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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

schmachteten, lange, lange, lange Jahre, die meisten, um nie mehr das Tageslicht zu sehen, um in den Wellen des Sees den Tod zu erleiden.

In einem dieser schauerlichen Kerker war der ehemalige Prior von St. Victor in Genf, der bekannte Bonnivard, acht Jahre lang eingeschlossen, an eine Säule geschmiedet und grub in die Steinplatten des Fußbodens die Spur seines immergleichen Schrittes, die noch heute allen Besuchern der Burg gezeigt wird. Zwar hat die moderne Geschichtsschreibung Bonnivard seines Heiligenscheines entkleidet, immer aber erregt das Schicksal des Denkers unser tiefstes Mitleid, wie ihn Byron’s ergreifende Dichtung, die sich unser Aller Gedächtniß unverlöschlich eingegraben hat, jeder Forschung zum Trotz den spätesten Generationen noch zu einem Märtyrer der politischen und Gewissensfreiheit stempeln wird. – Heute zieht die Eisenbahn von Vevey nach dem Rhonethale dicht an Chillon vorüber, eine ihrer Stationen hat ihre moderne Halle unmittelbar neben die mittelalterliche Veste gebaut, die jetzt das waadtländische Geschützdepot und Staatsgefängniß vorzustellen hat, und damit ist dieser ein gut Stück ihrer Romantik und Poesie genommen.

Unser Blick nähert sich dem Punkte des großen Halbkreises, wo auf der Spitze einer Landzunge die Stadt sich auszubreiten beginnt, theils den Bogen des Sees folgend, theils die kleine Ebene besetzend, die sich am Fuße der Weinhänge hinzieht, theils sich die untersten Staffeln dieser letzteren hinanbauend. Eigentlich sind es zwei Städte, die vor uns entfaltet liegen, so deutlich, daß wir fast jedes ihrer Häuser zu erkennen vermögen, von hier oben aber erscheinen sie als ein Ganzes, wie sie denn in Wirklichkeit auch dicht aneinander gerückt sind, obschon sie zwei völlig selbstständige Communen bilden, Links das Oertchen La Tour de Peilz, dem der nahstehende dicke Rundthurm des einstigen savoyischen Herzogsschlosses, dicht am Rande des Sees, seinen Namen verliehen hat und heute vor allem Andern die weitberühmte Erziehungsanstalt unsers vortrefflichen deutschen und speciell sächsischen Landsmannes, des Herrn Eduard Sillig, Ruhm und Glanz giebt; rechts die Stadt Vevey selbst, „die Königin des Sees“, wie sie der Umwohner stolz zu bezeichnen pflegt, dem Range nach die zweite, nach ihrem Verkehre und Wohlstand die erste Stadt des Waadtlandes, deren Handel und Industrie erhebliche Summen umschlägt und große Vermögen geschaffen hat. Natürlich ist der Wein der Hauptstapelartikel des Platzes, um mich gut kaufmännisch auszudrücken; von den etwa 75,000 Chars oder Karren (der Char zu vierhundert Maß gerechnet), welche die Waadt erzeugt, kommen fast die Hälfte auf die nähere und fernere Umgebung von Vevey, aber auch der Zwischenhandel mit dem berühmten Greyerzer Käse des Nachbarcantons Freiburg, für welchen Vevey den Hafen abgiebt, läuft sehr in’s Große und ebenso ist die Cigarrenfabrikation der Stadt von Bedeutung. Die „Veveysans“ und die „Vevey fins“ sind die beliebtesten Cigarren nicht nur der Schweiz, sondern genießen eines wohlverdienten Rufes auch weit jenseit deren Grenzen.

Von unserm Belvedere springen die Hauptgruppen, in die sich der freundliche, selbst stattliche Ort sondert, sofort in die Augen. Da haben wir zuerst – ganz rechts auf unserm Bilde – einen weiten Platz vor uns, der sich im Süden nach dem See zu öffnet und den westwärts ein gothisches Schlößchen, das Wohnhaus eines reichen Privatmannes, und ein daranstoßender dichter Baumgang abrundet. Das ist der Hafenplatz, der Markt, die Place du marché, mit der Fruchthalle und der Landungsstelle der Dampfboote. Für uns aber hat dieser Platz noch besonderes Interesse, denn auf ihm geht das große Winzerfest vor sich. Auf diesem mächtigen Platze sind die Estraden aufgezimmert, von denen am 26. Juli die Fremdenfluth dem Aufzuge zuschaut; hier beginnt sechs und ein halb Uhr Morgens die Procession mit dem Geleite des Frühlings, mit dem Ceres- oder Sommerzuge, dem Bacchus- oder Herbstfeste und der Hochzeit und der Jägergruppe, welche den Winter vorstellen; hier werden um sieben und ein halb Uhr die verschiedenen Preise vertheilt, hier von acht bis eilf Uhr die charakteristischen Tänze und Gesänge aufgeführt; von hier aus wird sich Abends die Kette der erleuchteten Gondeln auf dem See und der Reflex der illuminirten Stadt am prächtigsten ausnehmen, hier der große Costümball, der in der Nacht des zweiten Tages das Fest beschließt, während ringsum Alles in Licht und Flammen strahlt, von magischem Effecte sein. Auf diesem Platze war es auch, wo Napoleon Heerschau hielt über fünfzehntausend Mann seiner Truppen, ehe er über die Fels- und Schneewüste des großen St. Bernhard zum Siege von Marengo zog. An das gothische oder halbgothische Palais, das ihn ziert, reiht sich eine dichte Allee, gegen die Wogen durch hohes Mauerwerk geschützt, weit den See hinablaufend – eine köstlichere Promenade läßt sich nicht denken.

Wenden wir uns etwas mehr landeinwärts, so fesselt uns vor Allem der eigenthümlich viereckige Thurm einer Kirche mit den vier kleinen Eckthürmchen, die aus seinem Dache hervorspringen. Auch ein classischer Punkt, eine Stelle von Weltruf und jedem Touristen wohlbekannt: die Kirche von St. Martin mit ihrer von alten Linden und Kastanien beschatteten Terrasse und ihrem Friedhofe. Wer je nur einen Tag in Vevey weilte, der steigt gewiß hinauf zum Hügel von St. Martin und schwelgt in stillem Entzücken in der Herrlichkeit, die hier vor seinen Blicken ausgegossen ist, bis ihn das Rasseln des dicht unter der „Terrasse du Panorama“ vorüberbrausenden Bahnzugs aus seiner Selbstvergessenheit aufrüttelt und er nun wohl in die kühle Kirche tritt, um hier die Grabsteine zweier Flüchtlinge aufzusuchen, die fern ihrer Heimath im Exile starben, die Gruft Edmond Ludlow’s, eines der Richter Carl’s des Ersten von England, und seines Freundes Andrew Broughton, welcher dem unglücklichen Stuart das Todesurtheil verlas.

Fast in gleicher Linie mit dieser Kirche, doch hart am Ufer des Sees bleibt unser Auge schließlich an einem andern Bauwerk haften, welches etwa das Aussehen einer behäbigen fürstlichen Villa besitzt, in der That aber der in sämmtlichen Reisehandbüchern doppelt und dreifach besternte Gasthof Monnet, das Hôtel des trois Couronnes, ist, eines der sogenannten Schweizer Musterhôtels, jedenfalls desgleichen eine geweihte Stätte. Auch wir wollen unter seinem Dache heut unsere Häupter zur Ruhe legen.

Mittlerweile ist schon die Zweite des Yvorners geleert, es wird schwer sich loszureißen vom Panorama vor uns, doch es will Abend werden. Eine Gluthscheibe ruht die Sonne rechts gegen Genf hin auf den sanften Wellenlinien der Jurakette, der See schwimmt in Licht und Gold, über der Stadt flimmert wie eine Aureole ein Sonnennebel und links auf den Gipfeln und Eisschildern des Wallis schwebt schon der Rosenhauch des Abends, um, höher und höher klimmend, allmählich zur Zaubererscheinung des Alpenglühens zu werden, während der Fuß, die Falten und Schluchten der Berge in tief violettem Schatten liegen, von einer Wärme des Tons, wie wir ihn im Norden kaum für möglich halten. Eö ist Zeit zum endlichen Abstieg in’s Thal.

Rundum sieht das Auge nichts als Weinberge, die in kühnen Terrassen sich zum See hinunter abdachen und deren Mauern zugleich zum Fußpfade dienen. Ein lauer Westwind treibt das Wahrzeichen der Gegend, das Rebenblatt, über unsern Weg, und noch überall in den einzelnen Pflegen begegnen wir emsigen Winzern. An der schäumenden Veveyse, dem Kind der Freiburger Höhen, kommen die ersten Häuser der Stadt, meistens weiß mit grünen Jalousien und breit vorspringenden Dächern, halb italienisch, halb schweizerisch, aber durchaus schmuck und einladend und zum Theil von üppigster Vegetation umwuchert. Der Ort heimelt uns an vom ersten Schritte, den wir durch seine Straßen und Gassen thun, und selbst der süß-säuerliche Geruch, der uns aus den vielen Weinkellern von den darin eingelagerten Fudern und Stückfässern in die Nase dringt, dünkt uns ein neuer Gruß des schönen poetischen Südens.

Und wenn wir dann auf der Terrasse unserer Drei Kronen beim Nachtessen sitzen, umschwirrt von dem polyglottischen Sprachgewirr der um uns plaudernden Engländer, Franzosen, Russen, Deutschen und Schwyzer Dütschen, wenn nun links über den Zacken der Tour d’Ai der Mond aufsteigt und sein mattes Silber in tausend Lichtstreifen und Lichtbündeln über den See zieht und in die Schaumfurchen der Gondeln streut, die in der Nachtkühle sanft über den wellenlosen Spiegel gleiten, während jenseit am savoyischen Ufer die Kalköfen bei St. Gingolph wie feurige Scheiben durch das Dunkel herüberglühen – da überschleicht uns schmerzliches Bedauern, daß dies Alles nur vor dem geistigen Auge des Lesers lebendig wird, daß die Gartenlaube keine Zauberruthe besitzt, ihn mit einem Schlage in das Paradies von Vevey zu entrücken, sondern nur über Stift und Feder, über Druckerstock und Pressen gebietet und auch das große Winzerfest selbst ihm demnächst blos auf dem Papiere vorführen kann, dem Papiere, welches der ureigenste Träger des Geistes unserer Zeit ist.



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