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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

geräuschvoll in den Garten trat, gefolgt von seiner Gattin und den übrigen Kindern. Er brachte einen Fremden mit, einen jungen Maler Namens Gareis, den er nach gewohnter Weise neckend und scherzend den Anwesenden vorstellte. Steffens kannte ihn bereits, er hatte ihn früher einmal in Dresden bei Tieck getroffen, und so war die Bekanntschaft bald erneuert, wie die der Uebrigen bei der hier herrschenden freundlichen Ungezwungenheit bald gemacht war. Louise, die sich mehr im Hintergrunde gehalten hatte, vielleicht, um ihr entstelltes Gesicht nicht zu sehr gegen die Schönheit der Schwestern dem kritischen Auge des Malers bloßzustellen, schien nach längerem Verweilen erst von den Blicken des jungen Mannes bemerkt zu werden. Sie hatte soeben, von dem Gegenstande der Unterhaltung ergriffen, eine ihrer tiefdurchdachten Bemerkungen gleichsam hineinfallen lassen und dadurch dem allgemeinen Gespräch plötzlich eine speciellere Färbung gegeben. Gareis, dessen Blicke bisher wie suchend, vergleichend, von einem Angesicht zum andern gegangen waren, schien nun erst Auge und Ohr für die bisher Unbeachtete bekommen zu haben. Sein Auge ruhte wie erstaunt fragend auf dem Gesicht Louisens. Der Vater bemerkte es; früherer Worte gedenkend, in denen er dem jungen Manne die Schönheit seiner Töchter mit Ausnahme Louisens gepriesen hatte, lachte gezwungen auf, und meinend, der junge Maler werde von der Unschönheit Louisens mehr abgestoßen, als angezogen, flüsterte er demselben in’s Ohr: „Nun, sagte ich zu viel?“

Wider Erwarten aber wendete der junge Mann sich seltsam erregt ihm zu und sagte entschieden. „Sie gedachten der Schönheit Ihrer Töchter, aber Sie vergaßen zu erwähnen, daß auch das unvorteilhafteste Gesicht durch Geist und Gemüth einen Hauch der Schönheit erhält, der jene vergängliche weit überwiegt. Ihre übrigen Töchter, Herr Musikdirektor, sind schön, aber das Gesicht Louisens ist anmuthig, nachhaltig anziehend!“

Reichardt lachte, er wußte wirklich in diesem Augenblicke nicht, was er zu den Worten des Malers sagen sollte, er vermochte sich in den Ernst derselben nicht zu finden. Als er aber sah, daß Gareis unausgesetzt mit warmem Interesse an dem Munde Luisens hing, mußte er unwillkürlich das Haupt schütteln, und nun auch seinerseits bemüht, die Tochter in vortheilhaftestem Lichte zu zeigen, bat und veranlaßte er sie die Harfe zu nehmen und zu singen. Louise componirte nicht nur, sie hatte auch eine prächtige Stimme und spielte und sang ausgezeichnet.

Sie ließ sich nicht nöthigen und bitten; hatte doch auch auf sie die Nähe des jungen Mannes, der in so sichtbarem Wohlgefallen ihren Worten lauschte, einen eigenen Eindruck gemacht, dessen Tragweite sie in diesem Augenblicke nicht zu ahnen und zu ermessen vermochte. Eine längstvermißte Frische und innere Ruhe und Glückseligkeit waren über sie gekommen. Und als der Vater rief und sprach: „Sing uns Dein Lieblingslied: ‚Durch den Wald mit raschen Schritten‘, oder hast Du Neues geschaffen und zu Tage gefördert, das auch ich noch nicht kenne, so trag’ es vor, so laß Deine Stimme erschallen, und wir wollen Dir gnädige, aber auch gerechte Kritiker sein,“ hob sich ihr Auge leuchtend auf, die Hand griff rascher, freudiger in die Saiten, und während sie glühend rief und sprach: „Brentano sendete ein Lied, möge meine Melodie keine schlechte sein,“ hub sie zu singen an:

„Nach Sevilla, nach Sevilla,
Wo die hohen Prachtgebäude
In den breiten Straßen stehen,
Aus den Fenstern reiche Leute,
Schöngeputzte Frauen sehen,
Dahin sehnt mein Herz sich nicht.“

Es war ein eigenthümlicher Zauber, der die Gemüther der Anwesenden ergriff, als dieses Liedes Klänge zum ersten Mal an ihr Ohr schlugen. Und wie schön, wie prächtig sang das junge Mädchen! Es war als wollte sie in Melodie und Saiten all ihre Sehnsucht, ihren Schmerz und ihre Träume legen. So wunderschön hatte Louise seit langer Zeit nicht, vielleicht noch nie gesungen. Alle schwiegen tief ergriffen, als sie geendet, Schleiermacher saß in sich versunken, aber sein Auge leuchtete – bis der Vater aufsprang, Louisens Hand ergriff und freudig sagte: „Brav, Mädel, das hast Du gut gemacht. Die Melodie wird uns Alle überdauern!“ Das löste den Bann, der die Gemüther gefangen hielt, und Alle begannen die Schönheit der Composition zu loben; blos Gareis blieb still. Nur als Louise für einen Augenblick abseits stand, trat er schüchtern heran und sagte tief ergriffen: „Ich danke Ihnen.“ O, wie erfreuten und entzückten diese einfachen, seelenvollen Worte ihr Herz! Sie glühte auf in sichtbarer Freude und Glück. Rasch wendete sie sich ab und floh in die einsameren Gänge des Gartens. Das Herz war ihr so übervoll. Sie wußte nicht, wie ihr geschehen; sie hätte weinen mögen und wußte doch selber nicht, war es Freude oder Schmerz, was ihr das Herz bewegte.

Und wie es im Leben zu geschehen pflegt: ein Augenblick entscheidet über uns – und macht unser Leben zu einem Meer voll Freude, oder voll tiefen Schmerzes. Zwei Herzen hatten sich gefunden. Gareis liebte Louisen, und sie, die nimmermehr zu lieben gemeint, erwiderte diese Liebe mit aller Gluth und Innigkeit, die ein Mädchenherz zu spenden hat. Jetzt fühlte und wußte sie erst, was Liebe ist und welch’ einen Segen dieselbe spendet. Alle nahmen innigen Antheil an dieser Neigung: und als Gareis nach Italien zog, um vor seiner ehelichen Verbindung mit Louisen noch das Land der Kunst und seiner Sehnsucht zu durchreisen, wurde er allseitig mit den besten Wünschen entlassen, während die Liebe ihn in Gedanken auf Tritt und Schritt auf allen seinen Wegen begleitete.

Von Rom aus sendet er der Geliebten eine prächtige Farbencopie der Raphael’schen Verklärung. Er eilt nach Florenz, von wo aus er direct nach der Heimath zurückkehren will. Der Tag der Hochzeit wird anberaumt. Die Braut harrt des Bräutigams. Der Tag des Festes rückt näher und näher heran – da kommt ein Brief von fremder Hand. Der Bräutigam ist todt. Gareis ist todt, er starb zu Florenz an Dysenterie.

Das war ein Blitz aus heiterer Höhe; das war ein Schlag, von dem Louise sich niemals wieder gänzlich erholte. Zweimal war sie, die Unschöne, die niemals Liebe in der Brust eines Mannes zu erwecken Hoffnung gehegt, geliebt worden – und zweimal hatte ein unerwarteter, fürchterlicher Tod das Band zerrissen. Es war ein hartes Schicksal. O, wie tief, wie schmerzlich berührten sie jetzt die Klänge ihres Liedes: „Nach Sevilla!“ das bald nach seinem Bekanntwerden Gemeingut des Volkes geworden war und von Hoch und Niedrig gesungen wurde! Wie tief und schmerzlich berührte es sie, wenn sie es singen hörte! Es erinnerte sie an die schönste Stunde ihres Lebens, an ein Glück, das nun auf ewig für sie verschwunden war.

Doch es war nicht Zeit, sich dem Schmerze hinzugeben. Es mußte geschafft, gearbeitet werden. Die Schwestern wurden und waren zumeist verheirathet – sie blieb im Hause. Und die kriegerischen, politischen Wolken, die mehr und mehr aufstiegen, begannen auch den Horizont des Reichardt’schen Hauses zu verdüstern. Der Sommer des Jahres 1806 – Louise war 1788 zu Berlin geboren – verging in banger Sorge. Das preußische Heer rückte endlich im Herbst gegen Napoleon vor. Der verhängnißvolle 14. Oktober kam. Die Schlacht bei Jena war geschlagen. Kämpfende Truppen nähern sich am 16. Oktober der Stadt. Die Preußen fliehen. Bernadotte erscheint; nach der Proclamation, die er erläßt, scheint der Fortbestand der Universität Halle gesichert, aber Napoleon, durch eine Schrift Reichardt’s, welche dieser in gewohnter, rasch handelnder Weise in die Welt geschleudert, erzürnt, löst die Universität auf, und Schleiermacher, Steffens mit ihren Genossen waren brodlos. Die Gelder waren überaus knapp zugemessen, wenige Thaler besaßen gemeinsam die Freunde, und so machten sie Alle im Hause Steffens’ gemeinschaftliche Wirthschaft. Und hier war es, wo Schleiermacher wieder die Kraft und den Segen der Arbeit an sich erprobte. In einer Ecke des Steffens’schen Studirzimmers saß er, unbekümmert um die ihn umgebende Wirrniß, und schrieb sein geniales Sendschreiben an Gaß über die Echtheit des ersten Briefes an Timotheus. Bald darauf verließ er Halle. Im Sommer 1807 war er in Berlin, dem er von nun ab für immer bis zu seinem Tode angehören sollte. Als hier im Jahre 1809 die Universität eröffnet wurde, für deren Errichtung er überaus thätig und anregend gewirkt hatte, war er an derselben einer der ersten lesenden Professoren. Reichardt hatte mit seiner Familie Halle verlassen müssen, er irrte umher, bis er endlich, er der eingefleischte Franzosenfeind, merkwürdig genug, als Capellmeister des Königs von Westphalen zu Cassel eintrat.

Daß hier seines Bleibens nicht lange sein würde, war von vornherein zu erwarten. Bald hatte er durch sein freies Reden

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