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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Terlaner, die Tasche Brod und Fleischwaaren, die Rechte ist mit dem eisenbeschlagenen Bergstock bewehrt – und die Einwendungen und Abmahnungen sind glücklich überstanden.

In der Abwehr dieser war mir ein alter Jäger von Pertisau behülflich, der zu der vorsorglich abrathenden Wirthin sagte:

„Ach Gott, was! es ist erst über die Weihnachtsfeiertag’ ein Holzknecht über’s Joch gangen. Der Herr da find’ die Fußstapfen leicht.“

Um den Leser zu orientiren, muß ich sagen, daß mein Wanderziel das einsam stehende Jägerhaus Hinterriß war, welches sechs Stunden westlich vom Achensee in einer schwer zugänglichen Wildniß liegt. Das Hospiz der Scholastica steht am Nordostufer; man muß also über den See fahren. Da aber der einzige Punkt, von dem man drüben den Marsch antreten kann, am südwestlichsten Ende des Wassers liegt – überall sonst fallen die Wände steil in die unergründliche Fluth, – so würde das Ueberfahren nicht der Breite, sondern der Länge nach, über die ganze Ausdehnung desselben von Nord nach Süd, veranstaltet werden müssen. Eine solche Fahrt ist im Sommer, wenn man vom Kahn aus nach den Alpenrosen am jähen Gestein greifen kann, freilich etwas Angenehmes; allein bei dem Zustande der Luft, wie sie besagter Decembermorgen bot, möchten nur wenige meiner Leser sich an solcher Wasserpartie betheiligt haben. Es giebt gute Naturen, welche das stundenlange ruhige Sitzen in solcher eisigen Kälte auf den nebelbedeckten Wellen nicht ertragen können. Darum war es jedenfalls das verständigste, am Ostufer des Sees so weit nach Süden zu Fuß vorzugehen, bis uns vom gegenüberliegenden Landungsplatze, der kleinen grünen Mulde der Pertisau, der schmale See nur noch durch seine geringe Breite trennt.

Schon haben wir die südliche Ausbuchtung des Sees erreicht und stehen an der engen Stelle des Gestades, von deren schanzartigen Wänden im Frühjahr die gefürchtetste Lawine des Achensees, die sogenannte Haselbacherin, herabstürzt. Dort oben, auf dem Geklipp, wartet sie, bis ihre Zeit kommt. Dann jagt sie nieder, die Föhren knickend, und überthürmt die Straße, die dann Tage lang für Pferd und Wagen unzugänglich bleibt. Für jetzt aber lassen wir sie da oben hocken und treten beim „Ueberführer“ ein, der sofort zur Fahrt bereit ist und mit mir durch den Schnee nach seiner Schiffhütte schreitet.

Der freundliche Leser erinnert sich aus einer andern meiner Mittheilungen an die Gartenlaube, daß die Alpenseen im December und Januar nur selten mit Eis bedeckt sind, und der Gründe, die ich für diese Erscheinung angegeben habe, welche dem Flachländer auffallen mag. Aber in der Schiffhütte, in welcher das Boot des Alten liegt, ist das seichte Wasser doch gefroren und mit Mühe gelingt es uns, den Kahn aus den umklammernden Rinden zu befreien. Endlich sind wir flott, die Welle schlägt glucksend an das Vordertheil und rasch ist der Boden unter dem Wasser vor unsern Blicken wie hinabgestürzt und verschwunden.

Da – wir waren ein paar Duzend Ruderschläge draußen in der Fluth – rasselte es mit einem Male, als ob der Nachen zerbersten wollte – noch einmal, das Boot stand still. Was war das? Das Geräusch glich demjenigen, mit welchem auf großen Seeschiffen die Ankerketten abgewickelt werden, wenn der schwere Widerhaken in die bergende Tiefe sinkt. Wir waren auf eine dünne Eisschicht aufgelaufen, deren Rand wir zerbrachen. An dieser Stelle des Sees wirft nämlich das Stanzer Joch, ein mächtiger Alpenrücken, seinen Schatten gerade um die wärmsten Stunden des Tages auf das Wasser, mit welchem dann die Kälte leichteres Spiel hat, als mit den Wellen draußen in der freien Fluth, über welche Wind und Licht unbeschränkt gebieten. Nun galt es, um die verschiedenen Eisinseln herumzukommen, was auch dadurch schwierig war, daß sie selbst in der Nähe vom offenen Wasser kaum zu unterscheiden waren. Das Eis war klar und durchsichtig, wie die schweigsame Fluth. Nach zweistündigem Manoeuvriren gelang es uns, bis auf einige Klafterlängen an das seichte Ufer vorzudringen; an diesem, dem Fuß des benannten Joches, machte eine dickere Schicht das nähere Landen unmöglich. Ich mußte also auf dem Eis aussteigen, worauf ich und sogar mein Hund in den wenigen Schritten, die uns von dem festen Boden trennten, noch mehrmals einbrachen. Diese bedeutende Verspätung und das Anfangs von mir nicht bemerkte Durchweichen der Schuhe mit dem eiskalten Wasser sollten, wie wir sehen werden, auf den unglücklicken Ausgang der Expedition von wesentlichem Einfluß sein. nun stand ich in der Pertisau, und von hier aus geht der Weg nach denn Blumser Joch, über dessen Sattel man nach den menschenleeren Thälern der oberen Zuflüsse der Isar gelangt. Es ist schon von hier aus eine gewaltige, im winterlichen Gewand fast unheimliche Scenerie. Die schiefen Strahlen der niedrigen Sonne geben dem Sonnenjoch, dem Letzten Schnee, der Lachwald-Spitze, die alle bis weit über achttausend Fuß hinausragen, den Ausdruck einer wilden, drohenden Einsamkeit. Zudem ist zwischen hier und Hinterriß in den sechs bis sieben Stunden, welche der rüstigste Bergsteiger zum Ueberschreiten des Hochjoches braucht, keine menschliche Wohnung. Ich überlegte noch einmal, aber ich scheute mich endlich, vor einer Aufgabe zurückzuweichen, welche von einem Holzknecht, ohne viel Aufhebens zu machen, zu Ende geführt worden war.

Das schöne große „Fürstenhaus“ am Strande der Pertisau, in welchem die frommen Väter des Klosters Viecht im Sommer die lebenslustigen Touristen bewirthen lassen, liegt öde am Strand. Alle seine Fensterläden waren geschlossen und kein Fußstapfen in den dichten Schneelagen zu sehen, welche hier, am Knotenpunkte des Hochalpen- und des Seethales, der schneidende Wind zusammengetragen hatte. So besuchte ich noch auf einige Augenblicke das obere neue Wirthshaus, um nicht jetzt schon meine eigenen Vorräthe angreifen zu müssen.

Ein schönes Weib, welches ich dort traf, eine „Wurzin“ (Wurzelgräberin), die, wie manche Leute in Tirol, das Enzianbereiten auf einer Sennhütte im Sommer fast fabrikmäßig betreibt, meinte, es sei zwar für heute schon ein wenig spät (halb ein Uhr), um über das Joch zu steigen, aber man dürfe sich aus einen frosthellen Abend gefaßt machen und überdies stehe die Mondsichel am Himmel.

Dieses und eine Wahrnehmung, die ich schon vom Thale aus gemacht hatte, bestärkten mich vollends in meinem Entschluß, trotz der späten Tageszeit meinen Plan zur Ausführung zu bringen. Ich hatte nämlich gesehen, wie oft auf den Höhen der Joche sich schwarze Streifen hinzogen, an vielen Stellen der Grate das Gestein hervorschaute und an andern die Schneeschicht augenscheinlich dünner war, als weiter herunter oder in der Niederung. Es ist dies eine Folge der wärmeren Luftschicht, die sich oft über der dickeren, kälteren Atmosphäre des Thales hält. Ich habe in Innsbruck gesehen, wie die Stadt in Kälte und Schnee erstarrt dalag und zweitausend Fuß weiter oben an dem Rücken des Patscher Kofels und der Waldrast ein lauer Föhn jede Flocke weggeleckt hatte. Auch hier ist es gar nicht selten, daß man, wenn man von dem fünfzehnhundert Fuß tiefer gelegenen Innthale an den Achensee heraufkommt, warmes Thauwetter findet, während unten die Wasserfälle zu Säulen verglast sind. Das ist, wie die Bauern sagen, bis Lichtmeß (2. Februar) sogar die Regel; späterhin soll es „beim Land“, d. h. in der Ebene, wieder wärmer sein. Die Meteorologen mögen sich um das Wie und Warum dieser Dinge den Kopf zerbrechen – ich führe sie hier nur an.

So trat ich denn meine Reise nach dem Joch wohlgemuth und ohne Zagen an. Schlitten, welche aus den nahen Kohlenmeilern ungeheure Ladungen von Kohlen holen, die in das Eisenwerk von Jenbach im Innthal gebracht werden, hatten den Weg durch den Schnee eine gute Strecke weit geebnet, was die Behaglichkeit meiner Stimmung nicht wenig erhöhte. Von Zweigen und Stämmen der Nadelbäume in den riesigen Bergforsten war wenig zu sehen – Alles war im gleichmäßigen Schimmer von Schnee und Eis begraben. Man konnte einen Wald gerade so gut für eine Stalaktiten-Sammlung halten, wie für einen Aufbau aus Pflanzenzellen. Dabei warf die tiefe Sonne blutrothe Flecke durch die Zwischenräume auf den flimmernden Boden und meine Schritte auf der schlüpfrigen Decke fanden von den erstorbenen Baumreihen her einen krachenden Wiederhall.

Endlich verließen mich die letzten Kohlenwege und nun ging es durch die enge Schlucht hinter der Rabenspitz und dem Letzten Schnee geradaus durch die verschneiten Wälder. Wohl war der Schnee tief und es dauerte nicht lange, so waren meine Beinkleider bis an die Kniee herauf dick und steif wie ein Bret gefroren – aber solches geschieht auch alle Tage draußen im Flachland und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_138.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)