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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Erkauft und Erkämpft.
Von Johannes Scherr.
(Schluß.)


Patriotisch zu fühlen gehört bekanntlich in der Regel nicht zu den Erfordernissen einer vornehmen Anschauung und Führung des Lebens. Man überläßt das der „Roture“ und der „Canaille“. Die vornehme Gesellschaft Europas hat einen kosmopolitischen Schliff und steht behufs der Aufrechterhaltung ihrer Privilegien in einem stillschweigenden Cartelverhältniß. Brunhild hatte daher kaum jemals über den Sinn des Wortes Vaterland nachgedacht und erst in neuester Zeit, erst seit ihrem Aufenthalt in Sigfrid’s Haus, hatte sich ihr das Vaterlandsbewußtsein mehr und mehr aufgedrungen. Wie das gekommen, sie wußte es selbst nicht zu sagen. Sigsrid stimmte doch keineswegs in den deutschen Modeton unserer Tage ein, des nationalen Nichts durchbohrendes Gefühl mit dem Phrasenbalsam selbstgefälligster Selbsttäuschung zu überstreichen und zu schwichtigen. Im Gegentheil, er geißelte, was er das deutsche Maulheldenthum und die liberalisirende Impotenz nannte, bei jeder Gelegenheit und erst heute noch hatte er, als zwischen ihm und Schwarzdorn von der schleswig-holsteinschen Sache die Rede war, die bittere Spottäußerung gethan: „Da werden wir uns mal wieder hübsch blamiren! Weil die Nation, und zwar ganz durch ihre eigene Schuld, als solche Nichts ist und Nichts kann, so mußte jeder Deutsche mit sehenden Augen und gesundem Menschenverstand von Anfang an wünschen und, was an ihm lag, auch wirken, daß die einzige vernunftgemäße und praktische Lösung der Frage, d. h. die Einverleibung der Herzogthümer in Preußen, möglichst rasch zu einer vollendeten Thatsache würde. Statt dessen schwatzen die ewigen Schwätzer zu Gunsten irgend eines beliebigen Thronprätendenten und begeistern sich dafür, an das bunte Kleinstaaterei-Narrenkleid der armen Germania einen neuen Lappen zu plätzen. Ach, unsere Landsleute sind wie die Priester des altägyptischen Thierdienstes. Sie können der heiligen Geschöpfe nicht genug haben und kommen vor Freude und Jubel ganz außer sich, so in Dolzig oder sonstwo ein neues aufgefunden wird.“ Und doch hatte der feine weibliche Instinct Brunhild’s unschwer erkennen lassen, daß Sigfrid unendlich viel mehr Vaterlandsgefühl verbarg, als Hunderte liberaler Slichworthelden und patriotischer Gemeinplätzetreter mitsammen aufzuzeigen sich beflissen. Einzelne gelegentlich hingeworfene Aeußerungen des scheinbar gehaßten und heimlich mehr und mehr heißgeliebten Mannes waren, eben weil sie von ihm kamen, für Brunhild zu fruchtbaren Anregungen geworden, über Wesen und Charakter, über die wahren Vorzüge und die wahren Mängel der Nation nachzudenken, welcher sie entstammte. Allein so recht als eine Deutsche sich empfunden hatte sie doch noch nie bis zu dieser Stunde, wo vor ihren Ohren ihr Vaterland so gröblich beschimpft wurde.

Sie fühlte, daß ihr das Blut zornheiß in die Wangen und Schläfen strömte. Ihre Hände ballten sich krampfhaft, und mit dem Fuße aufstampfend murmelte sie vor sich hin: „O, wär’ ich ein Mann!“

In demselben Augenblicke zuckte sie empor und ihr Auge schoß einen Blitz, halb peinlichster Spannung, halb Frohlocken, durch die Blätterwand in den Garten.

In den scharfabgeschnittenen Kreis der Lichthelle, welche von dem Tische der Engländer ausging, war die Gestalt Sigfrid’s getreten, während hinter derselben die des Pastors nur in dämmernden Umrissen erschien.

Brunhild sah, daß ihr Mann – denn in diesem Moment nannte ihn ihr stolzes Herz in völliger Selbstvergessenheit also – hinter den Colonel trat und demselben die Rechte auf die Schulter legte. Sein Gesicht war bleich, seine Nasenflügel dehnten sich, unter den dicht zusammengezogenen Brauen blickten die Augen groß, klar und stolz. Der Colonel, mitten in einem Satze unterbrochen, wandte sich um, seine Gesellschafter schauten auf.

„Sir,“ sagte Sigfrid langsam in englischer Sprache, „ich habe die Ehre, ein Deutscher zu sein.“

Mehr verstand die Lauscherin nicht, aber das Metall dieser Worte wurde zu einer stürmisch läutenden Freudenglocke in ihrem Herzen. „Er ist ein Mann, mein Sigfrid, ein Held!“ jauchzte es auf in ihr. Sie stürzte in ihr Zimmer, um die Treppen hinab und ihm an den Hals zu fliegen. Aber da schlug es wie ein lähmender Blitz vor ihr nieder: „Er wird kämpfen! Er kann fallen!“ und halb ohnmächtig warf sie sich auf das Sopha.

Dann kroch aus einer Seelenfalte des unglücklichen Weibes der Gedanke: „Aber dürfte, würde er sein Leben an einen elenden Prahlhans wagen, so er mich liebte, auch nur so viel liebte, wie ich seinen alten Caro liebe?“

Nach einer geraumen Weile, während welcher sie vergeblich nach Fassung rang, hörte sie in dem über dem ihrigen gelegenen Zimmer Sigfrid’s die beiden Freunde mitsammen auf und nieder geben. Dann wurden droben Stühle gerückt, es trat Stille ein, es war schon tief in der Nacht.

„Er kommt nicht,“ sagte sie bebend, „er will mich nicht mehr sehen, mir nicht ein armes Abschiedswort sagen!“

Sie sprang auf, öffnete leise die Thür und schlich aus dem dunkeln Corridor bis zum Fuße der nach oben führenden Treppe, ohne sich klar zu sein, was sie denn eigentlich wollte. Da ging droben eine Thür auf, ein Lichtschein blitzte über die Treppenstufen und sie vernahm Sigfrid’s Stimme, welcher zu dem Freunde sagte: „Verschlaf’ Dich nicht, Alter, und sei pünktlich, damit wir mit Sonnenaufgang auf dem Platze sind.“

Von einer tödtlichen Angst angefaßt, floh sie in ihr Zimmer zurück. „Mit Sonnenaufgang … auf dem Platze.“ Also war das Furchtbare wahr? Ihr Herz hämmerte hörbar laut in der Brust. Und er kam nicht zu ihr! Aber hatte sie es denn um ihn verdient, daß er zu ihr käme? Nein! Wohl aber geziemte es ihr, zu ihm zu eilen, sich zu seinen Füßen zu werfen, seine Kniee zu umklammern und ihn anzuflehen: „Verzeih’ mir, oder kannst Du mir nicht verzeihen, so laß mich wenigstens mit Dir sterben!“

Sie fühlte das und schon hatte sie die Hand an der Thürklinke, als sich der alte Stolz und Hochmuth zum letzten Male triumphirend in ihr aufbäumte. „Wie, wenn der stolze Mann die Flehende verachtungsvoll von sich stieße? Wenn er die Gelegenheit willkommen hieße, an der bis zum Aeußersten sich Demüthigenden den tödtlichen Schimpf zu rächen, welchen sie in jener unseligen Hochzeitsnacht ihm angethan?“

Der Gedanke, so sinnlos er sein mochte und wirklich war, verwandelte ihr kochendes Blut in Eis. Sie ging nicht in das Zimmer Sigfrid’s hinauf, aber sie verwachte den Rest der Nacht in verzweiflungsvollem Brüten.




7. Erkämpft.

Ein leises Geräusch in dem Zimmer über ihr störte sie auf. „Er rüstet sich zu dem verhängnißvollen Gange,“ sagte sie sich. „Ob er auch jetzt nicht versucht, mir ein Abschiedswort zu sagen?“

Er schien es nicht versuchen zu wollen. Brunhild öffnete vorsichtig die Thür ihres Zimmers und lauschte hinaus. Das fahle Zwielicht des ersten Morgengrauens lag auf dem Corridor. Sie hörte nach einer kleinen Weile die beiden Freunde geräuschlos die Treppe herabkommen.

Am Fuße derselben standen sie still und Brunhild, deren Seele in ihren Ohren war, vernahm die flüsternde Stimme Schwarzdorn’s: „Und Du willst also Deiner Frau kein Wort sagen?“

„Nein,“ entgegnete Sigfrid. „Es wäre schade, ihren Morgenschlummer zu stören. Ist die Schnurre vorbei, so oder so, magst Du ihr in Deiner Weise gelegentlich erzählen, daß Alter nicht vor Thorheit schütze, d. h. daß ein alter Burschenschafter nicht habe ruhig mit anhören können, wie so ungalant man mit der armen alten Mutter Germania umsprang.“

„Aber –“

„Wir haben wahrhaftig keine Zeit mehr zum Plaudern, komm! Im Uebrigen ist ja Alles –“ Seine Stimme verklang im Fortgehen.

Brunhild zog den Kopf zurück und schloß die Thür. „Er wollte mich nicht sehen,“ sagte sie in bitterem Groll und Trotz. „So mag er denn gehen.“

Sie versuchte, mit aller Gewalt in diese trotzige Stimmung mehr und mehr sich hineinzuarbeiten. Aber es ging nicht. Sigfrid’s Worte: „Es wäre schade, ihren Morgenschlummer zu stören,“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_109.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)