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bestellt, folgte aber bald dem Prinzen von Bentheim-Tecklenburg bis zum Jahre 1824 als Erzieher auf die Universitäten Heidelberg, Bonn und Marburg. Um sich einen ausgedehnteren Wirkungskreis zu verschaffen, bestand Temme 1832 die dritte juridische Prüfung und wurde alsdann als Assessor an das damalige Hofgericht von Arnsberg versetzt.

Von hier aus beginnt sein Beamten-Wanderleben, das ihn, den verschiedenen Stufen der richterlichen Hierarchie folgend, in alle Provinzen des preussischen Staates führte, bis er bald nach der Märzrevolution von seinem Posten als Director des Land- und Stadtgerichts zu Tilsit als Staatsanwalt an das Criminalgericht zu Berlin berufen wurde.

In demselben ereignißvollen Jahre 1848 wurde Temme im Kreise Ragnit zum Abgeordneten in die National-Versammlung erwählt, und hiermit tritt er in seine politische Laufbahn. Es ist bekannt, wie ernsthaft er seine Ausgabe als Volksvertreter nahm, mit welcher Entschiedenheit er die Sache der Demokratie gegenüber der Junker- und Hofpartei wie dem kleinen Häuflein der ewig vertrauensvollen Altliberalen vertrat. Das Ministerium Auerswald-Hansemann hatte mit seinem Amtsantritt die Verpflichtung übernommen, Temme und einige andere mißliebige Abgeordnete, welche hohe Richterposten bekleideten, aus ihren Aemtern zu entfernen. Während Temme Staatsanwalt am Criminalgericht zu Berlin war, wurden von der Reactionspartei an seine amtliche Thätigkeit Anforderungen gestellt, welchen er unmöglich entsprechen konnte. Man brauchte gefügigere Werkzeuge, und darum wurde er im Juli trotz seines Protestes zum Director an das Oberlandesgericht zu Münster befördert. Doch kaum hatte er sein neues Amt vier Wochen lang verwaltet, als er wieder in Ragnit zum Abgeordneten gewählt wurde und in Folge dessen sofort nach Berlin zurückkehrte, wo er bekanntlich den thätigsten Antheil an den Sitzungen der Nationalversammlung nahm, bis sie am 5. December aufgelöst wurde.

„Daß wir in Preußen nicht mehr im constitutionellen Staate leben,“ hatte er auf der Tribüne gesagt, „ist wohl kein Geheimniß mehr. Man weiß es in Preußen, man weiß es in Deutschland. Wir haben einen kurzen constitutionellen Traum geträumt; das ist das Ganze. Der Traum ist vorüber, der crasseste Absolutismus ist wieder da.“

Die Reaction warf ihre Larve ab, die Epoche der Verfolgungen und der Demokratenhetze war gekommen. Mehrere preußische Justizcollegien begannen den Reigen mit der Denunciation derjenigen ihrer Mitglieder, welche in der Kammer für die Volkssache gesprochen und gestimmt hatten. Man erinnert sich der Schritte, welche damals die Oberlandesgerichte zu Ratibor und Bromberg in Betreff ihrer Präsidenten Kirchmann und Gierke gethan, des Briefes, welchen der Obertribunalspräsident Mühler an Waldeck gerichtet, um ihn zum Rücktritt zu bewegen. Auch das Oberlandesgericht zu Münster hatte sich in einer Immediateingabe an den König gewendet, mit der Bitte, „sich außer aller amtlichen Beziehung zu dem Director Temme gesetzt zu sehen“.

Diese Eingabe wurde vom Justizminister Rintelen dem auf seinen Posten nach Münster zurückgekehrten Volksvertreter „zur Entschließung“ mitgetheilt. Man wollte ihn veranlassen, freiwillig aus dem Amte zu treten. Als Antwort erklärte Temme in der Sitzung des Collegiums, er sei der Meinung, daß Männer, die Kraft und Muth in sich fühlen, dem Unrechte überall entgegenzutreten, in der gegenwärtigen Zeit doppelt und dreifach die Verpflichtung hätten, auf ihrem Posten auszuharren.

Und nun geschah das Außerordentliche, daß das Oberlandesgericht zu Münster, dasselbe, welches in einer Eingabe an den König als Ankläger gegen seinen Director aufgetreten war, sich auch die Rolle des Richters über ihn zutheilte und, gestützt auf seine Theilnahme an dem bekannten Steuerverweigerungsbeschluß der Nationalversammlung, eine Untersuchung wegen Hochverraths gegen ihn eröffnete. Temme wurde verhaftet und in eine Zelle des Zuchthauses gesperrt, die unmittelbar vorher von fünf darin detinirten gemeinen Verbrechern hatte geräumt werden müssen. Das Oberlandesgericht zu Münster hatte für seinen Director kein anderes Arrestlocal zu seiner Verfügung. Als dies Factum im Parlamente zu Frankfurt zur Sprache kam, war Herr von Vincke kühn genug es als unwahr zu erklären. Der edle Freiherr hat sich leider für zu vornehm gehalten, eine Behauptung zu widerrufen, von deren Falschheit er sich seither sicher überzeugt hat.

Ohne Angabe irgend eines gesetzlichen Grundes und dem Wortlaut des Art. 86 der Verfassung zuwider, beschloß zugleich dasselbe Gericht, einen Tag nach der Verhaftung des Angeklagten, dessen Suspension vom Amte, welche Maßregel das Justizministerium später mit Entziehung der Hälfte des Gehalts begleitete. Temme protestirte. Er berief sich auf die unbestreitbare Incompetenz des Gerichts, welches durch seine Immediateingabe an den König im Voraus seine Parteinahme gegen ihn bekundet habe und nach den Gesetzen unfähig sei, sein Richter zu sein. Er berief sich zugleich auf die Unverletzlichkeit der Abgeordneten, die jede gerichtliche Untersuchung wegen der von ihnen in dieser Eigenschaft vorgenommenen Handlungen verbiete. Der Justizministcr verweigerte die Entlassung aus dem Kerker, doch ging er auf das Perhorrescenzgesuch des Angeklagten ein und übertrug die Untersuchung dem Oberlandesgericht zu Paderborn. Dieses erklärte sich, wie vorauszusehen war, für incompetent und schickte dem Minister die Acten zurück. Der Minister sendet sie ein zweites Mal nach Paderborn und erhält sie ein zweites Mal zurück. Temme bleibt indessen im Zuchthans und kann keinen Richter erhalten! Alle Beschwerden sind nutzlos. Dabei war er unter den 220 Abgeordneten zur Nationalversammlung, die mit ihm den Steuerverweigerungs-Beschluß gefaßt, von denen sogar mehrere im Münsterschen Gerichtsbezirk wohnten, der Einzige, der so behandelt wurde. Kein Anderer außer ihm war nur zur Voruntersuchung, geschweige zur Haft gezogen worden.

Am 8. Januar 1849 wurde indessen Temme vom Kreise Neuß zum Abgeordneten nach Frankfurt gewählt, trotzdem aber erst am 28. Januar aus dem Gefängniß entlassen. Die Untersuchung wurde nun dem Kammergericht zu Berlin übertragen. Eine Entscheidung auf Niederschlagung des Processes und Aufhebung der Amtssuspension erfolgte jedoch erst, als Temme von Neuem im Kerker saß, angeklagt wegen Theilnahme am Stuttgarter Rumpf-Parlament. Nachdem letzteres durch Waffengewalt aufgelöst worden, war Temme zu seiner Familie nach Berlin zurückgekehrt. Auf seine Anfrage beim Minister Simons wurde ihm von diesem das Temme bereits unterwegs bekannt gewordene Gerücht seiner bevorstehenden zweiten Verhaftung bestätigt und er aufgefordert, sogleich nach Münster zurückzukehren. Temme wollte nicht, wie man es wahrscheinlich gehofft, seinem Processe aus dem Wege gehen. Ungeachtet der traurigsten Verhältnisse, in denen er sich von den Seinigen trennen mußte, begab er sich nach Münster und wurde wiederum im Zuchthaus untergebracht.

Es versteht sich von selbst, daß er wie beim ersten Processe und aus denselben Gründen gegen das Oberlandesgericht zu Münster Recusation einlegte und sich zugleich wiederum auf seine Unverletzlichkeit als Abgeordneter stützte. Seine Einwendungen blieben diesmal vollständig unbeachtet. Nachdem er schon ein halbes Jahr im Gefängniß gewesen und die Untersuchung noch gerade so stand wie am ersten Tage seiner Verhaftung, gab er endlich den dringenden Bitten seiner Frau und aller seiner Freunde nach und beschwerte sich beim Justizminister Simons über die Verzögerung seiner Sache. Eine Antwort wurde ihm nicht zu Theil. Dagegen wurde er vierzehn Tage darauf, nach Verlauf von beinahe fünf Monaten seit dem letzten Verhöre, wieder einmal vernommen. Man behielt ihn nun noch volle drei Monate im Gefängniß, ehe man seinen Proceß zur Entscheidung brachte.

Mußte er sich in seiner einsamen Zelle nicht von aller Welt verlassen wähnen? Doch er war es nicht ganz. Das Volk, das ihn schon einmal aus dem Zuchthause befreit hatte, sollte jetzt wenigstens zur Beschleunigung seiner Befreiung mitwirken. In der That war Temme schon kurze Zeit nach seiner Verhaftung im Kreise Koesfeld zum Abgeordneten in die erste Kammer gewählt worden. Allein dadurch wurde diesmal seine Freilassung nicht bewirkt. Nachdem Waldeck, Jacobi, Grün und mehrere andere politische Angeklagte von den Geschworenen freigesprochen waren, drängte die gesammte Reaction auf Errichtung eines Staatsgerichtshofs für politische Verbrecher hin. Der Gedanke lag nahe, daß Temme zu einem der ersten Opfer dieses Gerichtes ausersehen sei. Die ganze Provinz Westphalen gerieth in eine Bewegung, die sich nicht blos den demokratischen, sondern in gleicher Weise den conservativen Kreisen mittheilte. Von allen Seiten vereinigte man sich zu Adressen für eine Beschleunigung der Untersuchung. In Folge dieser Kundgebungen fand man sich endlich bewogen, den Termin zur öffentlichen Verhandlung vor den Geschwornen

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