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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Wahnsinnig und doch Peitschenhiebe![1]

Mit dem Fortschritt der Cultur ist die Strafrechtspflege von Jahrhundert zu Jahrhundert eine mildere geworden; die Barbarei der Folter hat längst aufgehört, – für die Abschaffung der Todesstrafe hat sich eine mächtige Agitation erhoben, – der Staat verwendet heutzutage bedeutende Mittel auf die Einrichtung gesunder und zweckmäßiger Gefängnisse, mehr und mehr strebt man, besonders in England, dahin, das Besserungs-System in diesen Anstalten zur Geltung zu bringen, den Gefangenen durch Unterricht und Gewöhnung zur Arbeit wieder für die menschliche Gesellschaft nützlich zu machen, gegen deren Ordnung er gefrevelt hatte. Es ist nicht zu leugnen, diese humane Richtung gewinnt immer mehr Boden. Darum macht es einen desto betrübenderen Eindruck, wenn hin und wieder aus dem Leben der Gefängnisse Brutalitäten und Quälereien berichtet werden, die selbst die Willkür der betreffenden Beamten nur mangelhaft zu entschuldigen vermag. Gelingt es nur selten, dergleichen Mißbräuche zu constatiren, so hat die Presse da, wo der Zufall sie an’s Licht bringt, eine um so größere Pflicht, sie an die Oeffentlichkeit zu ziehen und ihr Urtheil darüber nicht zurückzuhalten. Mögen deutsche Volksvertretungen in dem Kampf um politische Rechte und über den glänzenden, oft leider müßigen Debatten über Tagesfragen jene wichtigeren Reformen nicht vergessen, die der Standpunkt der heutigen Bildung unabweislich fordert und deren Aufschub ein trauriges Zeugniß für unsern praktischen Sinn sein würde. Die Möglichkeit auszuschließen, daß solche Fälle, wie sie der nachstehende Bericht schildert, in der Verwaltung einer bedeutenden Strafanstalt eines deutschen Großstaates vorkommen können, ist jedenfalls ein gerechtfertigter Anspruch, in einer Zeit zumal, die sich so lebhaft für die Emancipation der Negersclaven, für die gute Behandlung der Hunde und Katzen u. s. w. interessirt.

Das Material zu diesem Bericht hat uns ein Actenstück: „Acten der Straf-Anstalt R. über Melchior F.“ (Litt. F. 377) gegeben. Dasselbe ist zu Anfang der dreißiger Jahre angelegt und bis in die neueste Zeit fortgeführt. Dieser Melchior F. war zwanzig Jahre alt, als er in’s Zuchthaus wanderte. Er ist bestraft worden:

Durch Urtel vom 3. September 1833 wegen Diebstahls mit sechs Monaten Zuchthaus und dreißig Peitschenhieben;
durch Urtel vom October 1834 wegen fünf verschiedener Diebstähle mit vier Jahren Zuchthaus und sechszig Peitschenhieben;
durch Urtel vom 20. April 1844 wegen großen gemeinen Diebstahls mit drei Jahren Zuchthaus;
durch Urtel vom 3. October 1850 wegen kleinen gemeinen Diebstahls und Beschädigung fremden Vermögens aus Rache und Bosheit mit fünf Monaten Zuchthaus;
durch Urtel vom 30. November 1852 wegen eines kleinen gemeinen und zweier schwerer Diebstähle mit fünfzehn Jahren Zuchthaus und fünfzehn Jahren Polizei-Aufsicht;
endlich wegen vorsätzlicher Brandstiftung mit zwölf Jahren Zuchthaus. (Diese Brandstiftung hatte F. in der Straf-Anstalt zu R. verübt. Gemeinschaftlich mit einigen Mitgefangenen hatte er versucht, das Gebäude in Brand zu stecken. Dieser Versuch wurde aber noch rechtzeitig vereitelt.)

Außerdem hat er verschiedene kleine Strafen erlitten. F. hat eine mangelhafte Erziehung genossen und sein Gemüth hat wenig gute Anlagen gehabt. Im Jahre 1834 stahl er einem blinden Bettler seine aus 17 Silbergroschen 6 Pfennigen bestehende Baarschaft. Kaum hatte er die eine Strafe verbüßt, als er sich schon eine neue zuzog. Die verschiedenen Zuchthausstrafen, die sich nach und nach bis auf zusammen fünfunddreißig Jahre gehäuft hatten, verbüßte F. in R. Wir lassen hier gleich das den Acten vorgeheftete Verzeichniß der gegen ihn in R. verhängten Disciplinar-Strafen folgen. Es lautet wörtlich:

Disciplinar-Strafen gegen F.
25./11. 1834. Wegen Unterhaltung: 2 Tage Wasser und Brod.
5./12. 1834. Nicht erledigtes Arbeitspensum: 1 Tag Wasser und Brod.
9./2. 1835. Unterhaltung: 8 Peitschenhiebe.
4./7. 1835. Eigenmächtiges Abschneiden der Kette: 5 Peitschenhiebe.
7./9. 1835. Unterhaltung: 5 Peitschenhiebe.
10./12. 1835. desgl.      5      "
24./5. 1836. desgl.      5      "
16./6. 1837. Unterhaltung und Ungebührniß: 10 Peitschenhiebe.
29./5. 1844. Ungebührliches Vergreifen an Speiseresten: 1 Tag Wasser und Brod.
27./7. 1844. Unterhaltung: 1 Tag Wasser und Brod.
3./8. 1844. Tabakrauchen: 10 Peitschenhiebe.
3./8. 1844. Raisonnement und Verhöhnung der ihm auferlegten Strafe: 10 Peitschenhiebe.
19./11. 1844. Weil er in fünf Tagen sechs Pfund Garn zu wenig gesponnen: 2 Tage Wasser und Brod.
2./12. 1844. Weil er in zwölf Tagen sechszehn Pfund Garn zu wenig gesponnen: 10 Peitschenhiebe.
3. 12. 1844. Versuchte Verschleppung von Arbeits-Material nach dem Abtritt: 2 Tage Wasser und Brod.
16./12. 1844. Unterhaltung: 1 Tag Wasser und Brod.
23.12. 1844. Weil er in elf Tagen fünfzehn Pfund Leistengarn zu wenig gesponnen: 10 Peitschenhiebe.
14./4. 1845. Schimpfen gegen einen Mitsträfling: 2 Tage Wasser und Brod.
16./2. 1847. Hegung von Ungeziefer: 1 Tag Wasser und Brod.
9./1. 1851. Unterhaltung beim Antreten zum Abendgebet: 1 Tag Wasser und Brod.
16./1. 1851. Unterhaltung im Arbeitssaale: 8 Peitschenhiebe.
1./3. 1853. Suchte seine Augen zu beschädigen: 10 Peitschenhiebe.
September 1853. Hinaussehen aus dem Fenster: 20 Peitschenhiebe.
27./12. 1853. Anzünden von baumwollenem Abgang in seiner Isolir-Zelle, so daß sich Brandgeruch verbreitete: 36 Stunden Latten bei Wasser und Brod.
1.5. 1854. Wegen Entwendung von 2 Blättern weißen Papiers aus seinem Arbeitsbuche: 15 Peitschenhiebe.
2.5. 1854. Garnverwüstung: 10 Peitschenhiebe.
22./5. 1854. desgl. 15      "
13./1. 1855. Weil er in 9 Tagen 40 Ellen Kattun zu wenig gewebt: 15 Peitschenhiebe.
24./7. 1855. Zu wiederholten Malen den Suppenrest in den Urinkübel gegossen: 2 Tage Wasser und Brod.
23./10. 1855. Zu wiederholten Malen raisonnirt, daß die Suppe schlecht ist: 3 Tage Entziehung der Morgen- und Abendsuppe.
16./6. 1856. Raisonnement: 2 Tage Wasser und Brod.
25./8. 1856. Raisonnement über Essen und Beamte: 2 Tage Wasser und Brod.
2./9. 1856. Hat seine Abendsuppe in den Urinkübel gegossen, mit Raisonnement: 2 Tage Wasser und Brod.
7./11. 1856. Hat in 6 Tagen 70 Ellen Kattun zu wenig gewebt: 15 Hiebe.
24./8. 1858. Versuchte Entweichung: 15 Hiebe.
20./9. 1858. Brodkaupelei: 1 Tag Wasser und Brod.

Wegen Verdachts der Brandstiftung und wegen Fluchtversuchs aus der Straf-Anstalt zu Kozmin am 1. December 1852, isolirt.

27./11. 1861. Schlechte Arbeit als Weber: 6 Tage Latten bei Wasser und Brod.
12./6. 1862. Eigenmächtiges Ausschneiden seines Arbeits-Fabricats als Weber und Vernichten des Arbeitsgeräths: 12 Tage Latten bei Wasser und Brod und Entziehung jeder Geldzulage, auch Schadenersatz.
30./9. 1863. Wegen unangemessenen Betragens gegen den Aufseher: 1 Tag Latten.
überhaupt: 25 Tage Wasser und Brod,
3      „      Entziehung der Morgen- und Abendsuppe,
19 Tage und 36 Stunden Latten bei Wasser und Brod,
211 Peitschenhiebe (außer den durch Erkenntniß festgesetzten, siehe oben)!
  1. Wir glauben den vorstehenden Aufsatz, der ganz und gar aus den Acten einer Strafanstalt des benachbarten Großstaates geschöpft ist, der Beachtung unserer Leser um so ausdrücklicher empfehlen zu müssen, als Männer wie Ladendorff, Oelckers und in jüngster zeit auch Röckel etc. von Neuem die öfentliche Aufmerksamkeit auf da Zuchthauswesen und namentlich auf das in dergleichen Strafanstalten herrschende System in der Behandlung der Gefangenen gelenkt haben.
    Die Redaction.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_296.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)