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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Malice. „Da mußt Du schon Deinen Hausdoctor fragen!“

Zucker-Toni hatte indeß die Quaste an Grüneisen’s Pfeife erschnappt und schrie dabei aus vollem Halse: „Ich will es haben! Ich will es haben!“

Grüneisen hatte Mühe, nicht nur die Quaste, sondern auch die Pfeife vor dem Untergang zu retten, als es ihm aber gelungen war, lärmte und tobte das Kind, daß es dem Ersticken nahe kam.

„Mein Gott!“ jammerte der Stegwirth, das Kind auf den Arm nehmend. „Still, lieber Toni, still! Ich kaufe Dir eine schönere, eine goldene, nur still!“

„Ich will die haben,“ schrie Zucker-Toni, mit den Händen zurückgreifend, während er von seinem bemitleidenswerthen Pflegevater in’s Haus zurückgetragen wurde.




4.

Den Hintergrund des Burgsauer Thalkessels schließt ein mächtiger, kahl aussehender Berg ab. Seine drei nebeneinander stehenden Spitzen oder Zacken, welche in ihrem Zustande der äußersten Verwitterung das Aussehen phantastischer Kronen besitzen, können vielleicht die ersten christlichen Bewohner des Thales veranlaßt haben, ihn den Dreikönigsberg zu nennen. Die Front bildet eine unzugänglich steile, obgleich wild zerrissene Wand, deren rastlos sich herabschiebendes Gerölle keinen Grashalm, noch weniger einen Stamm festen Fuß fassen läßt. Nur an einigen, von hervorsickerndem Wasser feuchten Stellen vermag sich dünnes, schimmelähnliches Moos festzuhalten.

Diese Wand schießt in eine finstere, schwarze Schlucht hinab, auf deren höchst ungleichem, morastigem Boden eine urwaldähnliche Vegetation aller möglichen Holzarten, Sumpf- und Farrenkräuter im wildesten Durcheinander tausendjähriger Felstrümmer und vom Sturm hingestreckter, faulender Riesenstämme wuchert. Der Ort ist schaurig, auch ohne den unheimlichen Aufputz von Geschichten, denen zufolge unsaubere Mächte ihr Wesen hier treiben sollen, durch die dumpfe, kühle Kellerluft und den beständigen Modergeruch, wie auch als beliebter Aufenthalt von Molchen und Schlangen und allen Sorten von Nachtvögeln, welche in den finsteren Felsspalten mit Vorliebe nisten.

Die Schlucht ist von den Niederlassungen der Menschen weit entfernt und, da dort kein Weg zu einer Alm oder auf einen Holzplatz hindurchführt, wenig besucht und wohl deshalb besonders gescheut. Dennoch steht am Eingange, an einem Bächlein, welches aus dem nahen Dickicht ungestüm hervorbricht, ein zwar hölzernes, aber im besten Zustande befindliches Haus. Es steht auf der Stelle einer baufälligen Baracke, welche sich daselbst von Alters her befunden, und zeigt, daß sich der Wohlstand der dort domicilirenden Familie bedeutend gehoben haben muß. Die ganze Vorderseite ist mit einem ungewöhnlichen Reichthum von Gemälden geschmückt, so daß beinahe alle Patrone dargestellt scheinen, welche vor den Krankheiten schützen, von denen die Bewohner der Gegend am häufigsten geplagt werden. Von diesen Schutzheiligen umgeben, nimmt das Mittelbild den weitesten Raum ein. Es stellt einen der erstaunlichsten Heilerfolge vor, welcher vor langen Zeiten vorgekommen, seitdem aber nicht wieder erreicht worden ist, nämlich die Auferweckung des verstorbenen und bereits begrabenen Lazarus.

Der überaus grelle Ausdruck dieser Kunstwerke, welche sämmtlich vom Schmierpeter stammen, verräth durchwegs die Absicht des Meisters, seinen Werken wenigstens durch das dickste Auftragen der Farben unvergängliche Dauer zu verleihen.

Es ist klar, daß diese Bilder nicht allein aus landesüblicher Gewohnheit da oben prangen, sondern durch ihren innigen, ideellen Zusammenhang noch einem anderen Zwecke dienen und die Beschäftigung und den Beruf des Hauseigenthümers bezeichnen, welcher unter dem schlichten Namen „der alte Balthasar von der Dreikönigswand“ eine große medicinische Berühmtheit in der weitesten Umgegend der Burgsau ist.

Dieser große Arzt, frühzeitig verwais’t und verlassen, hatte seine Studien bei Leonhard’s Vater auf dem Unteranger als sogenannter Kühbube begonnen und war dreißig Jahre alt geworden, als er sich zum Hirten auf der Gemeinde-Alpe emporgeschwungen hatte. In dieser eigentlich selbständigen Stellung, in welcher er neunzig bis hundert Stück Vieh zu hüten hatte, war er bereits einige Jahre, als in der Burgsau und den angrenzenden Bergbezirken eine Viehseuche ausbrach, welche Opfer auf Opfer forderte und der Schrecken der ganzen Gegend wurde. Nur ausnahmsweise war der Stall irgend eines Hofes verschont worden, dagegen war keine einzige Alm zu finden, welche nicht die bedeutendsten Verluste erlitten hätte. Blos der Gemeindehirt Balthasar hatte seinen ganzen Viehstand unversehrt erhalten, wie wenn die furchtbare Todesmacht, welche auf den zunächst liegenden Sennhütten wüthete, nicht gewagt hätte, die Hecken und Zäune seiner Alm zu überschreiten.

Es war in der That kein gewöhnliches Schauspiel, als Balthasar im Herbst noch unter dem Nachhall einer solchen Katastrophe seine kranzgeschmückte Heerde mit allen traditionellen Ehren von der Alm hinabführte, welche nur demjenigen zukommen, dessen Hüteramt ohne alle Unfälle abgelaufen ist. Die Leute, deren jeder Einzelne eine Klage über Verluste noch frisch im Herzen trug, betrachteten den Gemeindehirten wie einen Wundermann und hätten sich nicht einreden lassen, daß hier nur Zufall gewirkt haben sollte.

Balthasar hatte anfangs auf die allseits an ihn gestellten Fragen, welche Mittel er angewandt habe, keine Antwort zu geben, als man ihm aber sein Geheimniß abkaufen wollte, erspähte er seinen Vortheil und stand endlich nicht an, seinen geheimen thierärztlichen Kenntnissen den Erfolg zuzuschreiben.

Von diesem Augenblicke an war er der gesuchteste Thierarzt, um welchen sich alle Welt riß, und nicht lange darauf mußte er sich, vom allgemeinen Vertrauen berufen, auch entschließen, Menschen zu curiren. Er hatte natürlich seinen Hirtenstab sofort weggeworfen und den neuen Beruf ergriffen, an den er nie zuvor gedacht und bei dessen Ausübung er sich seitdem einen wahren Wunderglauben an seine Heilkunst erworben und alle Taschen gefüllt hatte.

Innerhalb einer dreißigjährigen Praxis hatte er jedoch zwei Drittel dieser Zeit schwere Verfolgungen zu erleiden gehabt, weil ihn Weißbart’s Vorgänger, durch Balthasar’s erdrückende Concurrenz zur Raserei gebracht, durch gerichtliche Strafurtheile unschädlich zu machen und zu vernichten gesucht hatten. Diese Epoche dauerte so lange, bis endlich sich der gegenwärtige Hofrath von Zintner entschloß, den Pfuscher ganz geheim zur Consultation zu berufen, nachdem er weder von dem befugten Ortschirurgen, noch von anderen legitimirten Aerzten von einem hartnäckigen Uebel befreit worden war. Die Cur gelang, und Balthasar war post hoc oder propter hoc ein gemachter Mann. Der dankerfüllte Hofrath hatte ihm nämlich nicht nur eine schöne Geldsumme, sondern auch ein Heilpatent zum Geschenke gemacht.

Letzteres war die Quelle, aus welcher Weißbart’s Ingrimm gegen den Hofrath floß und ein tiefer Groll gegen den Stegwirth hervorströmte, weil dieser, als einer der zahlungsfähigsten Insassen, sich den alten Curpfuscher zum Hausarzt gewählt hatte.

Es war noch frühester Morgen, die Sonne hatte die Linien der hohen Bergrücken kaum überstiegen. Der alte Balthasar hatte das Bett schon längst verlassen und war bereits als Pharmaceut thätig, weil er den ganzen Tag über bis in die späteste Nacht von einem Krankenbette zum anderen, aus einem Stalle in den anderen zu wandern hatte. Er stand mit umgebundener Schürze in seiner Küche vor einem Kessel und sott ein Tränklein, welches wie Weihwasser hochgeachtet und in allen Bauernhäusern vorräthig gefunden wurde.

Balthasar war ein Mann von fünfundsiebenzig Jahren, jedoch so wohlerhalten, daß er für einen vorgerückten Fünfziger angesehen werden konnte. Seine Gestalt war hoch und breit, weniger dick, als knochig, seine Haltung noch immer kerzengerade, sein Kopf sehr bedeutsam. Seine hoch und breit gebaute Stirn bekundete kräftigen Verstand, die tiefliegenden grauen Augen hatten etwas Träumerisches von der Gewohnheit angenommen, viel nach innen zu schauen. Dieser obere Theil des Gesichtes mit der wohlgeformten Stumpfnase machte den Eindruck, daß man nicht einen Alltagsmenschen vor sich habe, dagegen war die untere Partie so beschaffen, daß man meinen konnte, eine Verwechslung habe stattgefunden und jene ursprünglich einem anderen Menschen gehört. Der Mund war roh, wulstig und fast thierisch zu nennen. Zwei auffallend breite und tiefe Falten, die zu beiden Seiten hinabliefen, während die übrigen Gesichtsrunzeln wie mit einem Rasirmesser fein gezeichnet waren, trugen zur Verhäßlichung noch das Ihrige bei und halfen die Voraussetzung begründen, daß

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 450. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_450.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)