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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Wir saßen eben beim Kaffee, als er eintrat. Ohne eine Minute zu verlieren, denn die Zeit drängte, standen vier der ehrwürdigen „Väter“ von ihrem Mahle auf, um zunächst ihre Kleidung zu einem Kampf mit den Elementen geschickter zu machen. Zwei der Chorherren schnallten sich Ranzen mit den nöthigen Provisionen auf den Rücken, der dritte versah sich mit einem starken Seil und der vierte schulterte eine handfeste Axt, mit der erforderlichen Falles Stufen in das Eis gehauen werden sollten.

Mit höchster Spannung sah ich den Vorbereitungen zu, mit denen man sich auf das Liebeswerk rüstete; ich brannte vor Verlangen, der Expedition mich anzuschließen, mochte mich aber nicht ohne Weiteres zum Begleiter anbieten, weil ich aus eigner Erfahrung weiß, welch’ gerechtes Bedenken der geschulte Alpengänger trägt, Jemanden an gefährlichen Unternehmungen Theil nehmen zu lassen, von dessen Bergtüchtigkeit ihn noch keine Proben überzeugt haben.

Pater Christoph, dessen freundliche Zuvorkommenheit mancher Tourist in dankbarer Erinnerung hegen wird, schien zu ahnen, was in mir vorging.

„Der Herr ist jedenfalls kein Neuling in Gletscherfahrten,“ frug er, „und hilft uns wohl die Unglücklichen aufsuchen?“

Man kann sich denken, daß ich Ja sagte und versprach, in fünf Minuten zum Abmarsch bereit zu sein.

Die Klosteruhr hatte eben acht Uhr geschlagen, da uns die Nachricht von dem Begebniß wurde, und noch war es nicht halb neun, als wir über die Eisdecke des Sees den Südabhang des Berges hinabschritten. Zwei der berühmten Bernhardshunde trotteten neben uns her; ihr ganzes Thun und Gebahren wollte indeß nicht recht der Vorstellung entsprechen, die in meiner Einbildung von diesen Thieren lebte. Mir schwebte nämlich jenes bekannte Bild vor, auf welchem eine Bernhardsdogge zu sehen ist, wie sie, eine Weinflasche und einen Speisekorb um den Hals, mit ihren Pfoten den Schnee aufscharrt, unter dem sie einen verschütteten Menschen ausgewittert hat. Ich äußerte mein Befremden über das Benehmen der Hunde.

„Zum Auffinden Verunglückter sind unsere Hunde in der That nichts weniger als geeignet,“ erwiderte der mir zur Seite gehende Pater; „ihre Function, und das ist eine sehr wichtige, besteht vielmehr darin, den rechten Paßpfad aufzuspüren, wenn dieser vom Schnee verweht ist; hierin aber leisten sie Außerordentliches und haben nirgends Ihresgleichen.“

Glücklicher Weise war die Kälte in der letzten Zeit sehr stark gewesen, so daß sich’s auf dem festen knirschenden Schnee ziemlich leicht marschirte, denn nichts ermüdet mehr, als wenn man bei jedem Schritte knietief in die weiße Winterdecke einsinkt. Die Scenerie, die uns umgab, war groß in ihrer Wildheit. Schwere Wolken strichen tief zu unsern Füßen, jetzt wie toll durcheinander treibend, jetzt langsam kriechend dahinziehend, und ungestüme Windstöße peitschten uns ab und zu den kalten Schnee in das Gesicht, daß wir zu erblinden fürchteten und Ohren und Nasen uns schmerzten, als würden sie von spitzen Nadeln bearbeitet.

„Eigentlich ist’s nicht der Brauch,“ begann Pater Christoph, „daß wir Väter selbst die verirrten Reisenden aufsuchen gehen; diese pflegen in der Regel in dem kleinen Zufluchtshause nahe bei der Cantine von Proz oder unweit St. Remy zu warten, bis einer unserer Knechte, ein sogenannter Marronnier, mit einem Hunde zu ihnen hinabkommt und sie den letzten gefährlichsten Stieg zum Hospize heraufgeleitet; in Fällen wie der heutige aber machen wir eine Ausnahme, da ist es nothwendig, daß unser soviel als möglich sich auf den Weg begeben, um nach allen Seiten Nachforschungen anstellen zu können. Gott sei Dank, daß der Himmel leidlich klar ist; so denke ich, werden wir bald auf die Armen stoßen, – wenn sie unserer Hülfe überhaupt noch bedürfen. Hier oben auf unserm Berg tritt der Tod den Menschen noch schneller an, als anderswo.“

Er schwieg, auch wir Anderen zogen in ernsten Gedanken schweigend fürbaß, bis wir – es mochte gegen 10 Uhr sein – das Zufluchtshaus erreichten. Hier hatte sich ein Trupp von etwa fünfundzwanzig Leuten, Männern und Weibern, zusammengedrängt, die sehnsüchtig der Escorte nach dem Kloster harrten. Einer der Mönche blieb als Führer der Karawane zurück, wir Uebrigen marschirten weiter der Sennhütte zu, in der Richtung des nach mehr nach Osten hinüber gelegenen Col de Fenêtre. Die Vermißten, Mann und Frau, waren aus dem Val de Lys gebürtig, einem der prachtvoll umrahmten Thäler, welche sich an den Südfuß des Monte Rosa schmiegen. Seit undenklichen Zeiten haben die Bewohner dieses Thals sich von allem engern Verkehr mit ihren Nachbarn möglichst fern gehalten und gewissermaßen ein Völkchen für sich gebildet. So mochten denn allerhand Neckereien unter dem Reisezuge gefallen sein, Sticheleien hüben und drüben, und unser Pärchen, das sich der Ueberzahl natürlich nicht gewachsen fühlte, beschloß sich von den Anderen abzusondern und jene einsame Viehhütte zum Nachtquartier zu erwählen.

Nach einer halben Stunde großer Strapazen langten wir an der Sennte an, indeß der Augenschein lehrte, daß seit Wochen kein anderes Wesen in ihr gehaust hatte, als Murmelthiere, von denen einige mit der halb schleichenden halb hüpfenden Bewegung, die ihnen eigenthümlich ist, das Weite suchten, als wir uns näherten. Wir vertheilten uns und begannen, um waidmännisch zu sprechen, ringsum das Terrain abzusuchen, uns hauptsächlich auf der Seite der Felsen haltend, welche gegen den Anprall des Windes Schutz gegeben hatten, weil wir hier am Ersten noch die Spuren der Vermißten unverweht vom Schnee zu entdecken hoffen durften. Pater Christoph ließ noch ein wahrhaft höllisches Gebrüll los, welches einen Oberländer Jodler vorstellen sollte – aber keine Menschenstimme antwortete, nur das Echo trug den Schall von Zinke zu Zinke, bis er tief unten in den Schluchten des Gebirges langsam erstarb. Dann ward ein Punkt, eine Viertelstunde abwärts, zum gemeinschaftlichen Rendez-vous ausersehen, denn was in den tieferen Regionen Schnee, das war höher hinauf jedenfalls festes Eis und von Spalten und Schrunden durchsetzt, so daß es Gefahr hatte, sich allein und ohne das helfende Seil weiter vorwärts zu wagen.

Wir gingen aus einander, wir streiften und suchten – nichts, nichts, keine Fußstapfen, keine Menschen. Schon trafen wir Einer nach dem Anderen schweren Herzens an dem bestimmten Sammelplatz wieder ein, nur der Vierte fehlte noch, da gellte ein Schrei, der die Luft erschütterte. Wir schauten auf, links auf einer Felskuppe stand unser vierter Mann und producirte allerhand Bewegungen und Körperschwenkungen, welche wir nur als eine Appellation an unsere Hülfe auslegen konnten. Eilends schritten wir ihm zu, – und, Gott im Himmel, da sahen wir sie, die wir suchten, gerade zu Füßen des Mönches, – aber tief in einem Eisschrunde. Wie nun bis zu ihnen hinunter gelangen? Das war eine Aufgabe, die all’ unsere Geschicklichkeit und Kraft in Anspruch nahm.

Der junge Pater war auf seiner Streife an die Stelle gelangt, wo der Gletscher mit den Felsen zusammenstieß, über die bisher unser Weg gerichtet war; hier konnte er nicht weiter, denn ein tiefer Schlund gähnte zu seinen Füßen, den auf der einen Seite eine fast steilrechte Steinwand, auf der andern der Eiswall begrenzte, welcher sich in einem Winkel von gewiß fünfundsechzig Grad hinabsenkte, – daß unten in der kalten Spalte, sechzig Fuß tief unten in der grausigen Enge, entdeckte er die Verirrten. O Freude, – sie lebten noch! Gott sei Dank! es schien auch keiner der Beiden ernstlich verletzt zu sein, nur die grimme Kälte mochte ihnen arg zugesetzt haben, so daß sie nicht mehr die Kraft und Beweglichkeit behalten hatten, sich aus ihrer qualvollen Lage zu befreien. Wir überzeugten uns, daß von der Felsseite aus nichts zu unternehmen war, von hier aus konnten wir den Unglücklichen nicht beikommen; also rasch am Rande des Schrofens hin, um, den Spalt umgehend, den Gletscher zu erreichen. Ein langer Umweg das, allein ein Ueberspringen des Schlundes lag außer dem Bereiche der Möglichkeit, und den verschiedenen Schneebrücken, die über die Spalte führten, durfte nicht getraut werden.

„Die da hält“, rief Pater Christoph und setzte kühn den Fuß darauf. Kaum aber die Mitte passirt, krach! da bricht der Damm zusammen und ohne das Seil, das um seine Hüften geschlungen war, dürfte der barmherzige Samariter wenig Aussicht gehabt haben, sein Hospiz jemals wieder zu sehen. Endlich – ich litt nicht wenig dabei, denn ich marschirte als Zweiter und jeder Ruck an dem Seile schnürte mir die Taille zusammen – hatten wir ihn wohlbehalten wieder heraufgelootst, weiter ging es und in kurzer Zeit standen wir am Ziele.

O weh, – unser Seil war um mindestens fünf Ellen zu kurz, um bis auf den Boden der Schlucht zu reichen. Rasch denn zur Axt gegriffen! Abwechselnd hieben wir in das Eis, tief genug,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_250.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)