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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Das Räthsel des Tempels.
Von Johannes Scherr.
1. Der Tempel.

Paris ist jetzt ohne Frage die prächtigste Stadt des Erdballs. Aber das französische Volk hat es sich auch Etwas kosten lassen, das moderne Babel dazu zu machen; nur seit 1852 ist von Staatswegen die kolossale Summe von 235 Millionen auf die Verschönerung der Stadt verwendet worden, die ihrerseits zu demselben Zwecke einen mindestens ebenso großen Aufwand gemacht hat. Wenn heute ein Pariser aus den Tagen des vierzehnten Ludwig’s, oder des vierten Heinrich’s, oder gar einer aus dem fünfzehnten und vierzehnten Jahrhundert wiederkäme, er würde nur noch die Seine als dieselbe vorfinden, vorausgesetzt, daß er den Strom in Gestalt seiner dermaligen Eindämmung und Ueberbrückung wieder erkennen würde.

Und was Alles hat diese Stadt erlebt, seit sie aus der Residenz Julian’s des Abtrünnigen die Residenz Napoleon’s des Dritten geworden ist! Ein Gang durch Paris ist eine Wanderung durch die Geschichte Frankreichs; noch mehr, auch eine Wanderung durch die moderne Geschichte Europa’s. Die Herren Franzosenfresser mögen noch so grimmige Grimassen schneiden, es bleibt doch eine Thatsache: das Herz des menschheitlichen Organismus pulsirt seit 1789 in Paris. Dort hebt der Hammer zum Schlage aus, wenn wieder eine Weltstunde um ist. Die Despotenknechte von 1792 waren nicht so dumm, wie sie aussahen, als sie in dem „Manifest des Herzogs von Braunschweig“ alles Ernstes die Forderung aufstellten, daß Paris vom Erdboden weggetilgt werden sollte. Der Instinct des Hasses und der Furcht sagte ihnen, daß der Hahn der Freiheit dort immer wieder die Flügel schütteln und sein Auferstehungs-Kikeriki in die Welt schmettern würde. Aber jetzo – sagen händereibend die Lohnschreiber, Lakaien und Sbirren des Despotismus – jetzo ist endlich dem dreimal vermaledeiten Thiere der Hals napoleonisch umgedreht. Heuchler ihr! Die Angstfurche auf eueren Stirnen verräth euch. Bei Tag und bei Nacht raunt das böse Gewissen euch in die Ohren: „Der Hahnschrei wird doch wieder erschallen, wenn es Zeit!“

Denn Alles hat seine Zeit, und so hatte die ihrige auch jene mittelalterliche Glaubensbegeisterung, welche Hunderttausende und wieder Hunderttausende zur Eroberung und Behauptung des „heiligen Grabes“ aus dem Abendlande nach Palästina trieb, damit sie dort mehr oder weniger jämmerlich umkämen. Andere Hunderttausende, welche daheim blieben, entäußerten sich wenigstens großenteils oder auch ganz ihrer Habe zu Gunsten der Kämpfer für das heilige Grab, und so kam es, daß insbesondere die geistlichen Ritterorden, welche zu dem genannten Zwecke in Palästina entstanden waren, zu großem Reichthum, Glanz und Ansehen gelangten. Den übrigen zwei, den Hospitalitern und Deutschherren, weit voran stand der dritte, die Templer oder Tempelherren (templarii oder milites, fratres, commilitones templi), so geheißen, weil der erste Sitz des Ordens ein an den sogenannten salomonischen Tempel in Jerusalem stoßendes Gebäude war. Im Jahre 1118 gestiftet, war die Templerschaft schon dreißig Jahre später eine reiche und mächtige Corporation und zu Anfang des dreizehnten Jahrhundert besaß der Orden nicht nur in der Levante, sondern auch und weit mehr noch in sämmtlichen katholischen Ländern Europas eine Menge von Tempelhöfen, Balleyen, Comthureien und Präceptoreien, einen Besitz an Häusern, Burgen, Land und Leuten, wie er so ausgedehnt und stattlich keinem Fürsten der Christenheit als Domaine zu eigen war. Den meisten Reichthum und größten Glanz hatte jedoch die Templerei in Frankreich erworben, wo der „Tempel“ in oder vielmehr bei Paris für den eigentlichen Mittelpunkt des Gesammtordenslebens galt.

Von der Place de la Concorde zieht sich in einem grandiosen Bogen bis zur Place de la Bastille die Reihenfolge von Prachtstraßen hin, welche unter dem Namen der Boulevards bekannt sind. Bei der Porte St. Martin wendet sich dieser unvergleichliche Bogen in ziemlich scharf südöstlicher Schwingung dem Bastilleplatze zu und zwar zunächst unter dem Namen „Boulevard du Temple“. Hier stand zur Zeit der ersten französischen Revolution ein jetzt verschwundenes, d. h. völlig umgebautes Stadtquartier, dessen Mittelpunkt die alte, im Sinne des Mittelalters mächtige und prächtige Ordensburg „der Tempel“ gewesen ist. Die Anfänge der Erbauung dieses Schlosses, welches die Schlösser der gleichzeitigen französischen Könige an Räumlichkeit, Stärke und Pracht weit übertraf, fielen in die Regierungszeit Ludwig’s des Siebenten, welcher den Templern einen damals außerhalb der Stadtmauer gelegenen Bauplatz geschenkt hatte, ein sumpfiges Stück Feld vor dem Stadtthor St. Antoine. Mit derselben Raschheit des Aufschwungs, welche die ganze Templerei kennzeichnete, stieg aus diesem Sumpffeld der „Tempel“ empor, mit seinen Mauern, Bollwerken, Gräben und Thürmen eine beträchtliche Bodenfläche bedeckend oder umfassend. Die Burg war der Sitz des Großpräceptors von Francien, welcher Ordensbeamte dem Ansehen nach der dem Großmeister zunächst stehende gewesen ist, und hier wurden auch die großen Generalcapitel der sämmtlichen diesseits der Alpen angesessenen Templerschaft abgehalten, während welcher Versammlungen der Tempel häufig vielen Hunderten von Tempelherren und dienenden Brüdern („Servienten“) zur Herberge diente. Das Hauptgebäude der Ordensburg, der gewaltige viereckige Thurm, wurde erst im Jahre 1306 durch den Großpräceptor Jean-le-Turc vollendet.

Kaum war der Thurm vollendet, als König Philipp der Schöne, gegen welchen um seiner ewigen Steuererhebungen und Falschmünzereien willen die Bürger von Paris in Waffen sich erhoben hatten, darin eine Zuflucht fand. Die Templer schützten ihn und versöhnten ihm auch mittelst ihres großen Einflusses die aufständischen Pariser. Der König stattete in seiner Weise den pflichtschuldigen Dank ab – er verschwor sich mit seiner Creatur, dem Papst Clemens dem Fünften, zur Vernichtung des Ordens. Der Schuldigere von Beiden war hierbei jedenfalls der Papst. Denn Philipp der Schöne, ein entschlossener, rücksichts- und skrupelloser Arbeiter an dem großen Werke der Staatseinheit Frankreichs, konnte wenigstens zu seinem Gunsten anführen, daß die Austilgung der Templerei dieses Werk um einen beträchtlichen Ruck vorwärts brächte; der fünfte Clemens dagegen, von Amtswegen der geschworene Beschützer des Ordens, lieh nur aus infamer Habsucht und elender Feigheit seine Hülfe zur Zugrunderichtung desselben. Freilich, wie sollte ein Gefühl für Recht und Ehre, wie eine Regung von sittlichem Muth von einem Manne zu erwarten gewesen sein, welcher als einer der wahlverwandtesten Vorgänger Alexander’s des Sechsten in der Geschichte der „Statthalter Christi“ dasteht; von einem Papste, dessen zuchtlose Hofhaltung zu Avignon, Poitiers und Bordeaux selbst in jener gewiß nicht mit übermäßigem Zartgefühl behafteten Zeit jeden nicht ganz verdorbenen Besucher anwiderte; von einem Papste, welcher, dem Zeugniß eines der gebildetsten und ehrsamsten Kirchenfürsten des Mittelalters, des Erzbischofs Antoninus von Florenz zufolge, mit seiner „Freundin“, der reizenden Brunissente, Tochter des Grafen von Foix und Frau des Grafen von Talleyrand-Perigord, ganz öffentlich lebte, – so öffentlich, daß die „Freundin“ Sr. Heiligkeit nicht anstand, aus der päpstlichen Tiare die schönsten Diamanten ausbrechen und in ihre Armbänder fassen zu lassen! Auch „zur größeren Ehre Gottes“ vermuthlich!

Am 12. October von 1307 war König Philipp der Schöne mit seinem ganzen Hofe im Tempel zu Gast, – zu Gast bei dem Großmeister Jacques de Molay, welchen auf des Königs Wunsch der Papst tückischer Weise von der Insel Cypern nach Frankreich gelockt hatte, damit derselbe in das Verderben des Ordens verwickelt würde. Am Morgen des nächsten Tages sollte dieses Verderben anheben. Den Vorwand dazu mußten, wie Jedermann weiß, die „Verbrechen“ des Ordens hergeben, welcher allerdings durch Stolz, Hochmuth, Eigennutz und Ueppigkeit viel gesündigt hatte, allein der blasphemischen und sodomitischen Gräuel, welche die königlichen und päpstlichen Richter, d. h. Folterknechte und Henker, ihm schuldgaben, ganz gewiß nicht theilhaft gewesen ist.

Einhundert und vierzig Tempelbrüder, darunter verschiedene Großwürdenträger des Ordens, waren an jenem Octobertage im Tempel um den Großmeister versammelt, welcher den König bewirthete. Es ging hoch her in dem großen Thurm, allwo die Staatsgemächer sich befanden. Philipp der Schöne war huldvoll und heiter über die Maßen, und während er unter Scherzen mit Jacques de Molay und den übrigen Tempelgebietigern tafelte und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_216.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)