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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

schlafen, Mario. Ja?“ sagte er endlich beim Dessert, indem er seine leeren Augen einen Moment auf mich richtete. Ich konnte kaum ein Ja hervorbringen.

„Aber würde Ihnen Jendrik nicht mehr nützen?“ fügte ich hinzu.

„Ich will aber nicht schlafen. Und mit Jendrik kann ich nicht plaudern. Ich darf nicht schlafen, verstehen Sie?“

Der geistreiche spöttische Gesellschafter war weg, verschwunden, und ein total Verrückter war an seine Stelle getreten. Der Graf war wirklich ein doppeltes Wesen, wie ihn mir der Armenier geschildert hatte.

„Jendrik, was thut er denn in solchen Sturmnächten, wie die heutige ist?“ fragte ich im Corridor den Kammerdiener, während die Bora an den Fensterflügeln rüttelte und durch die Kamine pfiff wie in einem englischen Moderomane. Der Alte war selig, wenn er geheimnißvoll thun konnte. „Ach Gott, nichts! Er wehrt sich nur gegen das Einschlafen und läßt Einem keine Ruhe und schwatzt fort und sieht Gespenster; und läßt man ihn einschlummern, so fährt er nach einigen Minuten mit einem Schrei in die Höhe und stürzt aus dem Zimmer und schreit, der Vampyr hänge ihm am Halse, und rebellirt Alles aus dem Schlafe und kriegt seine Krämpfe und der Doctor muß geholt werden, und der schüttelt den Kopf und sagt: es seien allerdings alle Anzeichen des Vampyrismus vorhanden, und diese Bestätigung wirft den gnädigen Herrn in neue Krämpfe. Aber der Arzt hat uns gesagt, man müsse auf die fixe Idee eingehen, sonst stehe er für nichts. Also um Gotteswillen, stimmen Sie nur bei, wenn der gnädige Herr Etwas sieht, und lassen Sie ihn beileibe nicht einschlafen. So will’s der Herr Plazowski.“

„Wirklich, Jendrik?“

„Jawohl. Vor fünf Jahren, als der Herr Graf zum letzten Male den Winter hier zubrachte, hatte er sich einen ungarischen Edelmann mitgebracht, einen Säufer und Schlemmer, und da sind sie die ganze Nacht hinter der Flasche gesessen, sind aber auch regelmäßig gegen Morgen eingeschlafen, und die Anfälle waren täglich da. Warum mußte aber auch der Teufelsdoctor den gnädigen Herrn zum ‚Beobachten‘ herlocken! Ueberhaupt, wollen Sie Etwas wissen, Herr Chevalier?“ fügte der Alte mit seiner fatalsten und geheimnißvollsten Miene hinzu.

„Nun, Jendrik?“ fragte ich gespannt.

„Werden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß ich ebenfalls von dem Vorhandensein eines Vampyrs überzeugt bin, und wollen Sie wissen, wer dieser Vampyr ist?“

„Jendrik!“

„Der Herr Doctor Plazowski selber.“

Das Schlafzimmer war sehr gemüthlich hergerichtet. Das Feuer loderte, feiner Ambrastaub war in die Flammen geworfen worden und durchduftete sanft das Gemach, die Wachskerzen brannten ruhig auf dem Guéridon, und die funkelnden Weinkaraffen vollendeten das gemüthliche Stillleben. Ich lag müde auf dem Divan. „Wäre es nicht besser, wenn Sie sich zu Bett legten, George Kypreanitsch?“ fragte ich, „Ihr Unwohlsein scheint fieberhaft zu sein – und das verlangt Ruhe, Schlummer und eine Schale heißen Thees.“

Der Graf saß in einem Fauteuil und las den „Pan Podstoli“ des Ignaz Krasicki. Er legte das Buch auf das Tischchen neben sich und fuhr mich ungeduldig an. „Sie haben mich also noch nicht verstanden? Ich habe das Fieber, ja, aber ich kenne meinen Zustand und die Mittel.“ Er schaute sich, während er sprach, von Zeit zu Zeit scheu um. Das Zucken seiner Lippen war zu einem nervösen kichernden Tone geworden, der mich im Verein mit dem heulenden Sturme draußen beinahe zum Wahnsinn brachte. Ich wandte mich scheu von dem Grafen ab. „Verzeihen Sie, daß ich Sie in Ihrer Lectüre gestört habe.“

„Nein. Ich will nicht mehr lesen. Plaudern wir.“

Er setzte sich auf die Divanecke, die noch frei war, und summte vor sich hin.

„Haben Sie schon einen Vampyr gesehen?“ fragte er dann plötzlich.

Nous y voilà! Ich war so erschrocken, wie ein kleines Kind, aber anstatt um Hülfe zu schreien, antwortete ich so ruhig als möglich: „Nein. Es giebt auch keine.“

Er stand auf und fing an im Zimmer auf und ab zu schreiten, wobei er jeden Augenblick den Kopf umwandte; es war, als fühle er hinter sich ein Wesen, welches er umsonst zu erblicken strebte, und ich folgte unwillkürlich stets der Richtung seiner Blicke. Und so auf und ab eilend und sich umsehend und manchmal zu mir tretend, erzählte mir der schreckliche Mensch, daß er einst von einem Vampyr heimgesucht worden sei, und nur die Geschicklichkeit Plazowski’s habe ihn von gänzlicher Verblutung gerettet. Er beschrieb mir, daß man beim Nahen des Gespenstes einen unwiderstehlichen Schlafreiz verspüre. Man fühle ein kühlendes Fächeln und einen angenehmen Kitzel am Halse. Der Doctor habe ihn, wie gesagt, durch eine heroische Cur und nebenbei durch Anwendung des Weihwassers gerettet; aber sobald der erste Schnee falle, der (wie in einer alten Krakusen-Chronik, die ihm Plazowski geliehen habe, zu lesen sei) die Todten wecke, fühle er wieder deutlich die Nähe des Gespenstes, und nur Wachen und Gesellschaft könne ihn schützen. Und es sei hinter ihm. Er fühle das Fächeln und Flattern des durstigen Unholds – nur sehen, sehen könne er ihn nicht.

„Erzählen Sie mir eine Geschichte, Mario, eine heitere Geschichte. Sie sollen morgen alle Ihre Lieblingsspeisen haben und den ganzen Tag schlafen können! Ich bin krank, wissen Sie. Oder spielen Sie mir den Arditi-Walzer.“

Seine Stimme war heiser, hastig, gepreßt; sein Auge stier und roth umrändert, sein Gesicht wachsbleich. Der starke, graziöse, distinguirte Mann, den ich bei den rauschenden Klängen einer Mazurka in einem brillanten Salon von Czernowitz kennen gelernt hatte, war eine gebrochene, verwirrte, verrückte, von Entsetzen geschüttelte Creatur geworden. Es zuckte und riß in allen seinen Gliedern und ein Schauer durchfröstelte ihn. Da zum ersten Male lernte ich die furchtbare, unabweisbare, tyrannisch zerstörende Gewalt der schwarzen Melancholie kennen, die auf so intensive Art nur in den ruthenischen Ländern auftritt. Sie äußert sich zwar nur in Anfällen, welche in bestimmten Perioden wiederkehren und für die übrige Zeit weder geistige noch körperliche Spuren zurücklassen, aber die Anfälle selbst sind grauenhaft. Die Nacht, wo ich furchtsam und selbst in Fieber gejagt dem auf und ab wankenden, zitternden, unruhigen, seufzenden Grafen tändelnde Walzer vorspielte und Anekdoten von dem geizigen Leo Sapieha und den römischen Pulcinellen erzählte, wird mir unvergeßlich bleiben.

Zwei Tage später reiste ich ab. George Kypreanitsch mußte bleiben. Der Arzt sagte, eine Reise im Winter sei bei dem geschwächten Zustande und der Blutleere des Grafen gefährlich. Der gute Doctor Plazowski bezog, beiläufig gesagt, für den Besuch ein Honorar von zwei Ducaten. –

Zwei oder drei Jahre später traf ich den Grafen in Jassy als den alten, geistvollen, etwas sarkastischen Cavalier wieder, als welchen ich ihn kennen gelernt hatte. Ich fragte mich mit Erstaunen, ob das wirklich derselbe Mann sei, der in jener längstvergangenen Sturmnacht vor einem Nichts wie ein Kind gezittert hatte.

„Sie sind immer wohlauf, Monseigneur?“ fragte ich ihn en passant zwischen einer Partie Yerrilage und einem Contretanz.

„O ja, Duschinka. Ich bin jetzt ganz gesund.“

„Und was macht Krasów?“

Er lachte. „Ich habe keine Idee davon. Ich bin seit drei Jahren nicht dort gewesen. Ich fürchte mich vor dem Doctor. Sie wissen vielleicht nicht, daß ich mich verheirathet habe. Meine Frau hat mich von der schwarzen Melancholie nicht anders zu retten gewußt, als indem sie Krasów verkaufte und die Clausel in den Contract setzte, daß ich von dem neuen Besitzer nie zur Jagd eingeladen würde.“




Ich glaube, daß am Ende doch der alte Jendrik Recht hatte, der den gelehrten Doctor Plazowski für den eigentlichen und echten Vampyr hielt, welcher dem armen George Kypreanitsch zwar kein Blut, wohl aber so viel Ducaten wie möglich ausgesaugt hatte.




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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 412. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_412.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)