht jener Zeit, den Bruder auf’s Erhabenste rächte.

Wie fest das Sylter Volk an die Macht dieses Meerriesen glaubt, „das Unrecht zu strafen und zu rächen“, beweist am Besten, daß noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts das durch einen Landvogt hart bedrückte Inselvolk auf dem Boikenhügel eine Klagschrift gegen einen bösen Landvogt an einem hohen Pfahl aufschlug, in der Hoffnung, Meerriese Boh würde auch die Ahndung dieses Unrechts übernehmen.

Die jungen Leute auf dem Plateau des Boikenhügels besprachen eben die alte Volkssage, als Baron Fordenskiöld, seine Schwägerin und Erich Larsson herzutraten.

Nanna Hansen, die Deichgräfin, vielleicht ebenso schön wie jene vorzeitliche Nanna, sprang, als die Andern kamen, blitzenden Auges empor, und die schwarzen Flechten ihres reichen Haares, die der Wind ihr in’s glühende Antlitz wehte, mit heftiger Gebehrde zurückwerfend, trat sie vor Baron Fordenskiöld den Aeltern hin und rief lebhaft: „O Herr, helft mir, Euren ungläubigen Neffen zu überzeugen, der da behauptet, daß Riese Boh keine Macht mehr auf Erden besitze und überhaupt ein Gebild überreizter Phantasie sei.“

War’s ein gewisses Etwas in Ton und Wesen des Mädchens, das Baron Fordenskiöld aus seiner gewohnten starren Ruhe riß, oder sah er das tiefe Erblassen seines Neffen, dessen Lächeln wie mit Zauberschlag entschwunden war und in dessen Zügen Pein, Schreck und Entsetzen so deutlich zu lesen standen? Er blickte auf Beide, forschend und prüfend und entgegnete dann mit der ihm immer eigenen Kälte: „Liebe Nanna, geben Sie’s auf, Jemand, der nicht an Ihre schönen Volkssagen glauben will, davon zu überzeugen.“

„O, es handelt sich hier vielleicht weniger um Volkssagen, als um unseren festen Volksglauben!“ rief das Mädchen noch lebendiger, noch schärfer, „ich möchte den jungen Herrn so gern davon überzeugen, daß das Unrecht sich immer rächt, ob nun Riese Boh oder ein Gott die Strafe übernimmt.“

„An wem?“ fragte Ingeborg’s Vater ruhig.

„Nun, am Schuldigen! an wem sonst?“ entgegnete Nanna lebhaft.

„Nicht immer büßt der Schuldige das Unrecht!“ sprach der Baron düster, wandte sich ab und schaute auf das Meer, das seine schaumgekrönten Wellen mit lautem Brausen gegen die nahe Küste trug.

„So giebt’s mithin keinen gerechten Gott mehr!“ stieß das Mädchen in leidenschaftlicher Heftigkeit heraus, setzte aber dann ernst hinzu: „Nein, Gott ist gerecht, Baron Fordenskiöld.“

„Das Leben aber voller Ungerechtigkeiten!“ rief dieser etwas lebhafter, als gewöhnlich. „Sehen Sie dorthin, Nanna, bis wohin sich einst Sylts Küste erstreckte! Was thaten die, welche einst harmlos dort lebten, wo jetzt die Meereswogen über ihrem Grabe brausen? Einfach spann sich ihr friedlich Dasein ab. Sie vertrauten dem Boden, der sie trug, schauten hoffend auf in’s Licht. Da kamen Wolken, da wüthete der Sturm, hoch und immer höher stieg das Meer, die Scholle, der sie vertraut, wich unter ihren Füßen, sie wurden in die todbringenden Wellen geschleudert, ihr Ringen, Kämpfen, Hoffen half zu Nichts, sie mußten untergehen und waren auf ewig verloren!“

„Nicht auf ewig!“ rief die Gräfin Alma lebendig und setzte langsamer hinzu: „hier, ja hier, wo sie vergeblich mit Wogen und Wellen, mit Sturm und Brandung gekämpft, da starben sie! doch dort im Licht, wo Freude und ewiger Friede herrschen und wohin die Schatten des Lebens nicht dringen, da erwachten sie und waren durch Nacht, durch Schmerz und Kampf zum Siege, zu ewiger Freude, zu ewiger Seligkeit gelangt.“

Baron Fordenskiöld warf nur einen flüchtigen Blick in die dunkeln traurigen Augen der bleichen Frau an seiner Seite, die ernst aufschaute zu jenem Lichte, auf das sie hoffte, an das sie glaubte – und leise, nur ihr verständlich, sagte er: „Mög’ uns auf ewigen Kampf bald ewiger Friede folgen!“

Die Gruppe der fröhlichen Jugend verließ den Hügel nicht so fröhlich, wie sie ihn erstiegen hatte, sondern fast eben so ernst und gedankenvoll, wie die beiden ältern Leute, die jetzt den Zug eröffneten. Unten am Fuß der Höhe trennte man sich von Nanna und die muntere Alfhilde Löhr, die Seemannstochter, rief ihr lachend nach: „Verschlaf’ die Grillen, die Du oben auf dem Boikenberg gehabt hast.“

Nanna, die stolze Deichgräfin, wandte sich auf den Zuruf nicht um, wohl aber zurück, als die Gesellschaft sich entfernt hatte und nur Erich Larsson noch auf dem Plateau weilte. Eine Secunde stand sie sinnend still, dann eilte sie den Hügel wieder hinauf und ihre Hand dem jungen Mann auf die Schulter legend, sprach sie eindringlich: „Erich, theile Du mindestens meinen Glauben! Vielleicht giebt er Dir Trost in der Verzweiflung Deines Herzens, die Dir Niemand besser nachfühlt, denn ich!“

„Nanna, was meinst Du damit? was willst Du?“

„Du sollst glauben, daß Unrecht sich rächt und den Schuldigen die Strafe ereilt, ob früh oder spät.“

„Inwiefern soll das mein Trost sein?“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_099.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)