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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

unanfechtbar erhärtet, so würde darin ein höchst wichtiger, ja ein Ausschlag gebender Umstand gefunden sein. Allein die beigebrachten Briefe waren bloße Abschriften von zweifelhafter Authenticität. Die Originale der Briefe sollen im Jahre 1810 dem Justizrath Lecoq in Berlin anvertraut worden sein. Hat es zur genannten Zeit in Berlin einen Justizrath Lecoq gegeben und wäre es, im bejahenden Falle, nicht möglich, den Originalbriefen auf die Spur zu kommen?

Die Mitglieder des Sicherbeitsausschusses fanden bei ihrem am 13. Thermidor im Tempel abgestatteten Besuche einen „etwa neunjährigen“ Knaben vor, „unbeweglich, mit gekrümmtem Rücken, mit Armen und Beinen, deren ungewöhnliche Länge zu dem übrigen Körper in einem großen Mißverhältniß stand“. Dieser Knabe, der wahre oder ein falscher Dauphin, war zwar im Besitze des Gehörs, nicht aber der Sprache, die Besucher vermochten ihm kein Wort, keine Sylbe zu entlocken. Dieser Thatsache widerspräche freilich die Angabe von einem Besuche, welchen nicht lange nach dem 9. Thermidor Barras in eigener Person dem kleinen Gefangenen abgestattet haben soll. Bei dieser Gelegenheit habe der Knabe mit Barras gesprochen. Allein diese ganze Geschichte von dem Barras’schen Besuche ist als gänzlich unerwiesen abzuweisen. Am 9. November von 1794 gab man dem Wächter Laurent einen Gehülfen in der Person eines gewissen Gomin, welcher den Dauphin, den wahren nämlich, früher nie gesehen hatte. In späterer Zeit freilich, nachdem ihn die Herzogin von Angoulème zum Castellan ihres Schlosses Meudon gemacht hatte (1814), hat er behauptet, er habe in dem Knaben im Tempel den Sohn Ludwig’s des Sechszehnten erkannt, welchen er früher oft gesehen gehabt. Allein da man weiß, wie feindselig die Herzogin stets gegen die Ansicht, ihr Bruder sei nicht im Tempel gestorben, sich erwiesen hat, so verdient die eben berührte Aussage Gomin’s gar keinen Glauben.

Im genauen Verhältniß zum augenfälligen Vorschritt der royalistischen Reaction oder wenigstens Reactionsstimmung im Herbst und Winter von 1794 richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit mehr, als bis dahin geschehen war, auf den kleinen Gefangenen im Tempel. Auch der Convent beschäftigte sich daher mit demselben. Am 28. December stellte Lequinio in der Conventssitzung den Antrag, „mittelst Verbannung des gefangenen Prinzen den Boden der Freiheit von der letzten Spur des Royalismus zu reinigen.“ In dem Bericht, welchen Cambacérès über diesen Antrag erstattete, beantragte er Verwerfung desselben, d. h. fernere Gefangenhaltung des Dauphin, was beschlossen wurde. In der Debatte äußerte Brisal die Brutalität: „Ich wundere mich, daß man bei allen den unnützen Verbrechen, welche vor dem 9. Thermidor begangen worden sind, die Ueberbleibsel einer unreinen Race verschont hat.“ Worauf Bourdon: „Es giebt keine nützlichen Verbrechen! Ich verlange, daß der Vorredner zur Ordnung gerufen werde.“ Großer Beifall. „Ich rufe selber mich zur Ordnung,“ sagte Brisal.

Zur selben Zeit kränkelte der kleine Gefangene mehr und mehr und auf die Meldung der Wächter, daß sein Siechthum zunähme, schickte die Commune eine Abordnung in den Tempel, welche dann den amtlichen Bericht erstattete, daß „der kleine Capet an seinen Hand- und Fußgelenken, insbesondere an den Knieen, geschwollen sei, daß es unmöglich, auch nur ein Wort von ihm zur Antwort zu erhalten, daß er seine ganze Zeit entweder im Bette oder auf dem Stuhle zubringe und nicht zu vermögen sei, sich irgendwelche Bewegung zu machen.“ Durch diesen Bericht beunruhigt, wie es scheint, sandte der Sicherheitsausschuß am 27. Februar von 1795 die drei Conventsmitglieder Harmand, Mathieu und Reverchon in den Tempel, um das Befinden des kleinen Gefangenen zu erkunden.

Die drei Genannten fanden den Knaben an einem Tische sitzend und beschäftigt, mit Karten zu spielen. Er gab beim Eintritt der Deputirten sein Spiel nicht auf. Harmand setzte ihm den Zweck dieses Besuches auseinander und daß er und seine Collegen bevollmächtigt seien, ihm jede Erleichterung und Zerstreuung zu bewilligen. Das Kind schaute den Sprecher aufmerksam an, gab aber keine Antwort; nicht eine Sylbe entfiel seinen Lippen. Harmand sagte: „Ich beehre mich, Sie zu fragen, Monsieur, ob Sie ein Pferd, einen Hund oder Vögel und anderes Spielzeug, ob Sie vielleicht auch einen oder mehrere Spielcameraden von Ihrem Alter wünschen? Wollen Sie im Garten spazieren geben oder auf die Plattform des Thurmes steigen? Wollen Sie Bonbons und Kuchen?“ Keine Antwort. Harmand stellte sich an, als vertauschte er das gütige Zusprechen mit einem befehlenden. Umsonst, keine Antwort. Harmand versuchte, den Knaben dadurch zum Sprechen zu bringen, daß er demselben vorstellte, sein Schweigen mache es ja den Commissären unmöglich dem Gouvernement Bericht zu erstatten. Vergebens, der Knabe blieb stumm. Aber taub war er nicht. Auf Harmand’s Wunsch gab er diesem sogleich die Hand. Auch auf Trotz und Tücke konnte sein Schweigen nicht zurückgeführt werden. Denn mit Ausnahme des Sprechens that er unweigerlich Alles, was man von ihm verlangte. Höchlich verwundert fragte Harmand, bevor er mit seinen Collegen den Tempel verließ, die beiden Wächter, welcher Ursache denn wohl diese außerordentliche Schweigsamkeit zuzuschreiben sei. Laurent und Gomin versicherten, wie Harmand in seinem Berichte bemerkt hat – daß der Prinz seit dem Abend jenes 6. Octobers von 1793, wo er durch den ruchlosen Hébert verlockt und gezwungen worden, die bekannte namenlose Schändlichkeit gegen seine Mutter Marie Antoinette auszusagen, niemals wieder den Mund zum Reden aufgethan habe.

Aber Laurent und Gomin hatten sich damals, im October 1793, noch gar nicht im Tempel befunden und ihre Aussage hat also nur insofern Werth, als sie angiebt, der Gefangene habe sich seit dem Eintritt der Beiden in das Wächteramt stumm verhalten. Die angeführte Erklärung des prinzlichen Stummseins ist übrigens reiner Blödsinn. Der Dauphin konnte darüber, daß er sich durch Hébert jene schmutzige Aussage hatte entpressen lassen, unmöglich eine so verzweiflungsvolle Reue empfinden, weil er jene ihm durch Hébert auf die Zunge gelegte Aeußerung weder in ihrem Wesen noch in ihrer Tragweite hatte verstehen können. Und welcher Mensch von gesundem Menschenverstand wird glauben können, daß ein Kind von neun Jahren plötzlich den Entschluß fassen und mit eiserner Energie bis zu seinem letzten Athemzug durchführen konnte, niemals wieder ein Wort zu sprechen? Nonsens! … Aus alledem geht also hervor: Harmand und seine Collegen fanden am 27. Februar von 1795 im Tempel einen stummen Knaben, während constatirter Maßen die Sprachorgane des Dauphin ganz in der Ordnung gewesen waren.

Zu Anfang Aprils trat an die Stelle des Laurent ein neuer Wächter und Wärter, ein gewisser Lasne. Dieser spielte später eine wichtige Rolle in der Meinung Solcher, welche glaubten oder wenigstens Andere glauben machen wollten, der echte Dauphin sei im Tempel gestorben. Lasne behauptete nämlich, der kleine Gefangene sei nicht stumm gewesen. Aber das Zeugniß dieses Menschen ist im höchsten Grade verdächtig; erstens deshalb, weil er sich, gerichtlich vernommen, total widersprochen hat, indem er im Jahre 1834 angab, der Prinz habe Tag für Tag mit ihm geplaudert, im Jahre 1837 dagegen, er habe den Prinzen nur ein einziges Mal und auch da nur wenige Worte reden gehört. Zweitens deshalb, weil die Aeußerungen, welche Lasne, seiner Aussage von 1834 zufolge, aus dem Munde des gefangenen Kindes vernommen haben wollte, unmöglich von diesem herrühren konnten. Pascal oder Montesquieu hätten sich, in die Lage des kleinen Gefangenen versetzt, nicht weiser und tiefsinniger ausdrücken können. Ein neunjähriges, krankes, seit Jahren allem Unterrichte, sogar allem Umgange entzogenes Kind konnte nicht so philosophisch reden; es ist schlechterdings undenkbar.

Aber wir müssen unsere Schritte wieder um Etwas zurücklenken, um dann mit logischer Sicherheit weiter vorgehen zu können… Der Bericht, welchen Bürger Harmand dem Sicherheitsausschuß, d. h. der höchsten Polizeibehörde der Republik, erstattete, wurde geheim gehalten und hatte für den jungen Gefangenen keine Folgen. Seine Lage blieb ganz dieselbe. Es scheint aber fast, als hätte Harmand durchblicken lassen, daß er in dem verwachsenen, skrophulösen und stummen Knaben den Dauphin, welcher notorischer Maßen ein gesunder, wohlgestalteter und aufgeweckter Junge gewesen war, nicht erkannt habe und daß er so unvorsichtig ehrlich gewesen sei, den thermidorischen Machthabern, welche damals vom Wohlfahrts- und vom Sicherheitsausschuß aus Frankreich regierten, zu merken zu geben, daß hier ein Geheimniß vorläge, welches aufgeklärt werden müßte. Auffallend ist jedenfalls die Thatsache, daß man sich beeilte, den Bürger Harmand rasch von der Bühne verschwinden zu lassen: wenige Tage nach seinem Besuch im Tempel wurde er als Commissär

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_231.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)