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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

an dessen Hahn er noch kürzlich seine Büchse erprobt hatte; über die Stoppeln wehten und flogen schon die weißen Fäden der Feldspinnen; baldige Kälte verkündend, schwebte hoch oben ein Dreieck von Wildgänsen dem Süden zu, das Buchenlaub hatte bereits begonnen sich zu röthen, und einzelne vorzeitig dürr gewordene Blätter fielen schon zu den Wurzeln nieder, aus denen sie ein kurzes Sommerleben gesogen.

Hiesel war nicht mehr der Alte. Mit dem steten Brüten und Aussinnen neuer Entwürfe für die Zukunft, mit dem Bestreben, eine augenblicklich unangenehme Gegenwart zu überdauern, war eine immer dunklere und verschlossenere Stimmung über ihn gekommen; der Gesang war fast ganz verstummt; die Fröhlichkeit seines Gemüthes, die in der letzten Zeit doch noch manchmal in der tollen Lust einer überreizten Stimmung zum Durchbruch gekommen, war erstorben; eine beinahe feindliche Scheu hielt ihn ab, mit Menschen zusammenzutreffen – es war wohl das peinigende, wenn auch sich selbst kaum eingestandene Bewußtsein, daß er ihnen nicht mehr angehörte, daß auch das letzte reine Band, das ihn noch mit Welt und Menschen zusammengehalten, entweiht und zerrissen war.

Kundel war nicht bei der Bande geblieben, hatte sie aber auch nicht wieder verlassen; sie hielt sich fortwährend in deren Nähe und in stetem Verkehr mit ihr; als Lumpensammlerin mit einem kleinen Kram von Faden, Häkchen und Band durchzog sie die umliegenden Gegenden und konnte auf diese Weise leicht Alles, woran den Genossen gelegen war, in verdachtloser Weise erkunden und ihnen mittheilen. Wenn sie ferne war, fühlte Hiesel sein Gemüth wie von einer schweren Last befreit, er glaubte von ihr los zu sein und kein Verlangen schien ihn an sie zu binden; wenn sie aber wiederkam, wenn er ihre glühende, unverhehlte und unerschütterliche Neigung sah, wenn er sich geliebt sah, wie sein im Grunde weiches Herz es sehnend verlangte und niemals erreicht zu haben glaubte – dann ermattete sein Widerstreben und die alten Bande umschlangen ihn wieder. Wollte der Gedanke an Monika vor ihm auftauchen, so hielt er mit Gewalt das Bild der ernsten Mahnerin fern; er verlachte sich selbst, daß er noch ihrer gedenke, während sie doch für ihn unwiederbringlich verloren war – sie hatte die flüchtige Neigung, wenn sie ja eine solche empfunden, sicher längst besiegt, hatte ihn vergessen und saß wohl schon geraume Zeit als behäbige stattliche Bäuerin auf dem Baumüllerhofe. Ihm war es nicht vergönnt, ein eigenes Plätzchen als Garten einzufrieden und sich einen dauernden Blumenflor darin zu ziehen – warum sollte er die Blume nicht pflücken, die wie eine wilde, glühende Heckenrose willig und üppig an seinem einsamen Waldpfad emporrankte?

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Ein deutscher Mann in Rußland. Obgleich der Schein stark gegen uns ist, sind wir Deutsche doch das mächtigste und eroberndste Volk. Wir haben bereits viel mehr Colonien als Großbritannien, mehr als wir ahnen. Daß sie nicht vom „engeren Vaterlande“ her regiert und, mit Kriegs- und andern Zuschüssen unterstützt, in Schranken, in Abhängigkeit erhalten werden, ist – im Ganzen und Großen genommen – eben ihr Vorzug.

Die Deutschen haben sich bereits rund um die Erde herum angesiedelt und sind überall mehr oder weniger Träger und Missionäre der Cultur in Kunst und Industrie, in Wissenschaft und Leben geworden, Apostel des praktischen Kosmopolitismus. Dies wird mit der Zeit auch „zu Hause“ bekannter und eine Quelle des heimischen Patriotismus und Selbstgefühls werden.

Im russischen Reiche gehören den Deutschen bereits die bedeutendsten Cultursphären von den höchsten Staatsbeamten an bis zu den Bäckern, die allein weißes Brod backen dürfen. Deutsche Wissenschaft, deutsche Kunst, deutsche Lehrer, Aerzte, Apotheker, Literaten und Gelehrte und Lehrende aller Art treten überall von der Memel bis zum Amur, von den Nordpolargegenden bis zur tropischen Hitze Neurußlands mehr oder weniger zahlreich und bedeutend hervor. Der deutsche Kaufmannsstand in St. Petersburg, Moskau, Odessa etc. zählt die größten und geachtetsten Firmen zu den seinigen. Am reichlichsten und mannigfaltigsten sind die Deutschen in der russischen Hauptstadt vertreten. Hier ist der Mittelpunkt der großen deutsch-kosmopolitischen Colonie Rußlands. Hauptsächlich aber ist es eine deutsche Zeitung in Petersburg, welche die liberale, die Sclavenketten zerbrechende Politik der jetzigen Regierung gegen die altrussische, aristokratische Reaction vertritt und sich den Feinden der Freiheit bereits als ein gefürchteter Gegner erweist.

Den Mittelpunkt dieser deutschen literarischen Wirksamkeit in Rußland bildet Dr. Friedrich Clemens v. Meyer, kaiserl. russ. Hofrath, Eigenthümer und Chef-Redacteur der deutschen St. Petersburger Zeitung, Lector an der kaiserlichen Universität, in Deutschland selbst nur sehr Wenigen als Dichter und Schriftsteller bekannt, während seine Bedeutung und Wirksamkeit in unserem russischen Deutschland sehr rasch gewachsen ist und noch fortwährend zunimmt. Dr. Meyer ist ein zäher, kräftiger Westphale, geboren 1824 in der Hauptstadt des kleinen Fürstenthums Waldeck, Arolsen, das so vielen berühmten Männern das Leben gab, wie Kaulbach, Rauch und Drake in der Kunst, den beiden Bunsen, dem Diplomaten und Gelehrten und dem berühmten Chemiker, dem Arzt Stieglitz und Stieglitz, dem größten Bankier Rußlands.

Nach tüchtigen Studien wurde Meyer 1845 Hauslehrer in Curland, verlebte hierauf eine Zeit lang in Dorpat, wo er unter Anderm die „Statistik des esthnischen Volkszustandes“ (Leipzig 1851) schrieb, und begab sich im Sommer 1851 in die russische Hauptstadt, wo er schon im folgenden Jahre von der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zum Redacteur der deutschen „St. Petersburger Zeitung“ gewählt wurde. Das neue Leben in Petersburg führte eine Anzahl deutscher, poetisch und politisch angeregter Männer zu engerem Anschluß zusammen. Es bildete sich ein Verein deutschen Schaffens und Wirkens, der noch jetzt existirt, obgleich mehrere bedeutende Mitglieder durch den Tod abgerufen wurden. Namentlich fanden sich in diesem Vereine viele dichterische Kräfte zusammen, so daß sie zwei Jahrgänge eines deutschen Petersburger Musen-Almanachs mit sehr poetischen „Schneeflocken“ füllten. Wer sich die Mühe giebt, die russisch deutschen „Schneeflocken“ mit den deutschen Almanachs-Blüthen zu vergleichen, wird sich unserer Flora im russischen Reiche gewiß freuen. Die deutsche Cultur in andern Ländern ist zum Theil viel älter und zahlreicher als die in Rußland, allein noch nirgends hat es die Muse im Auslande zu solcher Zahl echter Jünger gebracht. Immer aber bleibt von der vielseitigen Wirksamkeit Meyer’s die Redaction und geistige Versorgung der St. Petersburger Zeitung die bedeutendste und am weitesten wirkende. Zunächst füllte er das Blatt mit einem reichen Schatze wissenschaftlicher und literarischer Stoffe, die den Deutschen in Rußland bis dahin ziemlich fremd und schwer zugänglich geblieben waren. Auch die durch manche originelle Schöpfung ausgezeichnete russische Literatur wurde durch seine Zeitung erst den Deutschen in Rußland und später besonders durch eine Sammlung uns Allen zugänglich. Es ist das in drei Banden erschienene „Magazin für Kunde des geistigen Lebens in Rußland“.

Mit der Regierung des jetzigen Kaisers begann das neue Rußland, damit für die St. Petersburger Zeitung wie für die ganze russische Presse die noch in Werden und in Verwirklichung begriffene Aera. Zugleich wurde Meyer unabhängiger Eigenthümer der Zeitung, deren politische Wirksamkeit, namentlich durch die logisch-scharfen und deutsch-patriotischen, wie russisch-emancipationskräftigen Leitartikel des Herausgebers und Redacteurs, seitdem immer an Bedeutung gewonnen hat. Durch kräftiges Wort für die Emancipations-Pläne des Kaisers und als deutscher Mann zog er sich vor Allem den Haß und die Verfolgung der altrussisch-aristokratischen Partei zu. Die Angriffe derselben wurden lange fortgesetzt, aber der westphälische deutsche Mann und Gelehrte ließ sich in seiner zähen Natur und Charakterfestigkeit nicht einschüchtern und hat nun im Wesentlichen erreicht, was er wollte und für recht und nothwendig hielt. Er hat die russischen Schreier zum Schweigen gebracht und – was mehr ist – die Deutschen in Rußland zum Bewußtsein ihrer Weltmission,[1] zum Gefühl ihrer Nationalität und Achtung, Wahrung und Pflege derselben ermuntert und ermannt. Es ist besonders eine Frucht seiner Wirksamkeit, daß sie einerseits sich in deutschem Wesen und Walten immer mehr fühlen und zusammenfinden lernen, und andererseits die Emancipations-Pläne der Regierung und ihren doppelten Kampf gegen die feudale Aristokratie und eine selbst von den liberalsten Patrioten gemißbilligte extreme Partei moralisch und materiell unterstützen. Das heißt mehr, als es scheinen mag, da eine große Menge Deutscher als Beamte, Generäle, Häupter großer industrieller Etablissements und Handelsfirmen durch materielle wie intellectuelle Mittel einen sehr bedeutenden Einfluß ausüben.

Seit dem 1. März ist die Zeitung auch mit dem Ministerium den Auswärtigen in amtliche Verbindung getreten, was insofern für die deutsche Presse von Wichtigkeit ist, als diese nun durch die deutsche Petersburger Zeitung direct die auswärtige Politik Rußlands kennen lernen und die betreffenden Nachrichten als amtlich verbürgt aufnehmen kann.

Von dem deutschen Leben in Rußland wollen wir nur zwei Beispiele anführen. Die durch Meyer angeregte Schillerfeier ward nicht nur überall mit Begeisterung aufgenommen und begangen, sondern brachte auch sechstausend Rubel für die Schillerstiftung zusammen, ein Beitrag, der von keiner anderen deutschen Colonie erreicht worden ist. Sodann ward die Uhlandfeier durch Meyer’s Anregung und seine wahrhaft begeisterte Rede (wovon wir Abdrücke in deutschen Journalen gelesen) eines der erhebendsten Feste in der russischen Hauptstadt.

Der deutsche Mann in Rußland, der so Vieles erreichte, steht jetzt in der Blüthe seiner Wirksamkeit und Kraft, geehrt und geliebt von unzähligen Anhängern und Freunden, gefürchtet von den Feinden der Sclavenbefreiung und den panslavistischen Fanatikern. Er erfreut sich einer schönen Häuslichkeit an der Seite einer treuen Gattin und als Vater aufblühender Kinder. So persönlich, bürgerlich und geschäftlich glücklich und kräftig in die Mitte einer weiten segensreichen Wirksamkeit gestellt, hinterläßt er in uns das Bild eines verdienstvollen, Deutschland ehrenden, bedeutenden und zukunftreichen Pioniers und Apostels der weltgeschichtlichen Mission der Deutschen auf einem der wichtigsten Posten des Kosmopolitismus.

H. B.



  1. Die Deutschen in Rußland vertreten ganz eigentlich den in Rußland selbst unentwickelt gebliebenen intelligenten Bürgerstand.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 336. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_336.jpg&oldid=- (Version vom 16.11.2022)