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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)


im Tempel gefunden hatte, sich erbot, über die Entführung des Dauphin wichtige Mittheilungen zu machen, verschwand der Mann, nachdem ein hoher Hofbeamter ihn mehrmals besucht hatte, plötzlich und ist nie wieder zum Vorschein gekommen. Höchst auffallend war auch die Gleichgültigkeit, welche die königliche Familie nach der Restauration gegen die Ueberreste und das Andenken Ludwig’s des Siebzehnten an den Tag legte. Bekanntlich führte man im Jahre 1815 eine große Haupt- und Staatskomödie auf mit der angeblichen Auffindung und Ausgrabung der Gebeine Ludwig’s des Sechzehnten und seiner Frau. Der Erzphantast Chateaubriand ging bei dieser Gelegenheit in seinem romantischen Delirium so weit, zu schreiben, man habe den Todtenschädel Marie Antoinette’s an dem unvergleichlich graziösen Lächeln wiedererkannt, welches der Königin eigen gewesen sei, und dieser grauenhafte Blödsinn fand vielen Beifall. Die romantisch-restaurative Gebein-Auffindungs-Posse – denn weiter war es Nichts, da die wirklichen Gebeine des Königs und der Königin unmöglich mehr aufgefunden werden konnten – bestimmte aber den Pfarrer von Sainte-Marguerite, Lemercier, die Auffindung der Gebeine des Dauphins in Vorschlag zu bringen. Er behauptete, die Todtengräber hätten im Jahre 1795 zwar den Sarg mit dem Leichnam des Prinzen zuerst in die allgemeine Grube gestellt, aber den heimlich mit Kreidestrichen bezeichneten in einer der folgenden Nächte wieder aus der großen Grube herausgenommen und neben der vom Kirchhof in die Kirche führenden Thür begraben. Der Pfarrer wandte sich mit seinem Anliegen an die Herzogin von Angoulème, von welcher er erwarten durfte und mußte, daß sie ihm eifrig beistimmen und behülflich sein würde. Allein der gute Mann ging fehl. Die Herzogin wies die Sache entschieden von der Hand.

Diese Prinzessin, Napoleon’s bekanntem Ausspruche zufolge „der einzige Mann in ihrer Familie“, war nichts weniger als sentimental, und es begreift sich leicht, daß sie es nicht war und nicht sein konnte. Die Gluth der Schmerzen, welche sie in ihrer Jugend zu erdulden gehabt, hatte ihr Herz zu Stein gebrannt. In der That, sie hat zur Restaurationszeit bei verschiedenen Gelegenheiten eine wahrhaft steinerne Fühllosigkeit kundgegeben, wofür ich als Beleg einen in Deutschland wenig oder gar nicht bekannten Zug anführen will. Am 11. August von 1792 hatte sich die in das Sitzungslocal der Nationalversammlung geflüchtete königliche Familie in einem Zustande völliger Mittellosigkeit befunden. Kaum erfuhr dies eine der gewesenen Kammerfrauen Marie Antoinette’s, Frau Auguié, als sie sich beeilte, ihrer bedürftigen Herrin fünfundzwanzig Louisd’or von ihren Ersparnissen zu überbringen. Diese Großmuth der Dienerin kam fünfzehn Monate später beim Proceß der Königin vor dem Revolutionstribunal zur Sprache. Befragt, wer ihr die fünfundzwanzig Goldstücke gegeben hätte, nannte Marie Antoinette den Namen der Frau Auguié. Sofort wurde infamer Weise ein Haftsbefehl, das will sagen, ein Todesurtheil, gegen die treue Dienerin erlassen. In dem Augenblicke, wo die Häscher in ihre Wohnung traten, stürzte sich die Unglückliche zum Fenster hinaus und blieb auf der Stelle todt. Eine ihrer Töchter wurde später die Frau des Marschalls Ney. Als dieser nach der zweiten Restauration, allerdings mit Recht, processirt und verurtheilt wurde, konnte es die Herzogin von Angoulème der Bitterkeit ihres Hasses nicht abgewinnen, ein Wort der Fürbitte für den Gatten einer Frau einzulegen, deren Mutter um ihrer Mutter willen gestorben war!

Die Prinzessin also wies den Pfarrer von Sainte-Marguerite mit seinem Anliegen ab, vorgebend, „die Lage der Könige sei furchtbar und sie dürften und könnten nicht Alles thun, was sie wollten.“ Gerade zu dieser Zeit aber haben bekanntlich die Bourbons Alles gethan, was sie wollten, auch das Dümmste und Unverantwortlichste, was nur immer eine rasende Reactionspartei ihnen eingab. Die Wahrheit ist, der Hof wollte, wie von dem Dauphin überhaupt, so auch von seinen angeblichen Ueberresten schlechterdings nichts wissen und hat jeden Versuch, auf eine Untersuchung der räthselhaften Umstände, welche das Leben und den angeblichen Tod des Prinzen im Tempel begleitet hatten, zurückzukommen, beharrlich und erfolgreich zu vereiteln gewußt.

Und aber, fragt der Leser, was ist das Ergebniß dieser langen Erörterung?

Ein ungelöstes Räthsel! Denn ich gestehe zwar für meine Person ohne Rückhalt, daß ich entschieden der Ansicht zugeneigt bin, der am 8. Juni von 1795 im Tempel verstorbene Knabe sei nicht der Dauphin, sondern ein diesem untergeschobenes Kind gewesen; allein diese subjektive Ueberzeugung entbehrt selbstverständlich des objectiv-historischen Werthes, so lange nicht nachgewiesen, beweiskräftig nachgewiesen ist, was denn im Falle seiner Rettung aus dem Tempelgefängniß aus dem Prinzen geworden. Jeder bislang gemachte Versuch, diese Frage mit Bestimmtheit zu beantworten, hat sich als unzulänglich, wenn nicht gar als Charlatanerie, als unbewußter oder auch als bewußter Betrug herausgestellt. Von den als Ludwig der Siebenzehnte Aufgetretenen hat Keiner, wie ich nach sorgfältiger und wiederholter Prüfung der von ihnen vorgebrachten Behauptungen und Ansprüche versichern kann, seine Identität mit dem Dauphin auch nur bis zum Grade der Wahrscheinlichkeit erwiesen. Am meisten von seinem Rechte überzeugt scheint der Uhrmacher Naundorff gewesen zu sein. Die Möglichkeit einer befriedigenden Antwort auf die Frage: Was ist aus dem Dauphin nach seiner Entführung aus dem Tempel geworden? könnte nur die Aufspürung, Bloßlegung und Verfolgung aller der fast zahllosen Intriguenfäden, welche zwischen den emigrirten Bourbons und ihren Anhängern in und außerhalb Frankreichs hin- und herliefen, an die Hand geben. Eine langwierige, schwierige und höchst unerquickliche Arbeit, die von Wissenden nur allenfalls ein solcher unternehmen möchte, welcher schlechterdings nichts Besseres zu thun weiß. Denn was könnte er im glücklichen Falle für ein Resultat gewinnen? Die Befriedigung einer müßigen Neugier, weiter nichts. Laßt die Todten ihre Todten begraben!





Unter deutschen Officieren in Amerika.
Erinnerung aus dem Hauptquartiere des General Blenker.


Es war an einem Octobertage in den ersten Jahren des Krieges. Die Sonne sandte ihre hellen Strahlen über die waldbedeckten Hügel auf die weißen Zeltreihen unseres Lagers. Ein kleiner Gebirgsbach stahl sich, in dunkles Gebüsch von blumenreichen Schlinggewächsen versteckt, am Fuße der Höhen um die Lagerstätten hin; eine Mühle in Trümmern, welche dem Platze den Namen Roach-Mills verlieh, gab trauriges Zeugniß von den Verwüstungen des Bürgerkrieges; auf einem großen, dunklen Holzgebäude, die Factory genannt, zu welchem Washington selbst, der in der Nähe seine väterliche Besitzung hatte, den Grundstein gelegt, wehte das Sternenbanner der Union. Im fernen Hintergrunde gegen Nordost sah man die vergoldete Riesenkuppel des Capitols, zu deren symbolischer und wirklicher Vollendung nichts mehr fehlte, als die kolossale bronzene Statue der Freiheit, welche sie jetzt schmückt; im Südwest entdeckte ein geübtes Auge auf einem mit Wällen gekrönten Hügel (Munson Hill) die Fahne der Rebellen. Sie wehte stolz, höhnend und herausfordernd im Angesicht des Capitols und der zahlreichen Heerschaaren, welche M’Clellan damals für die weitere Entwickelung des blutigen Dramas zu organisieren begann.

Im Lager selbst war ein buntes, belebtes Treiben. Ein langer Zug vierspänniger Wagen mit weißen Planen und schwarzen (Neger-)Fuhrknechten wand sich mühsam durch die bodenlosen Wege zu der benachbarten Bäckerei, wo täglich zehn- bis zwölftausend Laibe deutsches Brod, halb Roggen, halb Weizen, in improvisirten Feldöfen gebacken wurden. Auf den Zwischenräumen der einzelnen Regimentslager standen Marketender-Zelte, welche dem wohlgenährten Soldaten Alles boten, was das Herz verlangen konnte, vom rothbäckigen Apfel und dem saftigen Pfirsich bis zum verbotenen Branntwein und erlaubten Lagerbier. Hier und dort sah man auch eine hochgeschürzte Marketenderin aus dem polyglotten Garibaldi-Regimente, deren lautes Lachen auf den grünen Höhen der Nachbarschaft und in den Herzen der muthwilligen Soldaten sein Echo fand.

Im Mittelpunkte dieser belebten Scenerie lag das Hauptquartier des General Blenker, an einem Platze, der mit ebensoviel

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 233. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_233.jpg&oldid=- (Version vom 14.4.2022)