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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Mühlhausen, das Eldorado der Arbeiter.
Von Albert Grün.
II.
Die Bibliothek des Mädchens. – Der Hausherr. – Der Preis des Arbeiterhauses und seine successive Abzahlung. – Die Arbeitslöhne. – Anfängliche Scheu der Arbeiter vor den Häusern der Arbeiterstadt. – Aftervermiethungen nur ausnahmsweise gestattet. – Hotel garni für die unverheiratheten Arbeiter. – Wasch- und Badehaus. – Der große Wäschtrockenofen. – Die Restauration, ihre Preise und Statuten.

Als ich wieder in den ersten Stock des Arbeiterhauses kam, wo das Mädchen, zum ersten Mal ein wenig verlegen, Schildwacht vor einer Thür hielt, deren Bedeutung mir nur dadurch klar wurde, äußerte ich meine Verwunderung darüber, daß die Wohnungen nicht nur geräumig und zweckmäßig, daß sie auch so trocken, hell und gesund seien.

„Das glaub’ ich,“ erwiederte sie; „die hat auch der Baumeister Müller nicht allein gemacht, der Dr. Clavel hat geholfen. Und wir,“ setzte sie mit Selbstgefühl hinzu, „halten sie auch im Stande.“

„Das sehen wir,“ sprach herzutretend der Pfarrer; „nur können Sie und die Mutter dabei schwerlich außer dem Hause arbeiten.“

„Die Mutter wohl,“ lautete die Antwort; „sie ist Monatsfrau bei einem Fabrikanten. Aber ich nicht, und ich möchte auch nicht. Es ist doch viel schöner, für Küche und Wäsche, Haus und Garten zu sorgen, und es kommt auch mehr dabei heraus. Man bewegt sich, ist sein eigener Herr, hat Freud’ an seiner Sach’, und wenn man fertig ist, ruht man aus und strickt oder liest auch einmal – besonders im Sommer, im Garten.“

„Was lesen Sie denn?“ fragte ich neugierig.

„Der Vater,“ entgegnete sie die Treppe hinabsteigend, „hat Bücher aus der Bibliothek, aber ich lese meine eigenen, die hier im untern Zimmer stehen.“ Und eintretend schlug sie einen kleinen Vorhang in der Ecke zurück, hinter dem eine Bibel, ein Gesangbuch, Pfeffel’s Fabeln, Schiller’s Tell, Otte’s Schweizersagen und ein Band von Stöber’s Alsatia neben der schönen Magelone und dem Käthchen von Heilbronn standen.

„Herrlich,“ rief der vollständig versöhnte Pfarrer aus, „ihr habt ja Alles, was noth- und was wohlthut. Aber wie viel Miethe bezahlt ihr denn jährlich für die schöne Wohnung?“

„Miethe?“ wiederholte das Mädchen mit beleidigter Gedehntheit. „Das Haus ist unser!“

„Dann war,“ wagte ich jetzt zu forschen, „der Vater wohl von Haus aus begütert?“

„O nein, wir waren ganz arm,“ antwortete sie mit größter Offenheit. „Ich weiß noch, wie wir in Straßburg, wo der Vater Commissionär war, in der Rue du Foulon wohnten, die nicht so breit war, wie das Zimmer hier, dumpf und stickig. Die Mutter konnte mitten am Tage nicht nähen. Unsere zwei Löcher, für die wir hundert Franken Miethe zahlen mußten, waren so schmutzig, daß man sie gar nicht rein bringen konnte, und die Strohsäcke und Unterbetten faulten darin. Und neben uns wohnte eine Familie, die hatte nur eine Stube und ein Bett, in dem oben die Alten und unten die Kinder lagen. Hu, es war schrecklich! und als der Vater es nicht mehr aushalten wollte und wir hierher nach Mülhausen zogen, war’s die ersten Jahre nicht viel besser. In der Spinnerei, wo er Arbeit gefunden hatte, verdiente er nur wenig, weil er die Sache noch nicht recht verstand, und die Wohnungen in der Stadt waren ebenso theuer und fast so schlecht wie in Straßburg. Erst als die Cité, die Arbeiterstadt, gebaut wurde, fing für uns das Leben an, und jetzt sind wir Gott sei Dank auch Menschen, wie andere Leut’.“

„Aber ihr mußtet,“ warf ich ein, „doch schon viel gespart haben, ehe ihr daran denken konntet, hier ein Haus zu kaufen.“

„Ei bewahre,“ sagte sie, „kaum zweihundert Franken, die sich die Mutter in einem Jahre mit Waschen und Scheuern verdient hatte und die der Kaufcontract kostete.“

„Aber das Haus selbst“ – beharrte ich – „was kostet denn das?“

„Weiß nicht,“ zuckte sie die Achseln; „ich glaube dreitausend dreihundert Franken. So viel hat wenigstens mein Schatz, der Maschinenbauer, den Sie droben gesehen haben, von seinem Einstandsgelde für ein ganz gleiches bezahlt, in dem jetzt seine alte Mutter mit ein paar Miethern wohnt, bis er wiederkommt; dann heirathen wir und ziehen zu ihr.“

„Und werdet glücklich sein!“ setzte ich vertrauensvoll hinzu.

„Aber dein Vater, wer gab dem ein solches Capital?“

„Niemand,“ lächelte sie; „er hat das so nach und nach bezahlt. Ich kann’s nicht expliciren, aber er muß jeden Augenblick kommen. Es ging ganz von selbst, und die Anschaffung der neuen Möbel obendrein. Aha“ – wandte sie sich plötzlich dem Fenster zu, auf das ein flüchtiger Schatten fiel – „da ist der Vater.“

Der Kleine, den wir ganz vergessen hatten, sprang an die Hausthür und kam hüpfend an der Hand eines Mannes zurück, der mir wunderbar imponirte.

Groß und hager von Gestalt, trug er rings um das längliche, blasse, bis zur Strenge ernste Gesicht einen kurzen, graumelirten Bart, der, jetzt ruhig anliegend, sich offenbar einmal gesträubt hatte. Hose, Jacke und Kappe von grauem Tuch machten bei seiner straffen Haltung den Eindruck vornehmer Einfachheit; fast dachte man an einen Engländer auf Reisen, an einen Baron im Jagdkleide. Und in der That fühlte man auf der Stelle, daß man hier kein Bild „der Menschheit, welche abgehärmet an des Bedürfens Karren zieht,“ daß man ein Wesen voll Ueberlegung und Charakter vor sich hatte – mit einem Worte: seines Gleichen, wenn nicht noch mehr. Die ganze Erscheinung, der man den siegreichen Kampf mit des Geschickes Mächten ansah, erzwang Respect.

Er grüßte ohne alle Demuth und fixirte uns mit einer Miene, in der das englische „Mein Haus ist meine Burg“ deutlich zu lesen war. Es schien mir fast, als müßte Einer von uns Aehnlichkeit mit Jemand haben, den er nicht liebte, als erblicke er in mir der Brille wegen eine spionirende Kellerratte (wie man im Elsaß die Agenten der Getränksteuer nennt) oder fürchte für seine Tochter. Sobald ihn diese indeß über den Zweck unserer Anwesenheit aufgeklärt und in den Stand des Gesprächs eingeweiht hatte, war er wie umgewandelt, rückte uns – woran das Mädchen nicht gedacht – Stühle hin, setzte sich ebenfalls und erklärte mit ruhiger Besonnenheit:

„Sie werden wissen, daß die Gesellschaft, die unsere Cité gegründet, ihre Häuser ohne allen Nutzen genau zum Kostenpreise verkauft. Das allein aber würde Unsereinem nicht viel helfen, denn wer hat so ohne Weiteres über Tausende von Franken zu verfügen? Die Hauptsache ist also, daß sie vom Erwerber im Augenblicke des Ankaufs keinen Heller fordert, sondern ihm gestattet, die mit 5% zu verzinsende Kaufsumme in ganz kleinen monatlichen Abzahlungen zu entrichten. Nachdem der Käufer dem Staate die auf dem Kaufe lastenden Steuern bezahlt, braucht er der Gesellschaft für ein Haus von 2400 Franken einschließlich der Miethe nur 18, für eins von 3000 nur 23 Franken monatlich zu zahlen, und wenn er das vierzehn Jahre ordentlich fortgesetzt, so ist das Haus vom Grundstein bis zur Dachspitze sein.“

„Und die Arbeitslöhne,“ fragte mein Begleiter, „sind so, daß man diese Abzahlungen erschwingen kann?“

„O ja,“ erwiederte der Mann, „wer nicht liederlich ist oder besonderes Unglück hat, kann sich leicht so einrichten. Die niedrigsten Löhne sind die in den Webereien, wo ein Mann täglich 1¾–2, monatlich also 46–52 Franken gewinnt; in den Spinnereien kommt der Arbeiter schon auf 52–65 und in den Gießereien und Maschinenfabriken noch viel höher, ja bei besonderer Geschicklichkeit auf 130 oder gar 180 Franken. Hilft nun, wie das bei Familien gewöhnlich ist, eine Frau verdienen, die es in der Fabrik oder sonstwo zu 1–1¼ täglich bringt, oder ein erwachsenes Kind, so hat die Sache augenscheinlich keinen Anstand. Auch zahlen nicht nur alle Käufer pünktlich; die meisten warten die vorgeschriebenen vierzehn Jahre gar nicht ab, sondern zahlen voraus und gewinnen so zugleich die 5procentigen Zinsen der zu früh entrichteten Summen, die man ihnen in den Zahlbüchlein gewissenhaft abzieht. Freilich,“ fuhr er fort, „zahlt man als Käufer monatlich 5 Fr. mehr, als der bloße Miether für eine schlechte Baracke in der Stadt, aber der Ertrag des Gärtchens, den man dreist auf 40–50 Franken jährlich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 328. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_328.jpg&oldid=- (Version vom 28.12.2022)