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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Die Krone der Leipziger Winterfeste.

Wenn im Dörfchen der Schnee die Gassen und Dächer bedeckt, am Brunnenrohr die langen Eiszapfen und an den Fensterscheiben die Eisblumen glitzern, sammelt beim Holzspahnlichte die Traulichkeit Alt und Jung um den Spinnrocken der Weiber und Mädchen. Da schäkert die Jugendlust, da rauscht noch frisch und rein der alte Born der Volkslieder, da erzählt der Großvater den lauschenden Jungen Geschichten aus seinem Leben und aus alter Zeit; aber der Gipfel der Freude wird doch erst erreicht, wenn das Großmütterlein den wundervollen Schatz der Märchen erschließt. Ja, wenn das Großmütterlein beginnt mit „Es war einmal“, wie stille es da selbst hinter der Hell am Ofen wird, wo die Verliebten und Verlobten flüsterten! Das Reich der Dichtung thut sich auf, erfüllt mit unheimlichen und mit liebenden Geistern, das Ungeheuerliche gießt seine Schauer aus, Schrecknisse und Gefahren thürmen sich auf um die Liebe und die Schönheit, die um so rührender erscheinen in der argen Bedrängniß; aber wie weitet das beklemmte Herz sich aus, wie athmen Alle auf, wenn Liebe und Schönheit endlich dennoch siegen trotz Zauberern, Riesen und Drachen; denn die redlichen deutschen Märchen lassen keinen Gerechten im Unglück enden. Und wenn am guten Ende ja ein Bedauern laut wird, so ist’s gewiß nur das: Wie schade, daß es schon aus ist!

So ist’s auf dem kleinsten Dorfe, und so ist’s auch in den größten Städten unseres Vaterlandes, nur die Formen sind andere, in denen dasselbe geistige Bedürfniß seine Befriedigung findet. Aus den Schäkereien hinter der Hell werden die Freuden der Salons, der Kränzchen, der geschlossenen Gesellschaften; der Gesang der Volkslieder verwandelt sich in die Genüsse der Oper; die Erzählung des Großvaters in die Vorlesungen und Vorträge gelehrter und berühmter Männer; aber will die große vornehme Welt der Städte einmal etwas ganz Besonderes haben, so hält auch sie sich an unser Märchen, nur daß sie es umgiebt mit all der Pracht und Herrlichkeit, welche einzig durch das innige Zusammenwirken aller schönen Künste in’s Leben zu rufen sind.

Ein solches Fest war es, zu dem wir am 21. Januar dieses Jahres der Einladung des Leipziger Künstlervereins folgten, der dasselbe veranstaltet hatte. Letzteres verrieth uns übrigens schon die geschmackvoll illustrirte Eintrittskarte, auf welcher wir das schöne Dornröschen und ihren Sigurd, die gute und die böse Fee, die Gnomen und eine Burg im Hintergrunde abgebildet sahen. Wir lasen darauf: „Dornröschen. Märchendichtung mit Musik und lebenden Bildern“; ferner: „Tafel“ und „Tanzordnung“ und wußten nun genug, um uns sofort zum Festlocal, dem Schützenhause mit seinen großen und glänzenden Räumen zu begeben, und zwar mit dem festen Vorsatz, ohne irgendwelche störende und nergelnde Kritik den Gaben jeder der mitwirkenden Künste ein offenes Herz entgegen zu bringen. Und mit diesem Entschlusse folge uns nun der Leser in die freudige Rückerinnerung an dieses Fest.

Mit dem ersten Schritt in den Corridor des Parterre lassen wir den Winter hinter uns, Frühling und Mittelalter begrüßen uns; aus Rosenbüschen schauen die plastischen Figuren und Gruppen hervor, welche Corridor und Treppen zieren, mit Hellebarden und Schwertern bewaffnete Knappen empfangen uns und Herolde geben uns das Geleit in den Saal, wo die schönste Flora dieser Welt, ein Damenflor im höchsten Schmuck, das Auge fesselt. Gegenüber dem Eingang nimmt die Bühne die ganze Wand ein, von deren Vorhang die hochragende Dornburg uns entgegentritt, ein Meisterstück der Dekorationsmalerei. Es ist uns nicht verwehrt, sie uns an dieselbe Stelle zu denken, wo einst eine Kaiserpfalz sich in den Fluthen der Saale spiegelte und unsere Kaiser Otto I., Otto II. und Heinrich II. die Großen des Reichs um sich versammelten.

Kopf an Kopf füllt den Festraum, auch fürstliche Gäste und mancher Mann mit gefeiertem Namen. Es herrscht die rechte Andacht vor der Wunderwelt, in welche die vereinten Künste uns führen wollen.

Plötzliche Stille – die Tonkunst eröffnet den Reigen mit der Ouverture zu Karl Reinecke’s „Dame Kobold“. An sie schließt sich die für das Feststück eigens componirte Musik an. Trompetenfanfaren rufen den Vertreter der Dichtkunst hervor, den mit grünem Kranz geschmückten Minnesänger, dessen Weihegedicht uns bis an das Märchen hinanführt. Die Musik übernimmt es dann, die Traumwelt, welche uns der Vorhang verbirgt, in edlen Tonwellen vor unserem Geist vorüberschwimmen zu lassen.

Und nun treten wir, vom Minnesänger geleitet, in sie ein. Die Dichtung preist die Pracht der Burg und die Gastlichkeit ihrer Hallen; nur ein Glück ersehnt das fürstliche Paar vergebens: ein Kind. Da wohnt am Fuß des Burgfelsens in einem klaren Quell eine gute Wasserfee, die gern den Bedrängten hilft. Zu ihr steigt in stiller Nacht die trauernde Fürstin hernieder, wir hören ihre Klage und plötzlich steht sie vor uns: der Vorhang hat sich erhoben zum ersten Bild. Sie steht am Zauberbronnen, aus dem die gute Fee sich erhebt und ihr „ein wonniges Mägdlein“ verheißt. Aber im wilden Forst hauset die böse Waldfee, behütet und bedient von kleinen braunen Gnomen, den Dornenknappen. Sie eilt zum Zauberbrunnen und verheißt dem Kinde ihren Fluch. Die Musik hat das Bild melodramatisch verkündet: wir hörten das dumpfe Brausen des Quells, die steigende Fluth und ihr liebliches Verrieseln im Thal.

In der Burg gesellt sich zur Pracht die Freude: das Kind ist geboren, der glückliche Vater hat, umringt von seinen Rittern und ihren edlen Frauen, ihm den Namen Rosamunde gegeben. Kaum ist der Festgesang der Gäste verhallt, so hören wir den Zauberspruch der bösen Fee, daß das Mägdlein einst vom Stich einer Spindel in tiefen Schlaf versinken soll. Doch auch die gute Fee ist nicht fern; sie verheißt tröstend, daß dieser Zauberschlaf nicht länger dauern soll, als hundert Jahre. Der Vorhang geht auf für’s zweite Bild. Wir sehen die Festhalle, das fürstliche Paar auf dem Throne, die Ritter, Frauen, Pagen und Diener im Kreise, Alle schreckenstarr, denn bei dem Kinde in des Saales Mitte stehen die beiden Feen – ein Bild voll tiefster Erregtheit.[1]

Nun weilt in der Burg bei der Freude die Sorge. Um den Zauberspruch der bösen Fee zunichte zu machen, verbot der Fürst alle Spindeln in seinem Lande. Das Kind entfaltet sich zur blühenden Jungfrau, zum Ebenbild der schönen Mutter. Siebzehn Male hatten ihr die Rosen geblüht, da, an einem festlichen Tage, während die Schaar ihrer Freier ihr Lob sang, ging sie in der Burg allein umher und hört plötzlich aus dem höchsten Thurmgemach ein wundersames Lied. Sie steigt empor und erspäht durch eine Ritze der Thür eine graue Alte, die mit der dürren Rechten ein glänzend Ding lustig drehte und vor sich auf dem Boden springen ließ. Rosamunde kannte ja die Spindeln nicht, weil sie gleich nach ihrer Geburt im ganzen Lande verboten worden waren. Die Neugier reizt sie, sie tritt in das Stübchen und hascht nach der Spindel (das sehen wir im dritten Bild), da – ein Stich, ein Blitz und Donnerschlag und der Zauber der bösen Fee ist vollbracht. Rosamunde fällt in den tiefen Schlaf für hundert Jahre. Aber nicht sie allein, das ganze Schloß versinkt in starres Träumen, vom Fürsten am Bankettisch bis zum letzten Mann des Trosses, von der Fürstin bis zur Magd in der Küche, Alles erstarrt in einem Augenblick; der Schenk, der die Kanne zum Füllen der Becher ergreift, der Koch, der eben ausholt, um dem Küchenjungen einen Schlag zu geben, die Pferde im Stalle, die Hunde im Hofe schlafen, und selbst das Feuer auf dem Heerd schläft ein. Dies Alles zeigt uns das vierte Bild. Es ist recht still in der Halle. Nur die böse Waldfee lacht im Schloß und befiehlt den Dornenknappen, daß die ganze Burg ein großer Dornenwald umwachsen solle, damit sie unnahbar werde für alles Menschenvolk auf ewige Zeiten.

Armes Dornröschen! Der Vorhang fällt, der Minnesänger verstummt. –

Was beginnen während des hundertjährigen Zauberschlafs? Nur der Tonkunst ist es möglich, sich seiner anzunehmen, und sie thut das Mögliche. Wie lange Dornengewinde schlingen sich die Töne des Basses durch die lebensöden Hallen, dazwischen klagen die Clarinetten und seufzen Oboe, so daß einem fast das Herz schwer wird, bis die Instrumente sich zu einem heitern Tändeln

  1. Dieses zweite der lebenden Bilder, von Adolf Neumann gestellt, giebt nach eigener Zeichnung des Künstlers unsere Illustration wieder.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 252. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_252.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)