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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Bedürfnissne, hält große Stücke auf gute Schulen und pflegt mit warmer Vorliebe das Volks- und Kirchenlied, das, von der Hausorgel begleitet, so häufig am Sonntagnachmittag aus den braunen Holzhäuschen ertönt. Viehzucht und Alpwirthschaft bilden seine vorzüglichste Beschäftigung, und etwas Handweberei vermehrt die spärlichen Einnahmsquellen.

An der westlichen Seite des Gebirgsstockes und über dessen hügeliges Vorland zerstreut, finden wir die dritte Gruppe, die Appenzell-Außerrhoder, von verwandter Art, aber doch wieder specifisch von den Obertoggenburgern verschieden. Ebenso intelligent und energisch wie diese, überbieten sie dieselben weit in Rührigkeit und Lebhaftigkeit. Sie sind von der Natur wie jene auf Viehzucht und Alpwirthschaft angewiesen; aber diese würden nur einen kleinen Theil der starken Bevölkerung, die zu den dichtesten auf dem Continent gehört, ausreichend ernähren. Daher haben sie sich, angeregt von der nahen Handelsstadt St. Gallen, mit erstaunlicher Energie und musterhaftem Geschicke auf die Industrie verlegt und leisten Großes in diesem Gebiete. In den frühern Jahrhunderten war es die Leinenindustrie in allen ihren Phasen, welche Tausende von Händen beschäftigte und mit ihren Fabrikaten die Messen von ganz Süddeutschland, Leipzig, Botzen, ja von Beaucaire versah. Von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an, wo der Linnenhandel in Verfall gerieth, warf sich das Völklein mit gleicher Energie auf die Baumwollenindustrie und die Weiber verstanden es bald, den neuen Stoff so außerordentlich fein zu spinnen, daß eine Spinnerin im Dörflein Stein aus vierzig Loth einen Faden von 833,300 Fuß oder fast sechzig Stunden Länge zog, während das feinste englische Garn es nur auf 630,000 Fuß brachte. Die neue Industrie wurde mit glänzendem Erfolge gepflegt; es entstanden neben der Handweberei, die in jedem Hause betrieben wurde, bald Färbereien, Druckereien, Appreturen und Bleichereien für die Baumwollstoffe und seit 1760 wurde auch die Handstickerei von St. Gallen aus eingeführt. Mit welcher Kunstfertigkeit damals die Weberei betrieben wurde, davon zeugen noch zwei Hemden, ohne Naht gewoben, von denen das eine in Herisau, das andere in England aufbewahrt wird und bei deren kunstvoll ineinander gewirkten Fäden weder Anfang noch Ende zu erkennen ist.


Appenzeller Handstickerinnen.
Nach einer Originalzeichnung von Rittmeyer.


Seither machte Außerrhoden alle Stadien in der Entwickelung der Baumwollenindustrie durch. Vom Cambrik, der Perkale und Indienne wurde zur Mousselinegaze, zum Calico, Tüll und der Jacquardweberei fortgeschritten, und die Handelswege über alle Meere benutzt. Das Völklein verdankt dieser industriellen Thatkraft einen sehr großen durchschnittlichen Wohlstand, in dessen Scala freilich die Bauern, die Spuler und Weber heutzutage auf den untern, die Fabrikanten und Kaufleute auf den obern Stufen stehen. Blühende Dörfer und Flecken von zweitausend bis achttausend Einwohnern und von einer Nettigkeit und Sauberkeit, die jeden Fremden höchlich überrascht, bedecken das wellige Hügelland.

Diese Volksgruppe des Säntisgebiets steht ohne Frage unter allen vieren auf der höchsten Stufe der Cultur; sie schreitet im Guten wie im Schlimmen lebhaft mit der Zeit fort. Sie besitzt ausgebildete und mit Liebe gepflegte politische und ökonomische Gemeinwesen und bringt große Opfer für gute Volksschulen, für Straßen etc. Die Volkstracht haben die Außerrhoder, wie die früher genannten Familien, schon längst abgelegt; ihre Kleidung und ihre hellen, vielfenstrigen Häuser verrathen eine ganz besondere Reinlichkeitsliebe. In ihrem Charakter sind sie gewissermaßen die Nordamerikaner der Schweiz, unternehmend, durch und durch praktisch, auf Gewinn und Verdienst erpicht, ohne Sinn für Kunst (mit Ausnahme des wohl gepflegten Gesanges) und Literatur, dabei

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 525. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_525.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)