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Jahrhunderts wurde Florenz das Manchester des Mittelalters. In Dante’s Tagen zählte man in der Stadt dreihundert Fabriken, die jährlich einmalhunderttausend Stücke Tuch lieferten und mehr als zwanzigtausend Menschen den Lebensunterhalt gewährten. Mit der Industrie stieg das Geldgeschäft, die Florentiner waren die ersten Wechsler in Europa. Große Summen häuften sich so in der Stadt an; mit dem Reichthum erwachte in den Bürgern der Sinn für die Künste, stattliche Gebäude, Rathhäuser, Paläste, Kirchen entstanden; die Malerei Giotto’s schmückte die Wände, die Altäre. Eine lange Reihe von Dichtern, Künstlern, Gelehrten verherrlichte Florenz, ein Genius trat gleichsam dem andern auf die Fersen. Es schien, als könne in dieser Stadt so wenig als in Athen das Genie aussterben. Der Ruhm und die Schönheit haben ihre Wohnstätte hier aufgeschlagen. Von diesem Erdenfleck aus sind der Menschheit mit die höchsten und tiefsten Anregungen gekommen. Neben Dante lebten hier Boccaccio, Macchiavelli, Galilei, Alfieri; der italienische Vorläufer unseres Luther, Savonarola, predigte auf diesen Plätzen, Raffael, Michel Angelo, Benvenuto Cellini haben diese Kirchen und Paläste mit ihren Kunstwerken geziert.

Der Führer aber dieser erlauchten Geister ist Dante. Wenn die Heimath ihm ihr Gepräge aufgedrückt, so gab er dafür den edelsten ihrer Kinder in seinem Gedicht eine unerschöpfliche Quelle des Erhabenen und Tiefsinnigen, aus der Alle – sein größter Nachfolger Michel Angelo nicht am wenigsten – geschöpft. Florenz erschien im Vordergruud der italienischen Entwickelung, als das Geschlecht der Hohenstaufen mit Conradin ausstarb und der Kampf der Ghibellinen und Guelfen seine welthistorische Bedeutung verloren hatte. Hier wie überall in den italienischen Städten theilte sich die Bevölkerung in zwei ursprünglich scharf gesonderte Classen: die Patrizier, der Adel, der aus der Landschaft in die Stadt eingewandert war, und die Popolani, Handwerker und Arbeiter, die sich zuerst um die Kirchen, im Schutz des Bischofs angesiedelt hatten, Eingewanderte aus fremden Städten, Hörige, welche der harten Herrschaft ihres Grafen entflohen und hinter den Mauern der Stadt ein Asyl gefunden und bald in Folge der vielen Fabriken die zahlreichste Classe geworden waren. Zwischen den adligen Geschlechtern und den Arbeitern bildete sich ein eigentlicher Bürgerstand in vielen Abstufungen von dem reichsten Wechsler bis zu dem ärmsten Schuster aus. Er hatte das Regiment der Stadt in Händen. Aus den Zünften, in die er sich theilte, wurden die Prioren, die neben dem Richter (Podestà) und dem Befehlshaber der Miliz (Capitano del Popolo) die Verwaltung der Stadt führten, gewählt. Da sie zum Gewerbestande gehören mußten, war der Adel, sofern er nicht in die Zunftrollen, als Arzt, Wechsler, Tuchhändler eingetragen, von der Regierung ausgeschlossen. In diesem durchaus bürgerlichen Gemeinwesen hatten weder die Edelleute noch der eigentliche Arbeiterstand politische Rechte. Mit der Einführung der Priorenverfassung endete auch der langandauernde Streit der Ghibellinen und Guelfen. Die eigentliche Bevölkerung war in Florenz von jeher guelfisch gesinnt, dem Kaiser und dem Adel abgeneigt. Durch die Schlacht bei Campaldino, 11. Juni 1289, in der Dante in der ersten Reihe der Reiter mitfocht, sicherten sich die Florentiner das Uebergewicht über die ganze ghibellinische Partei in Toscana, die an jenem Tage besiegt und gesprengt ward.

Dante’s Familie gehörte zu dem guelfischen Adel der Stadt. Sein Vater, Alighiero degli Alighieri, war ein Rechtsgelehrter, wenn auch kein hervorragender Mann, doch wohl begütert. Von seiner zweiten Frau, Donna Bella, wurde ihm Dante geboren, unter dem Zeichen der Zwillinge, woraus die Astronomen dem Kinde einen ausgezeichneten Ruhm in den Wissenschaften prophezeit haben sollen. Zwar starb der Vater dem Knaben früh, aber die Mutter sorgte in edelster und einsichtigster Weise für seine Erziehung. Der damalige Geheimschreiber der Republik, Brunetto Latini, ein gelehrter und hochgebildeter Mann, unterrichtete ihn; auf einem Damme der Hölle begegnet in seinem Gedicht der Dichter seinem Lehrer und geht eine Strecke gesenkten Hauptes, „wie einer, der verehrend wandelt“, neben ihm her. Brunetto sagt ihm: „Folg’ Deinem Stern, der Hafen des Ruhmes soll Dir dann sicher sein,“ und Dante erwidert darauf:

„Wär’ mein Gebet erfüllt,
Wärst menschlicher Natur Du nicht entnommen,
Denn nie entschwindet Dein Bild meinem Sinn.“

Von jeher soll Dante ernsten und in sich gekehrten Sinnes gewesen sein; Boccaccio sagt in seiner Lebensbeschreibung des Dichters, schon in der Jugend habe er sich den kindischen Beschäftigungen abgeneigt erwiesen, und nachdem er die ersten Elemente der Wissenschaft in seiner Vaterstadt selbst erlernt, habe er sich zum Studium der alten Dichter, des Virgil, Horaz und Statius gewandt, dann in Bologna und Padua Philosophie getrieben und sich endlich in die Geheimnisse der Theologie versenkt. Von einem systematischen Studium in unserm Sinne ist nicht die Rede; nach jeder Richtung und in jeder Weise war damals die Wissenschaft beschränkt. Selbst das Alterthum kannte man nur aus den römischen Schriftstellern. In ihnen, in der Bibel und den Büchern der Kirchenväter zeigt Dante eine erstaunliche Belesenheit und mag darum in einer Zeit, wo Lesen und Schreiben noch Etwas wie einen magischen Zauber um sich bewahrten, als eine Leuchte der Gelehrsamkeit angestaunt worden sein. Diese ernsteren Studien ertödteten aber seine Neigung zu den schönen Künsten nicht; ausdrücklich bemerkt wieder Boccaz, daß er der Freund jedes damals berühmten Sängers und Musikers gewesen. Ebenso zeichnete Dante selbst und soll öfters den berühmten Maler Giotto, den Vater der modernen Malerei, in seiner Werkstatt aufgesucht haben.

Mit den besten Dichtungen der provençalischen Dichter, deren Sprache damals von Südfrankreich aus sich über die Lombardei und bis nach Mittelitalien verbreitet hatte, darin Richard Löwenherz von England so gut wie Friedrich der Rothbart einen und den andern Vers versucht, war er vertraut, ihre Liebes- und Schlachtlieber klingen in ihm wieder. Diese Gedichte sind von stärkerem Einfluß auf seine eigenen ersten Versuche in der „Vita nuova“, dem „Neuen Leben“, gewesen, als die Dichtungen Virgil’s und Horaz’s. Jene Vermischung sinnlicher und übersinnlicher Liebe, das Bestreben, die irdische Geliebte zu einer himmlischen Gestalt zu erhöben, in eine Allegorie zu verflüchtigen, die seit Dante und Petrarca die ganze italienische Liebeslyrik kennzeichnet, läßt sich als auf ihre erste Ursache auf die Troubadourlieder zurückführen. Ohne Zweifel trugen der Mariencultus, die in Italien vielverbreiteten Marienlieder – Franciscanermönche haben die meisten gedichtet – ein gutes Theil zu dieser Verschmelzung des Irdischen und Himmlischen, der Leidenschaft und der Andacht bei. Dante mußte nun ein eigenes, so nie wieder dagewesenes Geschick erfahren, daß bei ihm Wahrheit, Selbsterlebtes, echter Schmerz wie echte Freude wurde, was bei den Andern nur Traum und phantastische Erdichtung, halb Gefühl und halb Spielerei war.

Noch ein Knabe – er zählte neun Jahre – sah er, an einem Frühlingstage 1274, ein liebliches Kind, Beatrice, die siebenjährige Tochter Folco Portinari’s. Seit dieser Stunde faßte er eine glühende, inbrünstige Liebe zu ihr. Oefters noch begegnete er ihr in den Gassen der Stadt, in den Kirchen. Sie grüßte ihn freundlich, wenn sie vorüberging, wechselte auch wohl ein und ein anderes Wort mit ihm. Näher traten sie einander nicht; Beatrice heirathete einen edlen Florentiner Simone dei Bardi und starb in jugendlichem Alter, am 9. Juni 1290, etwa ein Jahr nach jener Schlacht bei Campaldino, in der Dante seinen ersten Ritterdienst gethan. Diese verklärte, idealistische Liebe, in der die Geliebte zugleich zur begeisternden Muse des Dichters wird, giebt einen Grundton für die gesammte Dichtung Dante’s ab; in seinen ersten Sonetten und Canzonen feiert er die irdische Beatrice, die er mit leiblichen Augen gesehen, mit der er geredet, „das neue, edle Wunder“. In der „göttlichen Komödie“ ist Beatrice eine lichtverklärte Heilige, die Verkörperung der Theologie, höchste Wissenschaft und höchste Liebe zu Gott zusammen. Omnis beatitudo nostra, „meine ganze Seligkeit“ nennt sie Dante, die in der Höhe und dem Glanz des Himmels den Freund beschützt, ihm den Virgil zum Begleiter durch die Hölle sendet, auf der Spitze des Fegefeuerberges sich zu ihm gesellt und nun seine Führerschaft durch das Paradies übernimmt. Nicht ist Beatrice nur eine allegorische Gestalt, sie ist der holde Schatten, der im irdischen Leben eine kurze Frist lang das Ewige und Himmlische verkörperte.

In einem thätigen, bürgerlich einfachen Leben suchte Dante den Schmerz über Beatrice’s Verlust zu vergessen. Er ward in die Rolle der Aerzte eingetragen, vermählte sich mit einer Dame aus dem Geschlecht der angesehenen Donati, Gemma, und widmete seine Fähigkeiten dem Dienste seiner Vaterstadt: eine schlichte, ehrenfeste Natur, entfernt von den Uebertreibungen und genialischen Sprüngen, die wir in der Jugendgeschichte anderer Dichter bemerken. Die Regierung benutzte ihn mehrmals zu Gesandtschaften.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 342. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_342.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)