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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Ludwig theilte dem Kellner rasch mit, wie er den Grafen plötzlich vermißt habe, als der Zug von jener Station abgefahren sei.

„Er wird gewiß bald nachkommen,“ meinte der Kellner und ging, den Doctor in sehr bewegter Träumerei zurück lassend.

Lange Zeit träumte dieser vor sich hin. Dann wollte er rasch hinaus zur Eisenbahn, dem sicher zu erwartenden Freunde entgegen. Aber da kam der Wagen des Hotels schon von dort zurück, Fremde mit ihm, Droschken ihm nach, doch der Graf blieb aus. Ludwig wurde immer unruhiger. Und was nun mit sich selbst und der Zeit anfangen? Der eigentliche Hauptzweck, das Concert, war ihm doch verleidet. Dann dachte er aber daran, ob die Gräfin hingehen werde. Und es wäre ihm sehr interessant, psychologisch interessant, zu beobachten, wie eine solche Frau solche Kunst aufnähme.

Kurz, Doctor Ludwig ging in das Concert, wenn auch nicht fröhlich. Er sah recht aufmerksam umher, und wir können nicht verschweigen, daß er nach der stolzen Gräfin ausschaute. Plötzlich sah er sie und bemerkte, daß auch sie aufmerksam umherschaute, und – er wußte selbst nicht recht, warum, – glaubte, daß dies ihm gelte. Jetzt hatte ihr Auge ihn gefunden, aber in demselben Moment wurde ihr Blick spöttisch kalt, ja feindselig, und stolz und hochmüthig schaute die junge Frau herab aus ihrer Loge auf ihn und das Publicum. Auf einmal war die Gräfin verschwunden und dem Doctor wurde es peinlich einsam und gedrückt zu Muthe. Spurlos zog die Musik an Ludwig’s sonst so empfänglichem Geiste vorüber. Fast schämte er sich dessen und er ging fort, ging nach Hause. Rasch einige Zeitungen durchflogen, ein Glas Wein hinuntergejagt, dann auf sein Zimmer, wo er noch lange ziemlich heftig auf- und niederschritt. Mit großer Spannung sah er dem nächsten Morgen, d. h. der Ankunft des Grafen entgegen, und seine Gedanken irrten von dem Freunde immer wieder hin zu der stolzen Gräfin. Diese aber wohnte gerade unter ihm, und während sie selber auf dem weichen Teppich ihres Salons heftig auf- und niederschritt, verwünschte sie jene Tritte, die über ihr so lange und so laut das Zimmer durchmaßen. Sie klingelte.

„Wer wohnt über mir?“ fragte die Gräfin ärgerlich den ihrem Ruf gehorchenden Kellner.

„Herr Professor Monz!“ war die Antwort.

„So? Der!“ sagte sie mit einem herben, kühlen Ton, indem sie eine artig entlassende Handbewegung machte. – Als der Doctor am andern Morgen die Klingel zog, erschien Joseph recht bedenklich, indem er eine Zeitung zwischen den Fingern drehte.

„Der Graf ist doch angekommen?“ rief ihm der Doctor schon in der Thür entgegen. Joseph zuckte die Achseln und reichte dem Fragenden die noch druckfeuchte Zeitung betreten hin. Der Doctor las rasch, gleich vorn die erste telegraphische Depesche: „Der bekannte demokratische Graf Leopold von Bernting ist gestern in E. verhaftet. Gründe noch unbekannt. Allgemeines Aufsehen.“

Ludwig wurde blaß, er war bestürzt und tief bewegt. Joseph sah ihn theilnahmsvoll und erwartend an. Der Doctor sammelte sich und sagte entschlossen:

„Ich gehe zu seinem Gesandten. Er wird, er muß mich hören.“

Bald war der Doctor angezogen und eilte unter beginnendem Regen dem Hotel des –schen Gesandten zu. Es lag dicht neben dem Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten. Wer aber beschreibt sein freudiges Erstaunen, als er aus dem weiten Gitterthor des Vorhofes den Grafen hervortreten sah!

„Leu!“ diesen alten Burschennamen rief er mit dem alten, freudigen Humor jener Zeit dem Freunde zu und eilte ihm entgegen.

„Setz’ Dich derweil da in meinen Wagen und warte, ich hab’ hier noch zu thun!“ antwortete der Graf, lustig mit der Hand winkend, bog rasch ein in den Vorhof des daneben liegenden Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten und war verschwunden. Ludwig schaute still lachend und in freudigster Bewegung ihm nach, dann begab er sich eilig nach dem bezeichneten Wagen des Grafen, denn es regnete bereits stark. Er öffnete den Schlag und – sah die Gräfin von Timmelskirch vor sich. In demselben Augenblick trat Wilhelm, der Diener, an die andere Seite des Wagens und rapportirte:

„Excellenz sind noch nicht zu sprechen.“

Die Gräfin hörte das mit einem zornigen Blick auf den Diener, machte eine heftige Bewegung mit Hand und Fuß und sagte: „Nach Hause!“ dann blickte sie erstaunt den Doctor an, der noch mit einem Fuß auf dem Tritt des Wagens stand, in sichtlicher Befangenheit eine feine Verbeugung machte und ein sehr überraschtes: „Entschuldigen Sie, Frau Gräfin!“ mit einem glänzenden Blick begleitete.

Um zunächst das plötzliche Erscheinen des Grafen vor dem Gesandtschaftshotel und dann dieses eigenthümliche Zusammentreffen zu erklären, müssen wir in unserer Erzählung etwas zurückgehen.

In der kleinen Zwischenstation W., wo unsere Freunde den Dampfwagen bestiegen hatten, wo Doctor Ludwig, wenigstens steckbrieflich, gekannt war und wo von der benachbarten großstaatlichen Polizeibehörde die Erinnerung an ihn immer neu aufgefrischt wurde, in dieser sonst so harmlos aussehenden Zwischenstation war dem Polizeiamtmann in E. telegraphirt worden, daß Doctor Ludwig mit nächstem Zuge dort ankomme und im Coupé Nr. 807 sitze. Wir kennen die Folgen dieses Telegramms. Nachdem es sich herausgestellt, daß es nicht der Gesuchte war, den man verhaftet hatte, war der Graf natürlich sofort entlassen worden und mit dem ersten Frühzug nach D. abgereist. Um die lästige Sache mit einem Male abzumachen und dann wieder ganz frei zu sein, war er einer erhaltenen Weisung auch stricte gefolgt und gleich von der Eisenbahn aus in das Gesandtschaftshotel gefahren. Er war hier schon durch ein Telegramm aus seiner Hauptstadt angemeldet, wurde also auch ausnahmsweise zu so früher Zeit angenommen und erhielt den freundschaftlichen Rath, sich sogleich noch zum Minister des Auswärtigen zu begeben, damit von diesem aus alle noch irgend möglichen Unannehmlichkeiten abgewehrt würden.

Graf Leopold hatte mit dem Wagen, den der Freund benutzen sollte, den Wagen gemeint, der ihn von der Eisenbahn hergebracht und der neben anderem unscheinbaren Fuhrwerk in der Nähe stand. Seine eigene Equipage hatte er selbst gar nicht bemerkt. In dieser aber war die Gräfin zu dem Gesandtschaftshotel gefahren, nachdem auch sie jenes Telegramm in der Zeitung gelesen hatte, das die Verhaftung ihres Bruders anzeigte. Der Gesandte aber, der sich ihres Namens nicht mehr entsinnen mochte, hatte sie nicht angenommen. Der Graf, der durch einen besonderen Eingang in das vertraute Privatboudoir des Gesandten eingetreten und davon gegangen war, hatte eben so wenig seinen Diener Wilhelm wie dieser ihn bemerkt. Und Wilhelm, wie der Kutscher August, richteten sich ganz nach der Weisung, die sie durch den Kellner Joseph erhalten: sie kannten den Doctor nicht, als dieser zu dem Wagen herantrat, ja, Wilhelm bog absichtlich zu der anderen Seite des Wagens hin, um desto ungenirter den Freund seines Herrn ignoriren zu können.

Auf diese Weise gestaltete sich das eigenthümliche Zusammentreffen des Doctors mit der Gräfin. Als Ludwig die Gräfin im Wagen erblickte, glaubte er sofort, daß dieselbe schon mit ihrem Bruder hierhergefahren sei, und da derselbe ihn so ohne Weiteres in diesen Wagen gewiesen, nahm er an, daß die Gräfin auch bereits über den Freund ihres Bruders orientirt sei. Er war daher nicht wenig betreten, als die Gräfin auf seine artige Begrüßung und Entschuldigung ihn mit herrischem Tone fragte: „Wer sind Sie?“

Seine Verlegenheit dauerte indeß nur einen Moment: an dem Tone der Gräfin gewann er sofort wieder seine feste Haltung; „Das wissen Sie ja schon, Frau Gräfin!“ antwortete er mit kalter Ruhe.

Die Gräfin verstand seine Worte, als ob er wisse, daß sie nach ihm geforscht und dadurch erfahren habe, daß er der Professor Monz sei. Das brachte sie in Verlegenheit, die ihren Ton nur noch herber machte.

„Was wollen Sie denn in diesem Wagen?“ fragte sie herrisch.

„Meinen Freund erwarten, wenn Sie es gütigst gestatten wollen,“ antwortete Ludwig gelassen.

Die Gräfin sah ihn einen Augenblick verdutzt an; schon im nächsten Augenblick aber sagte sie scharf: „Ihren Freund? Warum thun Sie das nicht draußen?“

„Weil’s regnet,“ entgegnetc Ludwig mit einer Verbeugung, bei unerschütterlichem Gleichmuth. Die Gräfin war so verblüfft, daß sie unwillkürlich einen Blick ins Freie warf und den Doctor dann so ansah, als ob sie sagen wollte: „Ja, das ist wahr.“ In demselben Augenblick aber dachte sie auch daran, ob der Mann wohl bei Sinnen sei. Doch nein! Er stand so

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