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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

die ihrigen herauslesen müssen. Die Herren vom Lloyd behaupten, daß noch nie jemand einen Koffer weggenommen habe, der nicht sein Eigenthum gewesen, sie verweisen sogar als eine Art opus supererogativum des Erfolgs ihrer Systemlosigkeit auf einen Koffer, der noch nicht von seinem Eigenthümer reclamirt ist und seit Wochen ruhig im Gepäckraum dasteht.

So schmeichelhaft diese Thatsachen auch für den Ehrlichkeitssinn der Deutschamerikaner sein mögen, so würden diese doch gern auf diesen Zuwachs an Renommée verzichten, wenn sie statt dessen ihr Gepäck mittelst Marken durch einen „Dienstmann“ sich ohne Weiteres in ihr Hotel besorgen lassen könnten, statt wie jetzt stundenlang im Bahnhofe Untersuchungen anzustellen und wegen der Sicherheit ihres Eigenthums eine Zeit lang nicht ganz ohne Sorge zu sein. Nachdem die Passagiere im Bahnhof sich das Warten auf die Ankunft des Gepäckzugs mit Vortrag patriotischer Lieder verkürzt, schieden die oceanischen Cameraden, um wenige Stunden später auf Eisenbahnzügen, Dampfbooten und Wagen ihren ehemaligen Heimathen zuzueilen, die sie jedoch in den meisten Fällen nicht wieder zu fesseln vermögen. Wenige Monate und die Erde brennt unter ihren Füßen und nicht eher haben sie Ruhe, als bis sie das Rauschen der blauen atlantischen Woge wieder unter sich vernehmen, die sie dem neuen Vaterlande zuführt, welches sie jetzt nach vierjährigem großen Kampfe stolzer als je ihr eigen nennen.

Vorher wird eine Menge der interessantesten Wiedersehungsscenen in alten Vaterlande stattfinden und menschliche Eitelkeit wie berechtigter Stolz ihre Triumphe feiern. Der arme czechische Junge, der vor fünfundzwanzig Jahren sein Dorf im Böhmerwald verließ, kehrt jetzt als San Francisco-Großhändler mit einer zarten spanischen Frau in die heimathlichen Thäler zurück, sein Kind wird von einer englischen Gouvernante bedient. Aehnliche Fälle lagen in genügender Anzahl vor; mittellose Personen befanden sich nur äußerst wenige auf dem Schiff. Eine derselben, ein Mann, der in New-York ein Jahr sich mit Lumpensammeln ernährt und jetzt nach Saarlouis, seiner Heimath, zurückreiste, ließ eine Collecte für sich veranstalten, weil ihm noch verschiedene Thaler zur Fahrt von Bremen nach Rheinpreußen fehlten. Noch schlimmer war ein Büchsenschmied aus Würtemberg daran, den chronischer Rheumatismus des Gebrauchs seiner Glieder seit mehreren Jahren beraubt und der jetzt im Wildbad Heilung suchen wollte, vorausgesetzt, daß ihm die Aufnahme als Armer in das freie Hospital gelingt. Auch für diesen vom Schicksal Verfolgten wurde gesammelt.

Ein weit härteres Geschick erwartete jedenfalls die Ochsenfrösche, welche Dr. Morgan von New-York dem bekannten Professor Dubois-Reymond in Berlin per Amerika übersandte, damit sie im Interesse der Wissenschaft trepanirt und sonst mißhandelt werden, um der „Materie“ über den „Geist“ zum Siege zu verhelfen. Eine allerliebste Tigerkatze von Neu-Granada, die während der Fahrt in Folge des Schaukelns und der kühlen Temperatur tiefsinnig geworden, lebte in Bremen unter der warmen Sonne neu auf und hat jetzt im zoologischen Garten zu Hannover reiche Muße, über die verlorene Schöne am Orinoco nachzudenken.

Charakteristisch für die von den Vereinigten Staaten herüberkommenden Passagiere ist das Selbstvertrauen und die Sicherheit, mit der sie überall auftreten; es sind großentheils vielgereiste Leute, die ihren Cursus mit Nutzen durchgemacht. Ein ganz anderes Lebensbild giebt eine Fahrt von Bremen nach New-York, wenn, wie man in den Vereinigten Staaten sagt, „grüne“ Deutsche die Mehrzahl der Passagiere bilden. Schon der Umstand, daß auf der Reise von New-York die erste Kajüte überfüllt, nach New-York dagegen meist leer ist, beweist die Verschiedenheit von Lebensanschauung und Lebensstellung.




Ein Sohn Thüringens.

„Ein Sohn des sang- und liederreichen Thüringens, der seine Lieder voll tiefer Naturempfindung, voll reinen Menschengefühls, voll wahrhafter Poesie gesungen und erlebt hat auf langer Wanderschaft. Er hat ein gut Stück gesehen von ‚der schönen, weiten Welt‘, zu der’s ihn so sehnsüchtig hinauszog über die grünen Waldberge seines heimathlichen Thales. Aber zuletzt hat’s ihn doch nicht gelitten da draußen in der Fremde, fern von der Heimath, und er hat all die Herrlichkeit der Welt verlassen und ist wieder zurückgekehrt in den grünen Waldfrieden seines thüringischen Heimatthales. Da bin ich ihm begegnet und hab’ ihn kennen gelernt zu guter Stunde unter seinen Büchern und Naturstudien, bin mit ihm gewandert manchen schönen Tag und hab’ es ihm auf den Kopf zugesagt, daß er ein Dichter sein müsse, ohne daß ich wußte, ob er jemals ein Gedicht gemacht; und eigentlich wußte das fast Niemand, kaum er selber. Er war der einzige lyrische Poet unter den unzähligen, die mir in meinem Leben bekannt geworden, von denen das alte Wort: ‚Dichter lieben nicht zu schweigen, wollen sich der Menge zeigen‘ etc. nicht galt.“

Mit diesen warmen Worten charakterisirt Adolph Stahr in der Einleitung seiner Ausgabe von Berthold Sigismund’s „Liedern eines fahrenden Schülers“, treffend eine der hervorragendsten Seiten des zu früh von uns geschiedenen, uns unvergeßlichen Dichters und Schriftstellers, sinnigen Naturforschers, hingebenden Jugend- und Volksfreunds. Auch die „Gartenlaube“ verlor in ihm einen vieljährigen, gediegenen Mitarbeiter, und sie glaubt nur die Pflicht der Dankbarkeit gegen den Hingeschiedenen zu erfüllen, wenn sie ihren Lesern das ansprechende Bild seines Lebens vorführt.

Ja, das „Wandern und Singen“ in heimathlicher Natur war seine größte Lust und Freude! „So fröhlich, frisch und vogelfrei in’s Blaue fortzustreben, die schöne, weite Welt zu sehen“, das war von Jugend auf sein sehnsüchtiges Verlangen!

Die ersten Stiefeln trug ich
Und saß am Berg allein,
Da sann und sann und frug ich:
Wie muß es drüben sein,
Jenseits der Berge Zinnen,
Dort hinter’m Waldessaum?
Des Tags war das mein Sinnen,
Und Nachts war das mein Traum.

Den Vater fragt’ ich schüchtern;
Doch lächelnd sagt er mir:
‚Glaub’ Träumen nicht und Dichtern!
Dort ist es grad wie hier.‘
Nein, nein, was hold mir träumte,
Ist wohl des Suchens werth!
Ungläubig ich mir zäumte
Geheim mein Steckenpferd,

Und ritt im schnellsten Traben
Den steilsten Berg hinauf;
Doch da verfolgt den Knaben
In sorglich schnellem Lauf
Die Mutter, und sie sperrten
Mich hinter’n Fliederzaun;
Ich sollte nicht die Gärten
Jenseits der Berge schaun.

Zerbrochen ist das Pferdchen,
Das ich als Knabe ritt,
Doch läuft mein Steckenpferdchen
Noch jetzt denselben Schritt.
Wenn Berge vor mir blauen,
Da bin ich gleich entbrannt,
Dort hinter’m Berg zu schauen
Das wunderschöne Land.

Wandernd und singend belauscht er die Natur bis in die Tiefen ihrer geheimsten Werkstätte; als rüstiger Wanderer durchforscht er mit offenem Auge und Herzen Land und Leute; wandernd und singend bringt er selbst den Leidenden Trost und Hülfe; auf weihevollen Spaziergängen lehrt er seine Kinder und Schüler die irdische Heimath kennen und lieben – auf fröhlicher Wanderschaft gebietet ihm endlich der Tod das unerbittliche Halt.

Das Leben eines reichbegabten, edlen Mannes, selbst wenn es, wie das unseres Sigismund, in seinen äußern Verhältnissen nichts Ungewöhnliches bietet, ist stets lehrreich und anziehend, erhält aber ein höheres, psychologisches Interesse, wenn sein Bildungsgang die zu duftigen Blüthen und segensreichen Früchten sich entwickelnden Keime und Knospen schon früh gelegt und sorgfältig gepflegt erkennen läßt. Auch Sigismund’s Werden und Wesen, seine Gefühls- und Anschauungsweise wurzelt unverkennbar in der goldnen Jugendzeit und in den glücklichen Verhältnissen seiner ersten Umgebung. In Stadtilm im Schwarzburgschen am 19. März 1819 geboren, verlebte er den größten Theil seiner Jugend in Blankenburg am Thüringer Walde, dem Wohnsitze seiner Voreltern, wohin sein Vater als Justizamtmann 1828 versetzt wurde. Die Lage dieses Städtchens im freundlichen Thalschooße der Rinne, gehoben durch die auf steil emporragendem Berge thronenden Ruinen des Greifensteins, ist so reizend, daß selbst Fürst Pückler einst entzückt äußerte: „Hätte ich nicht Muskau, möchte ich Blankenburg haben!“ Hier in den stillen Thälern mit dem traulichen Wellenrauschen, in den tiefen Felsgründen mit ihren heimlichen Waldesschluchten, bei den ernsten Denkmälern der Vorzeit sog sein weiches, für Naturschönheit empfängliches Gemüth die ganze Zauberfülle der Romantik ein, empfing er den Weihekuß des Genius, der seine Dichtungen, sein ganzes Wesen durchweht. Und wer die „unschuldigen, liebevollen, naturwahren Poesien des fahrenden Schülers recht genießen, die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 539. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_539.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)