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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Wasser geworfen worden sein, und die Vermuthung sprach dafür, daß dieses eben da geschehen, wo die Leiche gefunden wurde, weil hier gerade ein Wirbel in der Saale war, welcher einen einmal erfaßten Gegenstand nicht leicht wieder entließ. Hierzu kam noch, daß die Angeklagte zweimal in der Nähe dieses Platzes gedient hatte, und daß dicht dabei eine Brücke über die Saale nach mehreren Vergnügungsorten führt, über welche die Angeklagte häufig gekommen sein mußte.

Unter der Leitung des Polizeirathes Albrecht in Halle sind nun in der Stadt und in deren Umgegend die sorgfältigsten Nachforschungen nach verschwundenen Kindern angestellt worden: man hat von allen Küstern und Hebammen Verzeichnisse der in der Zeit vom 15. April bis zum 5. Mai 1864 in Halle und Umgegend geborenen Kinder eingezogen und deren Verbleib mit bewundernswerther Genauigkeit festgestellt. Auch öffentliche Aufrufe sind ohne Erfolg geblieben. Das ertrunkene Kind kann daher unmöglich eines von denjenigen sein, deren Geburt zur vorschriftsmäßigen Kenntniß der Hebammen und Küster gelangt war. Aber mußte es darum gerade das Kind der Angeklagten sein? Konnte es nicht von einem anderen unglücklichen Geschöpfe herrühren, welches sich zu dem verzweifelten Entschlusse gedrängt sah, den Zeugen seiner Schande für immer in den Fluthen zu begraben? Konnte das Kind nicht von einer durchreisenden Person herrühren? Pflegen nicht bei Kindern dieses Alters Gewicht und Maß ziemlich gleich zu sein? Sind Augenkrankheiten nicht bei neugeborenen Kindern eine ziemlich häufige Erscheinung? Sind blonde spärliche Haare bei Kindern so selten zu finden? Muß es nicht auffallen, daß jener Wasserwirbel die Kindesleiche vom 11. bis zum 16. Mai herumtrieb, ohne daß eine der zahlreichen auf der Brücke vorübergehenden Personen dieselbe bis dahin bemerkt haben sollte? Und vor Allem muß doch auch hervorgehoben werden, daß nicht der geringste Beweis dafür vorliegt, daß die Angeklagte überhaupt ihr Kind mit nach Halle gebracht hat.

Die Anklage lautete auf Mord; denn das Strafgesetz nimmt lediglich da einen nur mit zeitlicher Zuchthausstrafe bedrohten Kindesmord an, wo eine Mutter ihr nicht legitimes Kind entweder während der Geburt oder innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden nach derselben vorsätzlich um’s Leben bringt, weil es im letzteren Falle voraussetzt, daß die Mutter in Folge von Schmerz, Aufregung und Furcht vor Schande nicht bei voller Zurechnungsfähigkeit gewesen sei.

Es ist ein ergreifender Anblick, zu sehen, wie ein einzelner Mensch vor ernsten zweifelnden Richtern und gegenüber einer Beweislast, zu deren Aufbringung der Staat alle Kräfte aufgeboten bat, um sein Leben kämpft, und doppelt ergreifend ist dieser Kampf da, wo ein schwaches Weib ihn führt. Die Angeklagte führte ihn, wie schon erwähnt, mit einer Ruhe und Umsicht, welche in Erstaunen setzten. Beiläufig sei bemerkt, daß der Vertheidiger sich fast nur darauf beschränkte, einen kürzlich vorgekommenen Fall aus der englischen Schwurgerichtspraxis ausführlich mitzutheilen und im Allgemeinen die Behauptung aufzustellen, daß ein Schuldig überall da nicht ausgesprochen werden dürfe, wo sich doch möglicherweise die Sache noch anders verhalten könne, ohne daß er aber nach Maßgabe dieses Grundsatzes die Einzelnheiten des Falles der Reihe nach einer tiefer gehenden Prüfung unterzog. Nach kurzer Berathung sprachen die Geschworenen mit elf Stimmen gegen eine über die Angeklagte das Schuldig aus, und selbst bei dieser einen Stimme ist es zweifelhaft, ob sie aus principieller Abneigung gegen die drohende Todesstrafe oder aus Ueberzeugung von der Unschuld der Angeklagten zu deren Gunsten ausfiel. Jedenfalls ist dieses Stimmenverhältniß indeß ein Beweis für die Schwere der Verdachtsmomente, welche sich über ihrem Haupte zusammengethürmt hatten. Aber weder jetzt, noch als der Gerichtshof das Todesurtheil über sie aussprach, verlor die Angeklagte ihre Fassung; ohne ein Geständniß abgelegt zu haben, folgte sie ihrem Wärter in das Gefängniß und wird dieses nur verlassen, um entweder das Schaffot zu besteigen, oder, im günstigsten Falle eines Gnadenactes, auf Lebenszeit hinter Zuchthausmauern zu verschwinden.

Haben wir es nun hier mit einer betrogenen Unglücklichen oder mit einer verlogenen Mörderin zu thun? Ist der Beweis wirklich so vollständig erbracht, daß es die Frau Werther nicht giebt und nicht geben kann? Es sei fern von uns, den Händen der Justiz eine ihr verfallene Schuldige wieder entreißen zu wollen; aber es kommt uns darauf an, das Geheimniß aufzuklären, welches über der Sache zu schweben scheint. Noch lebt, noch athmet die Angeschuldigte; noch hat das Henkerbeil seine grausige Arbeit nicht gethan. Noch ist die Möglichkeit gegeben, vielleicht eine Unschuldige zu retten, vielleicht aber auch die Schuld einer Verbrecherin so klar hinzustellen, daß selbst der geringste Zweifel, welcher etwa in der Brust eines ihrer Richter bei der Abstimmung der Geschworenen sich regt, schwinden muß. Scheuen wir diesen letzten Versuch nicht! An der Existenz der geheimnißvollen Frau Werther hängt das Leben der Angeklagten; das Erscheinen derselben giebt der Angeklagten Leben und Freiheit wieder! Wohlan denn, dehnen wir die Nachforschungen, welche bisher nur auf den kleinen Umkreis von Leipzig und Halle beschränkt waren, über ganz Deutschland aus. Es war dies bis zur Urtheilsfällung unmöglich, weil die Gesetze es verbieten, bis zu diesem Augenblick den Inhalt von Untersuchungsacten zu veröffentlichen. Lebt eine Frau Werther, sei es auch unter anderem Namen, so wird unser Ruf sie sicher erreichen. Die „Gartenlaube“, welche in der Hütte des schlichten Arbeiters ein ebenso willkommener Gast ist wie in den Sälen der Reichen, wird diese Frau ausfindig zu machen wissen, wenn dieselbe nicht überhaupt blos die schlaue Erfindung einer durchtriebenen Verbrecherin ist; sie wird dann auch diejenige Mutter erreichen, deren Kind in den Wellen der Saale todt gefunden wurde, wenn diese nicht mit der Angeklagten eine und dieselbe Person ist. Mögen diese Frauen der Wahrheit die Ehre geben! Mögen sie offen auftreten und für die Angeklagte Zeugniß ablegen! Möge Jeder, welcher Auskunft zu geben vermag, dieses thun!

Es gilt ein Menschenleben!

J. Chop.




Blätter und Blüthen.

Eine freche Verhöhnung der Gesetze. Um die Wirkungen des heilkräftigen Seebades zu paralysiren, hat das stolze England seit Jahren, versteht sich gegen Erlegung einer enormen Pachtsumme, auf Helgoland die Erlaubniß zur Haltung einer Spielhölle gegeben. Diese Bank auf Helgoland bringt, Dank den vielen Gimpeln, die sich dort rupfen lassen, trotz der großen Abgaben, einen enormen Reingewinn. Was liegt daran, wenn die sonst so segensreichen Wirkungen des Badeaufenthaltes durch die zerstörende Aufregung der spielenden, meistens nervenleidenden Patienten für diese in das Gegentheil umschlagen? Man behauptet, der Gouverneur der Insel beziehe von dem Pachtschilling einen Theil seiner Einkünfte, auch die Ausbesserung des Straßenpflasters wird davon bezahlt: Grund genug, der Spielerbande den Schutz der Gesetze angedeihen zu lassen! Da aber dieser Schutz vollständig ungesetzlich ist, so ereignete sich vor mehreren Jahren ein Vorfall, der beinahe dem ganzen Unwesen ein Ende gemacht hätte und der in seiner Art sehr komisch genannt werden könnte, wenn er nicht eine fast beispiellose Verhöhnung der englischen Gesetze, ausgeübt von englischen Unterthanen, unter der Aegide eines englischen Gouverneurs, in sich schlösse.

Ein verkommenes Subject hatte irgendwie erfahren, daß alle Hazardspiele in England durch Parlamentsacte strenge verboten sind. Darauf baute der Strolch nun den Plan, „die Bank auf Helgoland zu rupfen“. Gesagt, gethan! Er machte der Administration den bescheidenen Vorschlag, ihm eine große Summe auszubezahlen, widrigenfalls er sie ruiniren würde. Man behandelte ihn ganz einfach als Verrückten und warf ihn zur Thür hinaus. Der hartgesottene Projectenmacher aber begab sich zum Gouverneur und machte diesem mündlich und, als dieser darauf nicht einging, schriftlich die Anzeige, daß auf der Insel Helgoland eine Spielerbande ihr Wesen treibe, deren Aufhebung er nach den bestehenden Gesetzen verlange.

Nach einigen Wochen erhielt er von dem „Stellvertreter der Königin“ den Bescheid, daß dieser von dem Bestehen einer solchen Bank nichts wisse, daß er aber den Aufsichtsbehörden den Befehl zugesandt habe, nach einer solchen zu recherchiren.

Und wie komisch es auch klingt, während Tag für Tag öffentlich, im Curhause, zwei Spieltische unausgesetzt arbeiteten, suchten die Behörden von Helgoland einen halben Monat lang, um die denuncirte Bank aufzufinden, und berichteten wieder an den Gouverneur, daß ihnen dies trotz aller Mühe nicht gelungen und eine Spielhölle auf Helgoland nicht aufzufinden sei. Hierauf wurde das „Subject“ wegen Mangel an Subsistenzmitteln von der Insel verwiesen. Um aber dem Eclat, den die Sache dort in sehr unliebsamer Weise verursachte, ein kleines Mäntelchen umzuhängen, wurden die Nachforschungen nach der Spielbank, die sich auf Helgoland befinden „solle“, so eifrig fortgesetzt, daß dieselbe kurz vor dem Schluß der Saison richtig aufgefunden und drei Tage vor dem Ende derselben wirklich polizeilich geschlossen wurde. Natürlich trat das Bänkchen im nächsten Sommer zu neuem blühenden Leben auf und besteht seit der Zeit unangefochten und unbehelligt weiter. Einen Commentar braucht die Geschichte nicht, wohl aber die möglichste Verbreitung.


Kleiner Briefkasten.

M. v. d. Gr–n in Berlin. Schon mit nächster Nummer beginnt wieder eine größere Erzählung. Im Uebrigen werden wir Ihren und den Wünschen vieler Leser gemäß, zu dem alten Principe der Gartenlaube, wo möglich in jedem Monatshefte eine Erzählung abzuschließen, fortan zurückkehren.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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