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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

stand neben einem Beichtstuhl und ließ keine fünf Minuten vorübergehen, ohne den Kopf nach oben zu drehen. Ich folgte den Augen und sah die Liesel neben einem großen Notenblatte, das sie vor’s Gesicht hielt, hervorblinzeln, wie ein Sonnenstrahl am Rand grauer Wolken. Es war ein feines dunkeläugiges Gesicht. Die Spitzen an dem goldgeschmückten Häubchen umgaben es mit einem leichten Schattenrahmen. Nachdem ich mich eine Weile an diesem Spiel ergötzt, stieg ich hinauf. Man mußte von der Emporkirche noch einige Stufen zum Chore hinauf. Der Lehrer stand neben drei riesigen Balken an der Orgel, den Hebeln des Blasebalges. Er grüßte mich mit herablassendem Nicken, wie ein Feldherr am Tage der Schlacht einen Zeitungscorrespondenten.

Der Förster, mit dem ich ein Gespräch anknüpfen wollte, war nicht in guter Laune; er konnte es nicht leiden, wenn man ihn ermahnte, Tact zu halten, und das hatte heute der Lehrer schon ein halbes Dutzend Mal gethan. Mißmuthig winkte er mir mit der Achsel und meinte: „Der T– soll den lateinischen Narren holen! Es ist aber noch nicht aller Tage Abend, wart nur!“

Zwei Buben, die an der Chorbrüstung vorn standen, drehten sich dann und wann um, und spähten, ob sie nicht beobachtet würden. Beide hatten Lippen und Backen schwarz geschmiert. Sie hatten Kirschen verzehrt und belustigten sich, wie es schien, damit, die Kerne mit dem Zeigefinger nach der Tiefe zu schnellen. Liesel mußte diesen Unfug sehen, aber sie sah ihn nicht. Hinter ihr standen zwei zaghafte Backfische, welche in ihrer Verwirrung sich an ihre Schürzen klammerten; die Angst stand ihnen in den Augen geschrieben.

Auf der andern Seite des Chors stand ein großer Kasten mit allerlei Musikalien. Hinter diesem hörte ich ein Geräusch, welches nicht von einem Musikinstrumente herkam. Ich sah hin. Simmer, der wackere Trompetenbläser, schnarchte, auf den Boden in einem Winkel zusammengekauert. Eben kam die Ziehposaune ihn zu wecken.

„Der Kerl hat heute in aller Früh schon wieder trinken müssen, um sich seinen Katzenjammer zu vertreiben. Sechsunddreißig Halbe Bier – es is ja dengerscht nimmer schön.“

Das Weitere hörte ich nicht mehr, denn in diesem Augenblick hob sich der Tactstock des Chorregenten und der Discant begann. Bald wirbelte die frische Stimme Liesel’s hinein, und der Strom der Töne floß in die weihrauchduftende Kirche nieder. Es klang nicht so übel, wie ich dachte. Der Förster, der vorher nach Kräften auf den Lehrer geschimpft hatte, schaute jetzt unverwandt nach ihm, statt nach seinen Noten, weil ihm diese weniger verständlich waren, als das Kopfnicken und Maulaufreißen vom erhabenen Pfühl. Der Meßner mit seinem weißen Spitzenhemd und rothen Chorrock schien mir der schlimmste von Allen, denn er that nur, als ob er sänge – in der Wirklichkeit aber stand er auf den Fußspitzen und schaute nach dem Beichtstuhl hinab, an dem die blauen Augen des Expeditions-Prakticanten nach oben Wacht hielten. Es war mir bald einleuchtend warum.

Einmal – aber auch nur einmal gab ich die Schlacht verloren. Kurz vor dem Gloria hatte die Liesel ein Solo, welches wie ein lauter Jubelruf an die Wölbung scholl. Aber mitten in’s Solo fiel Simmer’s Trompete und, als der Lehrer darüber entsetzt in die Höhe fuhr, auch des Forstwarts Pauke. Jemehr der Regent herübergesticulirte, desto mächtiger dröhnten die kupfernen Becken. Ein dickbackiger Junge lachte laut auf, doch ein Hieb vom Fiedelbogen seines glatzköpfigen Nachbars verwandelte seine Wonne in Zähneklappen.

Den Heiligen an den Wänden mag es geschaudert haben vor den Kraftworten des Herrn Chordirectors. Sicher aber ist, daß sie der frommen Kunst ihren Schutz nicht entzogen. Die letzten Töne verhallten feierlich und auf dem Gesichte des Lehrers glänzte ein Freudenroth wie im Gewände der heiligen Elisabeth im Glasgemälde des Fensters, auf das die Sonne schien. Meine Glückwünsche begegneten dem Stolz des Erfolgs. Nachdem ich mich mit dem Forstwart in’s Wirthhaus verabredet, stieg ich die Treppe hinab. Vor mir gingen der Meßner und die Liesel; ein Händedruck von ihm wurde mit süßem Lächeln belohnt. Beim Meßner ist eben das Haus fetter bestellt, als Gegenwart und Zukunft des schmächtigen Prakticanten. Während dieser umsonst Briefmarken aufpappt, schneidet jener die saftigsten Gänsebraten an.

Der Simmer wurde heute Abends bewußtlos aus dem Wirthshaus getragen, und die Chöre, welche man in der Nacht nach der „lateinischen Messe“ beim obern Wirth hörte, hatten wenig Ähnlichkeit mit der Partitur des italienischen Meisters.




Deutschlands große Werkstätten.
Nr. 1. Die Schöpfungen eines Artillerie-Lieutenants.

Ein französischer Artillerie-Lieutenant brachte es bekanntlich, wie man zu sagen pflegt, „durch Kopf, Genie und Ellbogen“ zum mächtigen Kaiser Napoleon. Ich will heute erzählen, wie ein preußischer Artillerie-Lieutenant durch gleiche Mittel zum großen Industriellen, nebenbei zum Commerzienrath und Millionär, aber auch zum Wohlthäter von Tausenden fleißiger Arbeiter, zum väterlichen verehrten Freund seiner Beamten, zum Begründer eines deutschen Seraing geworden ist. Der jetzige Commerzienrath Kulmiz in Saarau in Schlesien hatte 1842 schon die hierarchische Stufenleiter bis zum Premierlieutenant der Artillerie erklommen, als ihm ein guter Genius den Gedanken eingab, er könne seinen Thätigkeitstrieb auch wohl besser, als auf dem Parade- und Exercirplatze verwerthen. Er nahm seinen Abschied, steckte sein bescheidenes Vermögen in eine Anzahl Erdkarren, Schaufeln, Spaten, Pferde und übernahm die Erdarbeiten an einzelnen Theilen der Breslau-Freiburger und der Niederschlesisch-Märkischen Bahn. Das war der bescheidene Anfang einer immensen industriellen Thätigkeit.

Bei Gelegenheit dieser Arbeiten wurden Anzeichen von Braunkohle in der Nähe des kleinen Dörfchens Saarau entdeckt, und es bildete sich eine Gewerkschaft, welcher Kulmiz als Haupttheilnehmer und Leiter beitrat. Das Kohlenlager erwies sich als ein sehr mächtiges und auch wissenschaftlich sehr interessantes. Der botanische Garten Breslaus verdankt der Freundlichkeit von Kulmiz ein prachtvolles Exemplar eines fossilen Baums, der in Saarau gefunden ist.

In dieser materiellen Welt hat aber das wissenschaftliche Interesse kaum einen in Thalern und Groschen ausdrückbaren Werth, und da der Feind des Guten das Bessere ist, d. h. da die Waldenburger Steinkohlen so nahe waren, so wollte Niemand die Braunkohle kaufen oder wenigstens ihrem Werthe entsprechend bezahlen. Hatte ja doch Kulmiz selbst die Eisenbahn gebaut, welche die Steinkohlen so billig heranführte. Es galt jetzt an der Grube selbst eine Verwerthung für die Braunkohle zu schaffen. Kulmiz gründete daher im Jahre 1846 eine Glashütte – die Idahütte – für Flaschenglas, das mit den aus der Braunkohle erzeugten Gasen, sogenannten Generatorgasen, geschmolzen werden sollte. Die Braunkohle wurde getrocknet und in Schachtöfen durch eingeblasene Luft verbrannt. Die am Roste erzeugte Kohlensäure wandelt sich beim Durchpassiren durch die darüberliegenden glühenden Kohlenschichten in Kohlenoxyd um, ein brennbares Gas, welches in den Ofen geleitet und durch mehr Luft verbrannt wird. Dieses in der Technik vielfältig, namentlich für solches geringhaltiges, pulverförmiges Brennmaterial, angewendete Verfahren genügte indessen nicht, indem der beigemischte ziemlich beträchtliche Antheil Wasserdampf die Temperatur der Verbrennungsproducte zu sehr herabdrückte. In neuerer Zeit will bekanntlich Siemens durch seine sogenannten Regenerator-Oefen, in denen er sehr stark erhitzte Luft, sowohl zur Erzeugung des brennbaren Gases als zur schließlichen Verbrennung desselben anwendet, die Aufgabe gelöst haben.

Damals war diese Methode noch nicht bekannt. Trotz der mit großer Ausdauer durchgeführten Versuche, die bedeutende Summen verschlangen, wollte es nicht gelingen, allen Anforderungen entsprechende Flaschen darzustellen. Das dazu angewendete Thonerde-Kalk-Natronglas ist sehr schwer schmelzbar; wenn man die Abhülfe in einer gesteigerten Natrondose sucht, macht man das Glas zu theuer und zu wenig widerstandsfähig gegen chemische Einflüsse. Nothgedrungen mußte die Braun- der Steinkohle weichen. Anfangs erforderte der anspruchsvolle Glasofen noch die beste Stückkohle; jetzt ist man in Saarau wenigstens dahin gekommen, mit Hülfe besonders construirter Treppenroste den sonst fast werthlosen Staub-Abfall der Steinkohle verwenden zu können.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 446. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_446.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)