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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

wie wenn ich schon vor Gottes Richterstuhl stehen würde und bekennen müßte! Ich freue mich sogar, Dir Alles mitzutheilen, es wird mir gewiß leichter, denn Du glaubst gar nicht, welche Last ein solches Schweigen ist und wie ein so verstecktes Herzleid am Herzen frißt! O hätte ich Dir längst Alles anvertraut, o hätte ich gleich von allem Anfang an Alles gestanden, dann wäre es vielleicht ganz gut und ganz glücklich ausgegangen, dann hätt’ ich auch nie einen Tag wie den heutigen erlebt und die beiden Schächer wären gewiß nicht gekommen.“

Sie sank nach den Worten, in Schmerz und Wehmuth zerflossen, auf das Kissen. Die alte Mutter stand, auf die Enthüllungen wartend und vor ihnen zitternd, da, bis sich Balbina gesammelt und wieder erhoben hatte.

„Jetzt höre Alles,“ sagte Balbina, während sie die Hand der Mutter ergriff, „versprich mir aber, daß Du mir Alles glaubst!“

„Geschwiegen hast Du oft,“ versetzte die Mutter, „gelogen noch nicht!“

Balbina wollte beginnen und hatte schon das Wort auf der Lippe, schluckte es aber rasch hinab, wie wenn sie den Muth verloren hätte. Eine Pause war eingetreten, als sie plötzlich den Kopf wieder erhob und, die Worte furchtsam hinhauchend, sagte:

„Einen einzigen Sommer im Leben war ich auf unserer Alm Almerin –“

„Das ist wahr,“ versetzte die Mutter voll Erwartung. „Ich und der Vater wollten es gar nicht zugeben.“

„Hast Du Dir Nichts dabei gedacht,“ fragte Balbina, ängstlich auf die Antwort lauschend, „daß ich damals darauf so bestanden habe?“

„Gewiß,“ sagte die Mutter. „Du wärst aber mit dem Veit doch zusammengekommen, wenn Du auch nicht oben gewesen wärst.“

„Ach, hättest Du es mir nicht erlaubt!“ schrie Balbina laut auf und brach jammernd die Hände. „Ich bin einem größeren Unglück entgegengegangen, als sonst zu befürchten gewesen wäre! Ich habe eine schwere Ursache gehabt, auf die Alm zu gehen. Ich habe gewollt, daß ihr mich nicht länger seht, Nichts von der Schande wißt, die ich über Euch und mich selbst bringe –“

„Mein Gott!“ rief die Mutter mit schreckengleicher Ueberraschung emporfahrend. „So weit –“

„So weit ist es mit mir gekommen!“ ächzte Balbina unter dem Tuche, mit welchem sie ihr schamerglühtes Gesicht bedeckt hatte, dumpf hervor. „Gerade den Tag vor Himmelfahrt kam das Kind zur Welt – –“

„Und –“ fragte die Mutter, das entsetzliche Gewicht ihrer Frage fühlend, mit bebender Stimme, „und was ist aus dem Kind geworden?“

„O Mutter!“ schrie Balbina auf, indem sie emporsprang und alle ihre Gesichtszüge, die seither beruhigt waren, den früheren Ausdruck fieberischer, wilder Aufregung annahmen. „Jetzt erst wird es schlimm! Ich liege auf dem Heuboden, das Kind schläft neben mir. Da hör’ ich die Stimme des Vaters. Er flucht, weil er mich nirgends findet. Ich kann mich nicht rühren, kann auch nicht antworten. O, wäre Veit einige Stunden früher gekommen, als der Vater, so hätte er das Kind mitgenommen und es wäre in den besten Händen aufbewahrt gewesen! Da seh’ ich, daß der Vater auf den Heuboden hinaufkommt – die Leiter rührt sich – und in diesem Augenblicke giebt das Kind einen Laut von sich.

Da schießt Kraft in mich. Ich verberge das Kind unter dem Heu und lege die Hand auf seinen Mund. Da schaut schon der Kopf meines Vaters herein. ‚Bist Du taub?‘ schreit er mich an.

‚Ich bin krank,‘ geb’ ich nach Gott weiß wie viel Zeit zur Antwort. ‚Wo fehlt’s?‘ sagt er darauf. ‚Du siehst wirklich recht übel aus?‘ Ich sagte: ‚O mir ist auch übel! Geh geschwind hinab und laß den alten Balthasar kommen!‘ ‚Gut,‘ sprach der Vater, ‚mir scheint selbst, daß es vonnöthen ist. Aber warum hast Du Dich auf den Heuboden gelegt?‘ ‚Ich weiß gar nicht,‘ sag’ ich mit einem gescheidten Einfall. ‚Ich gehe hinab, geh nur voran!‘ Der Vater stieg hinab, meine Glieder zitterten so, daß er mir von der Leiter hinabhelfen und mich in die Kammer hineintragen mußte. Der Vater ist nicht lang geblieben wegen Balthasar – “

„Das war also damals Deine Krankheit!“ rief die Mutter, der ein spätes und fürchterliches Licht aufgegangen war, sich auf die Stirn klopfend.

„Eilends bin ich auf den Heuboden wieder hinauf,“ fuhr Balbina, wie von dem Entsetzen ihrer Geständnisse fortgerissen, fort, „um nach dem Kinde zu sehen. O hätte es mir doch von Weitem entgegengeweint! Mutter – – es war erstickt –!“

Die Alte that einen Schrei.

„Es war erstickt!“ wiederholte die Tochter mit noch stärkerer Betonung, ohne Rücksicht auf die zurückfahrende Mutter, nur dem unheimlichen Genius gehorchend, welcher ihr heute mit sinnverwirrender Gewalt die finsteren Geheimnisse abpreßte. „Ich war wie verrückt. Stunden vergingen auf Stunden – was half das? Es war erstickt. Da wickle ich es in ein Tuch – ich wußte noch nicht, was damit – ich laufe das breite Geröll hinauf – immer höher und höher, und mein Bündel war so schwer! Ich komme so weit hinauf, bis unter die Dreikönigsspitz und wußte noch immer nicht wohin, aber immer höher treibt’s mich, als wollte ich auf meinen Händen das Kind bis in den Himmel tragen! Da – da steh’ ich plötzlich vor dem kleinen grünen See und ohne mich weiter zu besinnen, werf’ ich das Kind hinein und ohne zu warten, renne ich, vom Satan gejagt, wieder zurück. Ich liege im Sterben darauf in meiner Kammer, als der alte Balthasar kommt. Ich lüge ihm Allerlei vor, er aber sagt: ‚Du, das ist anders. Wo ist das Kind?‘ Ich hab’ ihm gleich die Wahrheit gesagt. Er sagte: ‚Hast Du nicht warten können, bis ich komme? Ich hätte es untergebracht. Wenn es nach ein paar Tagen ausgeworfen wird und aus dem Wasser schaut, wie dann?‘ Dieser Gedanke hat mein Hirn durchbohrt und steckt noch darin. Gleich am anderen Morgen hab’ ich zum Dreikönigssee hinauflaufen wollen, und an jedem Tage bis heut, doch vermocht hab’ ich es nicht – drum ängstigt’s mich, drum schlaf ich nicht – drum geh ich zu Grund und das Kind kommt vom Grund über das Wasser hinauf! Das begreifst Du –“

Sie stierte die Mutter an, wie eine Geistesabwesende.

„Du erzählst mir ein schreckliches Unglück,“ sagte die Alte, „aber es ist nicht so, daß es nicht schlimmer hätte ausfallen können, denn Deine Hand hat sich an Nichts vergriffen, was leben soll, sondern ist selbst unglücklich gewesen! Fasse Dich und Gott wird Dir verzeihen, wie ich Dir verzeihe!“

„Warum hat mich aber Veit verflucht?“ rief Balbina jammervoll. „Er ist an’s Ende der Welt gelaufen, um nicht jemals wieder meine Hände zu berühren! Mir sollten auch die Hände abgehauen werden, wenigstens die eine ungeschickte Unglückshand!“

„Ach, leg’ Dich, leg’ Dich, unglückliches Kind!“ rief die Mutter, von dem Zustande der Tochter nicht weniger, als von den Enthüllungen entsetzt. „Du brauchst Ruhe, schlaf’, oder Du kommst noch von Sinnen!“

Sie faßte sie am Arme und wollte sie in’s Bett drängen.

„Ruhe?“ sprach Balbina in tiefster Betrübniß. „Wer könnte ruhen und schlafen, wenn alle Leute um ihn herum ‚Balbina ist es!‘ schreien? Balbina ist es! und wer stopft der ganzen Welt den Mund?“

„Es weiß es Niemand –“ sagte die Mutter zum Troste. „Nur Du fühlt’st es –“

„Es ist heraus,“ rief Balbina, „für immer heraus! Der Dreikönigssee ist in die Kapelle hinuntergeflossen und steht dort an der Wand! Das Kind schwimmt oben und ich werde dabei erwischt! Alle Kirchenleute sehen mich – Mutter, ist denn das Nichts? Doch horch –“

Sie horchte, plötzlich von einer entsetzlichen Angst ergriffen.

„Es ist ja Nichts,“ sagte die Mutter im Tone der Beruhigung.

„Es hat geklopft!“ flüsterte Balbina, sich mit zitternder Hand an die Mutter anklammernd.

„Der Wind, der Wind,“ sagte die Mutter.

„Nein,“ rief Balbina mit der Energie, die einem hochgestiegenen Paroxysmus eigen ist, „an’s Fenster hat’s geklopft! Oeffne, um Himmelswillen, nicht! Siehst Du dahinter die Gesichter? O, die Schächer, die Schächer! Sie steigen ein – ich sehe den Fuß des einen und auch schon des anderen – weh mir!“

Sie that ein paar Schritte, als wollte sie die Flucht mit rasender Eile ergreifen, und stürzte besinnungslos zu Boden hin. Die Unglückliche erholte sich wieder, nachdem sie mit Hülfe der herbeigerufenen Magd in’s Bett gebracht worden war und einige Zeit geruht hatte, aber ihr Geist war gestört, und die Schächer verließen sie nicht mehr.

(Schluß folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 470. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_470.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)