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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

hervor, welche, unten in einem weiten Becken aufgefangen, jenen Thränensee bildeten. Dieser See half eine von allen Seiten von unzugänglichen Felsen umringte, kerkerartige Einöde abschließen. Das durchweg nackte Gestein und das grünliche, durchsichtige Wasser, an dessen Ufer wenig blattloses Krüppelholz stand und einige Legföhren hinkrochen, zeigten an, daß dieses Terrain in hoher, frostiger Bergregion gelegen war.

Diese Landschaft war der grauenvolle Aufenthalt eines jungen, reizenden Weibes in poetisch ausgeschmückter Bauerntracht. Es floh in wildester Eile vom Ufer in den Hintergrund hin, die eine Hälfte des lieblich sanften, seelischen, aber von Entsetzen entstellten Gesichtes zurückwendend. Es war, als wollte es noch einmal zurückschauen, ohne jedoch den Muth und die Kraft dazu zu finden, denn dahinter aus dem See blickten die Füße eines Kindes oder Säuglings hervor, welcher hineingeworfen worden war und zu Grunde sank. Ueber dem Kopfe des schönen unglücklichen Weibes und über dem Haare, das sich auf der Flucht ganz gelöst hatte, schwirrten phantastische Insecten, welche das Opfer gleich wüthenden Hornissen und Bremsen verfolgten und die schrecklichen Gedanken und Gewissensbisse symbolisirten.

Um diese beschriebenen drei Hauptgruppen herum schlang sich noch ein reicheres Detail kleinerer Scenen, welche gleichfalls innerhalb des Ideenkreises und Fassungsvermögens des Landvolkes lagen und hauptsächlich deshalb ihre sofortige Wirkung hervorbrachten.

Der alte Nachbar Michel war schon eine gute Weile fortgewesen, ehe es Balbina’s Mutter gelungen war, an die Schwelle der Kapelle zu treten, oder vielmehr hineingeschoben und hineingestoßen zu werden.

In diesem Augenblicke erschallte aus dem Hintergrunde der Kapelle ein geller, das Mark durchdringender Weiberschrei, dem das laute Gemurmel der versammelten Menge folgte. Gleichzeitig war eine Bewegung im Innern des Kirchleins entstanden, die Leute mußten zurückweichen und Platz machen. Auch die alte Frau war wieder in’s Freie bei Seite geschoben worden. Bald darauf trugen vier Männer eine Frauensperson hinaus.

Die alte Frau, die auf ihrem Platze nichts sehen konnte und nur gehört hatte, was vorging, fragte einen vor ihr stehenden großen Burschen mit athemloser Hast:

„Es wird doch nicht Balbina sein?“

„Die ist es schon,“ war die kurze Antwort.

Die alte Frau stürzte blindlings nach, erreichte aber den Zug erst in des Küsters Hofe, wo ein Brunnen stand, in dessen Nähe Balbina auf einen Rasen soeben hingelegt worden war.

Das Aussehen des Mädchens war erschreckend; es war bleich, entfärbt, ein wahrhaftes Wachsgesicht, wie todt.

.Du darfst Dich nicht so ängstigen,“ sagte einer der Männer, die Balbina getragen hatten, zu deren Mutter, welche unter tiefen Wehklagen alle Anstrengungen machte, ihr Kind zur Besinnung zurückzuführen. „Bei dem Gedräng’ und der Hitze ist nichts leichter! Während des Hochamts ist die Müllerin gerade so hingefallen. Sie kommt schon zu sich.“

Dieses Prognostikon traf ein, hatte aber ein besorgtes Mutterherz zu lange auf sich warten lassen. Endlich regte und rührte sich Balbina, hatte die Augen aufgeschlagen und wurde mit der Mutter Hülfe in eine sitzende Stellung gebracht, in welcher sie tiefe Athemzüge that und eine Weile mit gesenktem Kopfe sprachlos verblieb. Mit dem Eintritt dieses Moments hatten sich die Neugierigen, die sich angesammelt, entfernt und Mutter und Tochter allein gelassen.

„Mutter,“ sagte Balbina mit schwacher Stimme und düsteren Blicken, „das thut wohl! Ja, daheim ist daheim! Ich habe es vorhergesagt, wie schrecklich mir unter den Leuten ist. Du bist schuld!“

„Hätt’ ich das vorher gewußt!“ seufzte die Mutter.

„Aber,“ sagte Balbina, plötzlich sich ringsherum scharf umsehend, „wir sind ja nicht zu Hause! Wo hast Du mich wieder hingeführt?“

„Sprich nicht so viel, liebes Kind,“ bat die Mutter, die Tochter zärtlich an sich drückend. „Du bist noch voll Schwindel! Halte Dich nur ein Weilchen ganz ruhig, dann geht Alles vorüber!“

„Nein,“ rief Balbina, indem sie sich wie ein Blitz erhob. „Ich bin nicht so schwach und bleibe nicht, ich will nach Hause!“

Mit den letzten Worten im Munde eilte sie schon zu der Thür, die aus dem Hofe in’s Freie führte, hinaus, ohne sich von den Rufen der Mutter zurückhalten zu lassen. Draußen aber, sobald sie die Menschenmenge erblickt hatte, prallte sie zurück und sagte, auf die Mutter zueilend, ganz bestürzt:

„Die Leute! Da kann ich nicht durch und nicht vorbei! Lieber hier in diesen Brunnen, als unter die Leute! Ich müßte mich zu Tode schämen!“

„Fahre nicht gleich so auf,“ beschwichtigte sie die Mutter. „Das ist ja sonst nicht Deine Art, aber daraus siehst Du, daß Du Dich noch still verhalten mußt, damit Dein Blut aus seiner Unruhe kommt. Wir wollen zum Hinterpförtchen hinausgehen, wenn Du es willst. Mir ist es ja recht. Wir wollen uns führen, Balbinchen!“

Sie nahm die Tochter am Arm, und Beide gingen auf einem Umwege rückwärts hinaus.

„Warum hättest Du Dich zu schämen?“ brach die Mutter das bisherige Schweigen, als sie auf einen einsamen Feldweg gekommen waren. „Eine Ohnmacht ist ja keine Schande und kein Verbrechen! Das kann auch der Frau Hofräthin und sogar der Kaiserin geschehen.“

„Der Feldweg ist schmal,“ sagte Balbina darauf. „Laß mich los!“

Sie entzog der Mutter ihren Arm und ging voran, erst in ziemlich gleichem Schritte, bald aber schneller und immer schneller, ohne auf die Zurufe der Mutter zu hören, und bald war sie auf dem beholzten Fußsteig, der die Halde hinaufführte, entschwunden. Die Mutter erblickte sie nicht eher wieder, als bis sie zu Hause angekommen war.

Balbina war schon lange in ihrer Kammer, die im oberen Stockwerk lag, als die Mutter dort eintrat. Das Mädchen war noch in ihrem ganzen Sonntagsstaat, ohne ein einziges Stücklein abgelegt zu haben.

„Wo willst Du denn hin?“ fragte die Mutter, darauf anspielend, mit erzwungenem Lächeln, während sie die Tochter ängstlich beobachtete.

„Ich danke dem Schöpfer, daß ich hier bin!“ sagte Balbina und gleichzeitig brach ihre tiefe Aufregung ganz hervor. „Von hier bringt mich Niemand mehr heraus! Ich muß dableiben! Ich kann mich in diesem Leben nicht mehr öffentlich zeigen! O, diese Schande – ach, wär’ ich gestorben, ehe ich so Etwas erlebt!“

„Aber, liebe Närrin,“ wollte die Mutter ihr zureden, als die Tochter wieder sagte: „Hast Du es nicht selbst gehört? Alles hat auf mich gedeutet, mich groß angeschaut, laut und heimlich sich es gesagt! O, stelle Dich nicht so, Mutter! Wo hättest Du die Ohren gehabt? ‚Balbina ist es,‘ schrie Alles um mich her wie aus einem Munde! ‚Balbina ist es,‘ das sagte man ohne Ende! Ja, es ist wahr, ich bin es! Ich habe es mit eigenen Augen gesehen! Wer hat mich an die Wand einer Kirche für ewige Zeiten so hingemalt? Lange, lange hab’ ich darauf geschaut und nicht geglaubt, daß ich es bin, da aber alle Leute gerufen haben: ‚Balbina ist es!‘ so hab’ ich eingesehen, daß ich nicht blos träume! Ich bin es und ich bin es!“

Sie rang verzweiflungsvoll die Hand, sich zu Boden krümmend.

„Aber nein,“ sagte die Mutter, über den Zustand der Tochter auf’s Höchste beunruhigt, „Du bist es nicht! Kein Mensch hat es gesagt! Niemandem ist es eingefallen, als Dir, weil Du noch im Schwindel redest und durch Dein tolles Nachhauselaufen Dein Blut wieder rebellisch gemacht hast! Ich hätte es ja gehört –“

„Hast Du es denn nicht selbst gesehen,“ sagte Balbina, „und die Aehnlichkeit herausgefunden?“

„Ich habe die Malerei freilich nicht gesehen,“ versetzte die Alte, „denn als ich eintreten sollte, da haben sie Dich, unglückseliges Kind, eben herausgetragen!“

„Dann hast Du es doch gehört,“ sagte Balbina rasch. „Da war schon aller Leute Mund voll davon!“

„Einbildung, nichts als Einbildung,“ erwiderte die Mutter. „Unsere Kuhmagd war auch in der Kapelle. Ich gehe, sie zu rufen und zu fragen!“

„Bleib!“ rief die Tochter. „Ich habe sie bereits gefragt.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 466. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_466.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)