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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

mit dem Wahnsinn kämpfen, während er es während seines Lebens schon vergeblich gethan hatte? Aber wahnsinnig oder nicht! Auch für einen Wahnsinnigen war dieses finstere Loch ein fürchterlicher Kerker.

Und ich stand wiederum auf dem kleinen, engen Hofe, und noch sonniger und heiterer schaute mich der blaue Frühlingshimmel an. Und wieder rasselte die alte Frau mit ihrem Schlüsselbunde, und sie schloß in dem rechten Flügel des schrecklichen Schlosses eine Thür auf. Ich blickte in einen großen, kasemattenartig gewölbten Raum. Er war hell; denn er erhielt sein Licht durch die Fenster, welche nach dem Hofe hinausgingen. Es war das Gefängniß der Juniinsurgenten, welche die Bourgeoisie der Februarrepublik, nachdem sie mit den Kanonen Cavaignac’s den Aufstand der Vorstädte in den Straßen von Paris niedergeworfen hatte, nach Schloß If führte. Sie brachten dort fünf Jahre zu. Im Jahre 1852 wurden die Übriggebliebenen, deren Gefängnißzeit noch nicht abgelaufen, oder die noch nicht gestorben waren, nach Cayenne gebracht. Sie schliefen indeß nur während der Nacht in diesen Kasematten oder in den Kammern des oberen Stockes. Während des Tages konnten sie sich auf dem Hofe oder auf der oberen Terrasse des Schlosses ergehen. Die Kasematten waren eben wie andere Kasematten. Sie waren nicht schlechter und nicht besser als die Kasematten des Schlosses Silberberg in Schlesien, in denen ich selbst viele Monate zugebracht habe. Ich sah, die moderne Zeit war doch etwas menschlicher mit den politischen Gefangenen umgegangen, als die Könige von Gottes Gnaden.

Nun stieg ich die gewundene eiserne Treppe hinauf, welche zu der oberen Galerie führte. Die Kerker der eisernen Maske, des Herzogs von Orleans, der sich Philipp Egalité nannte und mit der Revolution zu spielen versuchte, bis ihm diese den Kopf abschlug, und der Kerker Mirabeau’s befanden sich im oberen Stock. Hier in einem hohen gewölbten Gemache mit einem vergitterten Fenster brachte der Mann, dem die Geschichte den Namen der „eisernen Maske“ gegeben hat, drei Monate zu. Dann wurde er nach Paris in die Bastille geführt, wo er nach vielen Jahren gestorben ist. Die „eiserne Maske“ ist bekanntlich eine Persönlichkeit aus der Regierungszeit Ludwig’s des Vierzehnten, über deren eigentlichen Namen und Abstammung sich die Geschichtsschreiber vielfach den Kopf zerbrochen haben und deren Identität noch heute nicht unwiderleglich festgestellt ist. Noch immer behaupten Viele, der Mann mit der eisernen Maske sei ein Halbbruder Ludwigs des Vierzehnten gewesen, der sich durch diese Gefangenschaft seiner habe entledigen wollen, während andere Geschichtsforscher in ihm einen italienischen Staatsmann erblicken, welcher an dem „großen König“ einen Verrath begangen habe.

Dieselbe Galerie, aus der wir den Kerker der eisernen Maske betreten haben, führt in einen andern Kerker, der sich in dem die rechte Seite des Schlosses flankirenden Wartthurm befindet. Der Kerker war hoch und weit, wie ein in Stein gehauenes Gewölbe. Ein kleines vergittertes Fenster erleuchtete ihn so ziemlich. Der Blick aus dem Fenster fiel auf das Meer und streifte über die weite blaue Wasserfläche bis zu den Bergen. Ein weiter, schöner Blick! In der hintern Wand des Kerkers befanden sich zwei Eisenringe. Die alte Frau faßte einen dieser Ringe und sagte: „An diesem Ringe war der Herzog von Orleans angekettet, während er hier gefangen saß.“

Ich war erstaunt über diese Vorrichtung. Selbst in den Kerkern Monte-Christo’s und Faria’s hatte ich keine Ketten bemerkt. Auf meine Frage erwiderte die Frau: „Er machte einen Fluchtversuch, der mißlang. Darauf wurde er mit einer Kette an die Mauer angeschlossen.“

Wie mußte dem schlechten und lasterhaften Manne in diesem Kerker zu Muthe gewesen sein! Er hatte an allen Lastern des Königthums Theil genommen, um dasselbe stürzen zu helfen und dessen Ruin zu seinem eignen Vortheil auszubeuten. Die goldstrahlenden Säle des Palais Royal, wo er jene glänzenden Feste gab, bei denen Jemand die prophetischen Worte äußerte: „Nous dansons sur un volcan,“ und dieser wüste, kellerartige Kerker, welche Contraste! Der Aufenhalt in diesem Kerker wurde mir widerlich. Nicht die Thränen eines Unglücklichen hatten diese kalten Steine benetzt, das Laster hatte sie beschmutzt.

„Führen Sie mich nun in den Kerker Mirabeau’s,“ sagte ich zu der alten Frau; „er besaß wenigstens neben Lastern auch große Tugenden und eminente Talente.“

Wir gingen die Galerie entlang nach dem Theile des Schlosses, welcher der Eingangspforte gegenüberliegt. Auf der Langseite der Galerie öffneten sich ebenfalls zwei Thüren, welche in Kasematten führten. Ich warf im Vorübergehen einen Blick hinein. „Auch hier waren die Juniinsurgenten eingeschlossen,“ sagte die Frau, „aber nur während der Nacht. Ich habe sie Alle gesehen. Wir hatten über fünfhundert im Schloß. Ich bin seit dem Jahre 1847 im Schlosse If.“

Nun betraten wir die andere Seite des Schlosses. In der Ecke erhob sich der Wartthurm, der die andern Thürme hoch überragte. Hart an den Wartthurm stieß ein viereckiges, nicht gewölbtes Gemach, aus dem man die Aussicht auf den Schloßhof hatte. Die Frau öffnete die Thür. „Und wer hat diesen Kerker bewohnt?“ fragte ich.

„Ein großer Todter“, sagte das Mütterchen, „bevor er in den Sarg gelegt wurde.“

„Ein Todter?“ fragte ich verwundert. „Kerkerte man auch Todte ein in diesem fürchterlichen Schlosse?“

„Kennen Sie den Marschall Kleber,“ erwiderte die Frau, „den berühmten General, der mit dem Kaiser in der Schlacht an den Pyramiden focht?“

„Ob ich ihn kenne! Er war ein Republikaner, ein Mann von Ueberzeugung und edlen Eigenschaften des Herzens und des Charakters, ein Mann von Muth und Talent, wie nur Einer während der großen Revolution. Ein fanatischer Mameluk ermordete ihn in Cairo. Sein Ebenbild aus neuerer Zeit starb neulich in Basel, der Oberst Charras!“

„Er war es. Sein Leichnam wurde aus Aegypten herüber gebracht, um in Frankreich in vaterländischer Erde zu ruhen. Aber in Aegypten war die Pest. Deshalb wurde der Leichnam hier vierzehn Tage niedergelegt, bevor man ihn ans Land brachte.“

Eine steinerne Wendeltreppe zog sich im Wartthurm aufwärts. Als wir auf der dritten Stufe standen, öffnete die Frau eine niedrige Thür. Sie führte in ein viereckiges Gemach. Das Gemach hatte ein größeres Fenster, als die anderen Kerker im Schlosse If. Aus dem Fenster blickte man auf die andere Seite des Meeres. Der Blick tauchte sich in die Unendlichkeit. Wenn das Auge so weit reichte, würde man aus diesem Fenster die afrikanische Küste erblicken können.

„Hier wurde Graf Mirabeau zwei Jahre gefangen gehalten,“ sagte die Frau. „Sein Vater ließ ihn einsperren, als er noch ein ganz junger Man war. Sie wissen vielleicht? …“

„Ja, ja, ich weiß,“ erwiderte ich. Ich befand mich im Kerker des jungen Grafen Mirabeau, den sein eigener Vater auf Grund einer lettre de cachet König Ludwig’s des Fünfzehnten mehrere Jahre einsperren ließ, weil er sich wider seinen Willen verheirathete und tolle Streiche machte, die dem Vater nicht behagten. Nun, jedenfalls war es der freundlichste Kerker im Schlosse If, wenn man einen Kerker in diesem fürchterlichen Schlosse überhaupt freundlich nennen kann.

Ich trat jetzt auf die Terrasse hinaus, trotz des Mistrals, der mich umzuwerfen drohte. Der Blick war wundervoll. Wie ein prachtvolles Amphitheater stiegen die Paläste und Häuserreihen von Marseille im Osten am Gebirge empor; ein Mastenwald, mit den bunten Flaggen aller Nationen geschmückt, umsäumte ihre weißen Füße, welche die schöne Stadt in das blaue Meer tauchte. Rechts erhob sich aus der See die Insel Tribulon, deren zackige Contouren die Abendsonne vergoldete, links erschien der blaue Höhenzug, mit dem die starre Küste der Provence ins Meer steigt, in rosafarbenem Schimmer, und wenn ich mich umwendete nach Süden, blickte ich nach Afrika. In der Betrachtung des wunderbar schönen und großartigen Meerbildes versunken, überhörte ich das Brausen des Mistrals und vergaß, wo ich stand. Aber dann blickte ich auf die Steine unter meinen Füßen. Sie waren mit Inschriften und Namen bedeckt. Ich bückte mich und las die Namen der Juniinsurgenten, welche hier fünf Jahre gefangen gehalten wurden. Die Worte „22. 23. Juni 1848“ waren überall zwischen den Namen auf den weißen Steinen eingegraben. Es waren die Kampftage, an denen in Paris der Socialismus mit der Bourgeoisie focht. Schreckliche Erinnerung an jene Unglücklichen, welche Ferdinand Freiligrath so bezeichnend mit den Worten besingt: „Ihr vom Schicksalssturm am weitesten Getragnen, Ihr Junikämpfer von Paris, Ihr siegenden Geschlagnen.“ Und wo sind sie geblieben, die Unglückseligen?

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_187.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)