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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Camsdorf, gehört, hat Goethe während seines jenaischen Aufenthaltes meist gewohnt. Die alten Weiden und hohen Erlen, welche an dem Saalufer sich hinziehen, und ein auf der damals dort vorüberführenden Straße nach Wenigenjena und Kunitz nach letzterem Orte heimreitender Bauersmann, der auf seinem Klepper ein krankes Kind eingehüllt im Arme trug, das er in der Klinik hatte behandeln lassen, sollen ihm die Idee zum Erlkönig gegeben haben. Der gedachte Weg führt an einem Damme vorüber in wenigen Minuten nach Wenigenjena. Von dem Orte ließe sich sonst wenig sagen, wenn nicht vielleicht die in dem schönen Garten des Freiguts herkömmlich genossene „sauere Milch“ für manchen weilenden Musensohn zu einer Erinnerung geworden ist, die dann wohl eine lebhafte ist, wenn sie sich zugleich mit auf die frischen blonden Töchter des Hauses erstreckt. Nur an das kleine Kirchlein im Orte knüpft sich noch eine Erinnerung, die so unsterblich sein wird, als ihr Veranlasser. In dieser Kirche wurde Schiller getraut.

Durch eine schmale Mauerpforte treten wir zunächst auf den Friedhof. Alte verwitterte Säulen und Kreuze erzählen uns von der Vergangenheit des Ortes und wecken in uns die Andacht der Wehmuth. Mitten drinnen im Friedhofe steht die Kirche. Staunend und bewundernd sehen wir, namentlich am Hauptportale, die edlen Gebilde gothischen Baustils. Nischen und Fenster im Spitzbogen, hochanstrebende Säulen, aber mitten in der Entwickelung gehemmt und gebrochen – ein versunkenes Bild alter Herrlichkeit. Ueber dem Zauber altgothischer Romantik liegt ein nüchternes, aller Schönheit leeres Bretergerüst und verwitterte Ziegeldächer. Es ist eine große Versündigung geschehen an diesem Kirchlein, was einst in seiner Blüthenzeit gewidmet und geweiht war Unsern lieben Frauen. Thurm, Kuppel und Fries hat man ihm genommen, um die erhabene Schwester, die stolze Stadtkircke zu St. Michaelis in Jena, damit zu schmücken.

Nach diesem Kirchlein zu Unsern lieben Frauen kam nun Montag, den 22. Februar, des Jahres 1790[1] gegen Abend, halb in der Dämmerung an den alten grauen Weiden vorbei, die uns schon bekannte gelbe Postchaise, die Zahl ihrer Insassen hatte sich um eine vermehrt. Es war eine ältere Matrone von durchaus vornehmer Haltung. Chère mère wurde sie von den Uebrigen genannt. An der Schwelle des Kirchhofs empfing sie der würdige Pfarrer des Orts und geleitete sie in die Kirche. Alle Vier traten ein, und die Kirchthür schloß der Pfarrer zur Abwehr größerer Neugier hinter ihnen zu. Da standen sie, Schiller und Lotte, hinter ihnen Mutter und Schwester, in der lautlos stillen Kirche vor dem Altare, mit dem Bilde des abendmahlsspendenden Christus. Der junge Philosoph im Predigergewande tritt aus der Sacristei. Er beginnt den Act der Trauung mit der alten düsteren Formel über die Einsetzung des Ehestands, welche also lautete nach 1. Buch Mos. Cap. 3, B. 16-18):

„Zum fünften wollen wir auch hören das Kreuz, das Gott auf den ehelichen Stand gelegt hat. Also sprach Gott zum Weibe: Du sollt mit Schmerzen Kinder gebären und dein Wille soll deinem Manne unterworfen sein und er soll dein Herr sein. Und zu Adam sprach er: Dieweil du hast gehorchet der Stimme deines Weibes – verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollt du dich darauf nähren dein lebelang. Dornen und Disteln soll er dir tragen und sollst das Kraut auf dem Felde essen.“

Der Jünger Kant’s, neben die Bibel seines Meisters Kritik der praktischen Vernunft legend, führte dann aus, wie die Eheschließung der kategorische Imperativ der Pflicht für die Leidenschaft und Liebe des Mannes sei. Dann erscholl vernehmlich durch die heilige Stille das gemeinsame „Ja“ der beiden auf der Stufe vor dem Altar knieenden Verlobten.

Volle Dämmerung war hernieder gesunken, als sie wieder heraustraten aus dem Kirchlein, Schiller und Lotte, jetzt Mann und Frau. Die Mutter hatte wacker geweint, die Schwester war voll tiefen Sinnens. Nicht in Worten, nur in heißen Umarmungen sprachen alle Vier. Auf der Heimfahrt rauschten die Erlen, „schienen die alten Weiden so grau“ und der Mond, der alte Liebeszeuge, warf einen glitzernden Lichtstreif über den ewig rauschenden Strom.

Als sie in das Eckhaus am Markte eintraten, hatten die geschäftigen Hausjungfern Thür und Thor bekränzt und den Sonntagsstaat angelegt. Einige, im Ganzen nur wenige, Hochzeitsgeschenke waren angekommen. Besonders erfreute Alle das von dem allgeliebten Coadjutor Karl von Dalberg in Erfurt selbst gemalte Bild, darstellend einen Hymen, der die Namen der Verlobten in eine Baumrinde schneidet – mit den allegorischen Figuren des Dramas und der Geschichte – ganz im Zeitgeschmack.

Schiller wurde lebhaft und fast ausgelassen. Er scherzte über den „kurzweiligen Auftritt“ der Trauung, der ihn vorher so geängstigt hatte, und zog auch die ernste Schwägerin und die sentimental gewordene Schwiegermutter mit in den Kreis des Scherzes. Mit kindlicher Freude begrüßte er die neue Einrichtung. Hatte er doch früher nichts zu eigen besessen, als seinen Schreibtisch, der ihm, wie er schlagend meinte, zwei Karolins gekostet hatte. Mit gaukelnden Phantasiebildern malte er seine Zukunft aus. „Ich arbeite in meinem Zimmer, Du, Karoline,“ wandte er sich zu der Schwägerin, welche vorerst in Jena verbleiben sollte, „spielst am Clavier, Lottchen arbeitet dort am Fenster. In dem Spiegel hier, mir gegenüber, sehe ich Euch Beide im Bilde. Ich lege von Zeit zu Zeit die Feder weg und setze mich abwechselnd zu Euch, mit Dir, Karoline, zu philosophiren, und bei Dir am schlagenden Herzen zu ruhen, meine Lotte.“

Der um die Zukunft besorgten chère mère rechnete er vor, wieviel er, wenn die hochherzigen Anerbietungen Dalberg’s nicht in Erfüllung gehen würden, jährlich durch Schriftstellerei verdienen werde.

Das stille Glück der Vier wurde durch nichts unterbrochen. Nur die redseligen Hausjungfern eilten geschäftig hin und her. Jena hatte mit seiner Theilnahme an der Hochzeit völlig resignirt.

Als dann die Nacht eingebrochen und Alles ruhig und still war im Hause, selbst die geschwätzigen Hausjungfern schliefen – war doch, aller Welt verborgen, Eine noch wach. In ihrem Schlafgemach saß gebeugten Hauptes – Karoline von Beulwitz. Das allzutiefe Leid in ihrer Brust hielt sie noch wach. Das gramvolle Bewußtsein ihres verfehlten Lebensglücks trat in dieser Stunde in voller Stärke vor ihre Seele. Fünf Jahre lang hatte sie an der Seite eines ihr nicht gleichgearteten, von ihr nicht geliebten Mannes gelebt. Sie hatte in dem begeisternden Rausche der Freundschaft des erhabenen Freundes Schiller das eigne Leid in der letzten Zeit nicht gefühlt. Dieser aber, der einzige, der sie vollständig erkannte und mit ihr gleich hoch empfand und dachte, er war jetzt zum Theil durch ihre eigene großherzige That der Gewinn ihrer glücklichen Schwester. Ihr ahnendes Herz sagte ihr, daß er von heute an ihr nicht mehr gehöre – wohin sollte sie sich nun wenden in dieser entsetzlichen Vereinsamung? Ein finstres Bild der Zukunft lag vor ihrem Geiste. Es drängte ihr eingepreßtes Herz nach Mittheilung. Sie zündete ein Licht an und schrieb die ersten Zeilen ihres Romans „Agnes von Sicilien“. – Je mehr sie schrieb, desto ruhiger wurde ihr Herz. Als sie sich erhob, rannen heiße Thränen über ihr seines Gesicht – stumme Zeugen der heiligsten Resignation eines edlen Frauenherzens. –

So war Schiller’s Hochzeitsfeier ein Abbild seines eigenen Lebens, seiner selbst. Er, der vor dem Weltgeräusch und des Lebens Drang gern in „des Herzens heilig stille Räume“ floh – er mußte auch naturgemäß den abergläubischen, phantastischen Spuk und die laute Lust einer deutschen Hochzeitsfeier fliehn.

Das Kirchlein zu Wenigenjena aber ist durch ihn wieder, was es ehedem war, zu einem Wallfahrtsorte „Unserer lieben Frauen“ geworden. Manche empfindsame Liebende hat es dahin gezogen, um auf denselben Altarstufen, wo Schiller und Lotte gekniet, die priesterliche Weihe ihres Bundes zu empfangen. Wo Schiller’s Odem geweht, wohin sein Fuß getreten, die Liebe seines Volkes hat die Stelle geweiht für alle Zeiten.

Fr. Helbig.



  1. In alten Biographien Schiller’s, selbst in der seiner Schwägerin, mit alleiniger Ausnahme der von Palleske, steht der 20. Februar als Trauungstag. Die Kirchenbücher von Jena und Wenigenjena geben aber übereinstimmend den 21. als den Tag des Aufgebots und den 22. als Trauungstag an. Dazu kommt, daß Schiller in dem Briefe nach der Hochzeit an Körner selbst den 22. als Tag der Trauung angiebt.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_375.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)