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prachtvollen Gebilden der Apokalypse – geschlagen. Jünglinge, Knaben der Schule entlaufen, hatten sich in die Reihen der erprobten Krieger gestellt und waren gleich ihnen in das Feuer gegangen auf den Ruf ihres Landesvaters; beschattet und geschirmt, geführt und – wie viel Tausende! – in das große, gemeinsame Grab gesenkt mit den Farben des preußischen Vaterlandes.

„Das ist die Folge, wenn man den Leuten à la Bonaparte vertraut,“ sagten die Bourbonisten vom Marsfeld zurückkehrend. „Ein Mal mußte der Mensch fallen.“

„So rächt sich der Verrath an der Nation, von Talleyrand und Fouché ausgeheckt,“ sagten die Republikaner. „Statt des Convents der Säbel der Fremdlinge!“

„Höchst merkwürdig diese Fahnenweihe!“ sagten die Neugierigen. „Wie oft hat man auf dem Champ de Mars nun schon eroberte Fahnen gesehen! Wer hätte gedacht, daß siegreiche Feinde zwei Mal, mitten in Paris selbst, ihre Waffen und Standarten aufpflanzen würden! Man erlebt doch Vielerlei!“

Die alten Soldaten aber standen wieder beisammen. Sie blickten ernst den abmarschirenden Preußen nach, deren letzte Colonnen in den Straßen von Paris verschwanden. „Diese Leute sind Helden,“ sagte ein alter napoleonischer Oberst. „Wir, als Soldaten, müssen das zuerst eingestehen. Aus ihren Augen, aus ihrer Haltung blitzt ein hoher, kriegerischer Geist. Er fliegt durch ihre Reihen, er schwebt um die Spitzen ihrer alten und neuen Fahnen, heraufbeschworen durch den Spruch, den sie auf ihren Kreuzen tragen. Ihre Armeen sind ,Das Volk in Waffen.‘“ –

Fünfzig Jahre später! und wieder tönt der Ruf: „Zu den Waffen! es gilt für deutsches Land, für deutsches Recht zu streiten.“ Hat der lange, tiefe Friede die Arme schlaff gemacht für das Waffenhandwerk? Ist der Geist der kriegerischen Vorfahren gewichen von den Nachkommen? Die Armee Preußens ist glänzend, wohlgeschult, herrlich auf den Paraden, in den Manövers. Wie wird sie aber sein, wenn der Ernst herantritt? Wenn es gilt, mit Blut zu schreiben, wo im Norden die Grenze des deutschen Vaterlandes gegen den tückischen Nachbar sein soll, der lange Jahre hindurch mit unbegreiflichem Stolze und Hochmuth das deutsche Recht verhöhnte?

Schon ziehen sie hinaus; gerufen von Ambos, von Hammer und Meißel, von Pflug und Büchern, von Wechselbank und Strazze, wieder einzutreten in das Heer, zu zeigen, daß sie einstehen können für das Vaterland mit Leben und Blut.

Diese preußischen Männer hat der Friede nicht erschlafft, diese Waffen sind nicht nur für Glanz und Schimmer der Paraden, diese Fahnen sind nicht nur Andenken vergangener Großthaten. Im verderblichen Froste des Winters, auf unwirthlichem, gefahrbringendem Wege, umlauert von Verrath, dringen die Neulinge im ernsten Kampfe unaufhaltsam vor. Sie werfen den Feind, sie erklimmen furchtbare Schanzen unter dem Donner todbringender Geschütze, das Meer schreckt sie nicht, die Waffe im Arm landen sie an feindlicher Insel. Ihre Leiber decken den Boden, zerfetzte, verstümmelte Glieder nehmen sie mit nach Haus, aber sie haben gezeigt, daß die alte Kraft, die dereinst die Väter zum Siege führte, ihnen geblieben ist, sie haben mit ihrem Blute das schon losgerissene Stück wieder an Deutschland gekittet, und Der, welcher, vor fünfzig Jahren ein Jüngling, die neuen Fahnen auf das Marsfeld geleitete, der schaut sie heute wieder entfaltet, ein Zeichen des Sieges seiner Armee – seines Volkes.

Stolz und lustig flattern sie am Ufer des Meeres auf den eroberten Schanzen, wie sie dereinst flatterten im besiegten Paris. Weit hinaus in die Ostsee schimmern sie, umblitzt von den Bajonneten und Säbeln ihrer Krieger, umdonnert von den Siegesgrüßen ihrer Geschütze. – Preußisches Pulver! Preußische Fahnen!




Blätter und Blüthen.

Der Stuhl aus dem Himmel. Am 16. September den Jahres 1804 saß ein junges Mädchen in der Nähe des Weilers Saint Gourgon bei Rouen in Frankreich im Schatten eines Gebüschs und strickte; vor ihr weidete eine kleine Schafheerde, deren Hut ihr anvertraut war. Es war ein herrlicher Herbsttag, kein Wölkchen am Himmel, die Sonne schien warm wie im Sommer; die Zeit gegen drei Uhr des Nachmittags. Plötzlich vernimmt Suzan Jacqueminot – so hieß die Hirtin – über sich in der Luft ein pfeifendes Geräusch und als sie erschrocken aufspringt, geschieht dicht hinter ihr ein fürchterlicher Schlag in das Gebüsch, so daß dieses nach allen Seiten hin auseinander fährt, zerbrochene Zweige und abgerissene Blätter verstreut. Und auf dem tief niedergedrückten, elastisch sich wiegenden Astwerk steht aufrecht – ein weißer Stuhl! Entsetzt fällt Suzan auf die Kniee mit bitterlichem Hülfeschreien; Hirten und Ackerleute laufen von den umherliegenden Feldern hinzu, Alle schauen versteinert das Wunder, Alle entblößen andächtig das Haupt und sinken anbetend nieder. Denn darüber kann doch kein Zweifel sein, daß dieser sichtbare Stuhl, den aber Niemand anzugreifen wagt, direct aus dem Himmel herabgefallen ist, aus dem völlig reinen, unumwölkten Himmel, an welchem, so weit der Horizont reicht, nichts Fremdartiges zu entdecken ist. Aber was hat der himmlische Stuhl zu bedeuten und warum ist gerade die Schäferin Suzan Jacqueminot damit begnadet worden? Mit scheuer Ehrfurcht betrachten die Anwesenden bald den Stuhl, bald das Mädchen, welches sie zu großen Dingen berufen wähnen. Mittlerweile sind Einige in das Dorf gelaufen, um dem Herrn Pfarrer die Anzeige zu machen, und schon strömt es heraus; wer Beine hat, kommt hastig, um das Wunder anzustaunen, voran der ehrwürdige Curé mit seinem Meßner. Kopfschüttelnd hört der nicht ganz leichtgläubige Geistliche den Bericht; aber der ist so einfach und überzeugend, daß sich an der Thatsache nicht mäkeln läßt: Der Stuhl ist vom Himmel gefallen! Außer dem Pfarrer und einigen Freigeistern liegt die ganze Gemeinde auf den Knieen. Endlich befiehlt Jener, den Stuhl aus dem Gebüsch zu lösen, jedoch nur die Freigeister sind dazu zu bewegen, ihn anzufassen, was sie übrigens selber nur mit einiger Vorsicht thun. Aber der Stuhl brennt nicht, ist ein guter, reeller Holzstuhl. Mehr noch, der Tischler, welcher ihn aufmerksam betrachtet, sagt: „Er ist von Birkenholz, und verfl– schlechte Arbeit macht man da oben!“ worauf sich dann die Frommen entsetzt bekreuzen. Nunmehr wird der Stuhl in Procession in das Dorf gebracht und einstweilen in der Kirche niedergestellt. Den ganzen Tag wird dieselbe von Andächtigen nicht leer, wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Kunde von dem Wunder in der Umgegend, in zahlreichen Processionen langen die Dörfler des Umkreises an, um mit eigenen Augen das Wunder anzusehen. Der Pfarrer, durchaus nicht wissend, wie er sich benehmen soll, läßt geschehen, was er weder zu hindern, noch auch zu erklären vermag. Am besten befindet sich Suzan dabei, es regnet Geschenke auf sie herab, eine wohlhabende Wittwe nimmt das gottbegnadete, schon auf Erden mit einem Himmelsstuhl bedachte Mädchen an Kindesstatt an und sie erhält einen Heirathsantrag über den anderen. Mit der kann es nicht fehlen! ist die allgemeine Meinung aller Burschen im ganzen Bezirk. So geht es eine Woche fort und die Aufregung über das Wunder, anstatt sich zu legen, wächst immer mehr, in concentrischen Ringen, trotz der Spöttereien der Freigeister, welche freilich ebenfalls keine Erklärung des Räthsels wissen. Aber siehe da – eines Tages war der Himmelsstuhl verschwunden, Niemand wußte, wie, wohin – er war und blieb weg. Erst Jahre nachher, als längst die Sache vergessen war, erfuhr man die nähern Umstände.

Der Pfarrer erhielt nämlich am Abend vor dem Verschwinden des himmlischen Stuhls die Zeitungen und fand darin zu seiner großen Befriedigung folgende Nachricht: „Am 16. September, Vormittags um neun Uhr vierzig Minuten trat der große Naturforscher Herr Gay-Lussac seine zweite Luftfahrt an; er erreichte auf derselben die Höhe von 7016 Meter über der Meeresfläche, höher, als jemals ein Mensch gelangt ist. Bei 7000 Meter wollte er versuchen, in eine noch höhere Luftschicht einzudringen, entledigte sich daher des gesammten Ballastes der Gondel, bis auf die physikalischen Instrumente; zuletzt warf er sogar noch den hölzernen Stuhl, der ihm zum Sitze diente, hinaus. Allein der Ballon wollte sich trotzdem nicht mehr heben, und so kam er um drei Uhr fünfundvierzig Minuten zwischen Rouen und Dieppe zur Erde nieder.“ Als der gute Pfarrer dies gelesen hatte, stellte er sich ein Holzbeil zurecht und begab sich unter dem Schleier der Nacht in die an sein Wohnhaus anstoßende Kirche. Kurz darauf konnte man ein lebhaftes Feuer in seinem Junggesellen-Kamin wahrnehmen. Aber er kannte seine Bauern und erzählte ihnen erst lange nachher vorsichtig die Bewandtniß mit dem Stuhl aus dem Himmel; natürlich sagten die Bauern: „Ja, ja, Herr Pfarrer!“ und glaubten kein Wort davon, um so steifer und fester aber an das Wunder. Und die Schäferin Suzan Jacqueminot hieß, obgleich verheirathet und Mutter von einem halben Dutzend ungewaschener Rangen, bis in ihr spätes Alter weit und breit „Die Jungfrau vom Stuhle.“




Ein Kuß von Schiller. Meine Großmutter, die „Frau Senatorin“, hat seiner Zeit die ganze Stadt Darmstadt gekannt. Sie hatte ihre merkwürdigen Eigenheiten; so trug sie sich bis zu ihrem Tode im Jahre 1850 unabänderlich, wie Bürgerfrauen zu Ende des vorigen Jahrhunderts, wodurch sie natürlich Jedermann auffiel; aber niemals hat es Jemand gewagt, ihrer zu spotten. Sie war streng gegen Jedermann, am strengsten gegen sich selbst, gottesfürchtig und sehr stolz nach oben und unten. Auf ihre Wahrhaftigkeit konnte man sich verlassen, daher ist auch die nachstehhende Anekdote, welche sie nur erzählte, wenn sie bei recht guter Laune war, und selbst dann noch mit jener Verschämtheit, die auch alten Frauen gut steht, vollkommen authentisch.

An einem schönen Winterabend im Januar (1785) begleitete sie als etwa sechszehnjähriges Mädchen ihre Jugendfreundin Seitz (der Vorname ist mir entfallen), die Tochter des Hof-Perrüquiers, über den Markt nach Hause. Es lag schöner Schnee auf der Straße und die lustigen Dinger warfen sich scherzend mit Schneebällen. Die schäkernde Schlacht war gerade am hitzigsten, als aus dem sogenannten alten Palais des Prinzen Christian (bewohnt von der „alten Fürstin“, Albertine Louise, Gemahlin des Prinzen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_175.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)