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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

hatten sie etwa kalt oder gar spöttisch geklungen? O nein! Aber er hatte sie nicht sehen und sprechen wollen. Sie konnte ihm doch nicht nachlaufen, und darum, meinte sie, wäre es das Klügste, sie kleidete sich aus und legte sich zu Bette.

Aber es ging nicht. Eine furchtbare Beklemmung bemächtigte sich ihrer und drohte sie zu ersticken. Sie riß das nächste Fenster auf, und von der großen Nußbaumallee her, auf welche dasselbe hinausging, schlug ihr die kühle Morgenluft entgegen. Sie beugte sich tief aufathmend hinaus, und da erhaschte ihr Auge zwei Männergestalten, welche von der Allee rechtsab auf den Fußweg bogen, der über die große Matte nach der entgegengesetzten Seite des Thalbodens führte. In demselben Augenblicke rasselte ein Wagen von der Freitreppe des Hotels weg und fuhr eilends die Allee hinab.

Da quoll ein Gedanke heiß in ihrer Seele auf und erfüllte widerstandslos ihr ganzes Fühlen und Sein. Nur im Umsehen raffte sie Hut und Shawl auf und enteilte dem Zimmer, sprang die Treppe hinab, glitt an dem aus verschlafenen Augen verwundert sie anblickenden Portier, welcher im Begriffe war, die Hausthür wieder zu schließen, vorüber durch den Porticus, den Perron hinab, in die Allee hinaus und lief dieselbe entlang bis zu der Stelle, wo der erwähnte Fußpfad sich abzweigt.

Diesen schlug sie ein und verfolgte ihn geflügelten Ganges. Da, wo an der andern Seite des Thales der Bergwald anzusteigen beginnt, mündet der Fußweg in eine schmale Fahrstraße, welche zwischen der Gebirgswand und dem Ufer des Stromes knapp sich hinwindet. Hier erschaute sie durch den leichten Morgennebel hindurch nur etliche hundert Schritte vor sich die rasch ausschreitenden Gestalten Sigfrid’s und seines Freundes, und, kaum von ihr erblickt, schlugen die Beiden einen linkswärts in den Wald hinaufführenden Seitenweg ein. Als sie an diesen herangekommen, bemerke sie, daß wenige Schritte darüber hinaus ein Zweispänner auf der Straße hielt. Er war leer. „Sind die Herren in den Wald hinauf?“ fragte sie den Droschkenführer.

„Meine Engelländer? Ja, sie heiget geng da Wäg g’no,“ gab der Mann gleichmüthig zur Antwort, mit dem Ende seines Peitschenstiels auf den Waldweg deutend.

Ohne weiter ein Wort zu verlieren, schlug Brunhild denselben ein. Er führte anfänglich gemächlich, dann steil und steiler bergan und endlich auf eine dicht mit Tannen bestandene Ebene. Hier aber theilte er sich und zwar dreizinkig. Brunhild stand in peinvoller Ungewißheit eine Secunde lang still. Rings um sie waltete lautloses Schweigen, da die Zeit der Sonnenwende längst vorüber und der Vogelsang demnach verstummt war. Plötzlich fiel ein helles Leuchten in die graue Waldesdämmerung, und als Brunhild aufschaute, sah sie die Tannenwipfel röthlich angeglommen. Das Tagesgestirn mußte also über die Gebirgsspitzen im Osten herauf sein.

Es trieb sie mächtig vorwärts, aber wohin? Sie that nacheinander auf jeden, der vor ihr liegenden drei Pfade etliche Schritte vorwärts und ebenso rasch wieder zurück. Endlich warf sie sich hastig auf den mittleren, geradeaus führenden und eilte vorwärts mit der Elasticität eines um Tod und Leben rennenden Rehes, nicht ahnend, daß nach einer kurzen Strecke der Weg in vielfachen Wendungen wiederum jäh bergan führte. Dann sprang er mit scharfer Biegung plötzlich nach rechts um, führte in dichtes Unterholz und Gestrüppe und ging hier ganz aus.

Verzweifelnd hielt die Eilende inne. Ihr Busen flog, Tropfen kalten Schweißes rollten von ihren Schläfen herab und ihre Augen starrten in die sie umgebende Waldwildniß, als ob sie vor Bangen aus ihren Hohlen springen wollten. In diesem Augenblicke kam das geahnte, das gewußte Gefürchtete. Zwei Schüsse fielen dort rechts hin so rasch hintereinander, daß es wie nur ein Knall durch den Wald hallte.

Der Athem stockte in Brunhild’s Brust. Dann brach ein Schrei aus ihrem Munde, grell und gell wie die Verzweiflung, und im nächsten Augenblicke flog sie unaufhaltsam durch das Gebüsche dahin, woher der Schall gekommen.

Die gesuchte Stelle war nahe beian. Brunhild fand sich unversehens am Saume einer Lichtung, von welchem der Boden rasch gegen ein schmales Thälchen abfiel, welches hier in den Wald eingeschnitten war. Auf dem grünen Wiesengrund konnte sie, etwa fünfzehn Schritte von einander entfernt, zwei Gruppen wahrnehmen, jede aus drei Figuren bestehend. Und je eine derselben lag und je zwei standen. Sie konnte in dem einen Daliegenden den englischen Colonel erkennen, der jetzt ein sehr stiller Mann, und … doch nein, sie erkannte, sie sah nicht ihn, sah Nichts und Niemand außer dem Einen – Sigfrid.

Und „Sigfrid! Sigfrid!“ schrie sie auf, in wahnsinnigen Sätzen den Abhang hinunterfliegend, und im nächsten Augenblicke lag sie ihm zur Seite auf den Knieen und schlug die Arme um den sterbenden Mann. Denn ein Sterbender war er. Die Gegner hatten, wie bestimmt worden, auf kurze Distanz a tempo gefeuert und in demselben Moment, wo Sigfrid’s tödtliche Kugel dem Colonel in die rechte Schläfe geschlagen, war ihm das Blei desselben seitlings in die Brust gefahren.

Aschfarben im Gesicht, faßte Schwarzdorn den Arm des Arztes, welchen die Engländer mitgebracht hatten, und gepreßten Athems, fast pfeifend, stieß er die Frage hervor: „Keine Rettung, Doctor?“

Der Arzt schüttelte den Kopf und flüsterte zurück: „Keine. Er hat nur noch Secunden zu leben.“

„Sigfrid, mein Sigfrid!“ flehte in Tönen bebender Zärtlichkeit Brunhild. „Ich bin da, Brunhild, Dein Weib, Deine Sclavin, die den Staub von Deinen Füßen küssen, die für Dich leben, die für Dich tausend Tode sterben will!“

Der tödtlich Getroffene, den man mit dem Rücken an eines der bemoosten, über die Matte hingestreuten Felsstücke gelehnt hatte, erhob das Haupt und öffnete die schon von den Schatten des Todes umflorten Augen. Ein heller Freudenblick leuchtete in denselben auf. Er machte einen Versuch, die Arme zu heben, als wolle er sie um das im Jammer vergehende Weib legen, und das schreckliche Röcheln seiner Brust bewältigend, sagte er mit einem herzzerreißenden Lächeln: „So bin ich also doch glücklich noch durch Waberlohe gedrungen und habe Dich erkämpft, Du schöne, stolze, hochgeliebte Walküre – erkämpft!“

Sein edles Haupt sank herab und ein Zittern überlief sein geisterbleiches Antlitz. Sie umklammerte ihn, sie preßte ihre Lippen auf seinen Mund, als wollte sie den entfliehenden Odem zurückhalten. So starb er unter ihrem, ach, zu spät gegebenen Brautkuß …

Als der in tiefster Seele erschütterte Freund eine Stunde später auf die Unglücksstätte zurückkam, Tragbahre und Träger mit sich bringend, fand er Brunhild regungslos am Boden sitzend, Sigfrid’s Haupt, das sie mit am Waldsaum gepflückten Eichenzweigen umwunden hatte, in ihrem Schooße haltend. Ihr Antlitz war fahler, als das des Todten, auf dessen friedvollen Zügen ihre brennenden Augen hafteten, die keine Thränen gefunden hatten. Sie schrak zusammen, wie aus einem Traume geschreckt, als die Männer herantraten. Dann aber fiel sie sofort wieder in ihre steinerne Regungslosigkeit zurück.

Dem armen Schwarzdorn schien das Bekränzen des Todten einen peinlichen Eindruck zu machen, es mochte ihm profanirend, affectirt, theatralisch vorkommen und daher sagte er fast rauh: „Madame, es ist Zeit …“

Sie ließ ihn nicht aussprechen, obgleich sie sich nicht an ihn wandte. Ohne aufzublicken, murmelte sie, die Hände Sigfrid’s in den ihrigen pressend: „Ich habe die Ehre, ein Deutscher zu sein … O, er hatte Ehre, Ehre, Ehre bis zum letzten Hauch, er, mein Held!“

Und halb singend brach sie in die eddaische Strophe aus:

„So war Sigurd
Bei Ginki’s Söhnen,
Wie hoch über Halme
Die Tanne sich hebt,
Wie der Hirsch über Hasen
Hochbeinig ragt
Und gluthrohes Gold
Ueber graues Silber …“

„Die unselige Tragödie schließt mit einem würdigen Finale,“ rief Schwarzdorn aus. „Sie ist wahnsinnig geworden!“

Er irrte. Sie war es nicht geworden und wurde es nicht. Noch am Abend desselben Tages hatte sie die gewohnte ruhigstolze Fassung und Haltung wieder erlangt und fest und klar ordnete sie, was zur Heimführung des todten Gemahls nach seinem Schloß am unteren See zu ordnen war.

Aber gerade in ihrer Gefaßtheit hatte die Schloßherrin mit den thränenlosen, brennenden Augen und den marmorblassen und marmorstarren Zügen etwas Furchtbares, Etwas, das Schwarzdorn

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_110.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)