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kein Haar auf der Stirn sehen ließ und zu beiden Seiten abstehende Spitzengarnirungen hatte. Die Seejungfer war das Kind eines sehr armen Schusters, der sie und ihren etwas älteren Bruder Leberecht streng und gottesfürchtig erzogen hatte und für beide Kinder keine kühneren Wünsche hegte, als daß Suschen später im Dienst ihr redliches Brod erwerbe und sein Erstgeborner ihm dereinst auf dem Dreibein gegenüber sitzen und das einsame Schusterhandwerk betreiben werde. Das stille, sanfte Suschen, für dessen Ideenkreis die engen Wände der Schusterstube vollkommen genügten, war ganz mit dem Lebensziel einverstanden, das der Vater ihr vorgesteckt. Dem jungen Leberecht jedoch wuchsen die Flügel um ein Beträchtliches länger, ja, sie reichten sogar bis zur Gottesgelahrtheit hinan. Er besaß glänzende geistige Fähigkeiten, welche ein eiserner Fleiß unterstützte, und so gelang es ihm denn auch, mittelst eines Stipendiums, Theologie zu studiren. Er hatte bereits sein Examen ausgezeichnet bestanden und einige Mal bei großem Zudrang in seiner Vaterstadt vortrefflich gepredigt, als er infolge seiner rastlosen geistigen Thätigkeit auf das Krankenlager sank, um sich nie wieder zu erheben – er starb an der Lungenschwindsucht.

Suschen, die den Bruder wie ein höheres Wesen verehrt hatte, erlag fast ihrem Schmerz, aber sie hatte ein halbverwaistes Kind zu pflegen und zu erziehen; deshalb mußte sie sich aufraffen, was sie auch redlich that. Mit dem Kind hatte es folgende Bewandtniß. Einmal, als bereits der junge Leberecht täglich nach Prima wanderte und Suschen schon seit längerer Zeit von den ehrbaren Bürgersfrauen mit „Jungfer“ titulirt wurde, geschah es, daß sich der Storch „sehr verspäteter und unnöthiger Weise“, wie sich der entsetzte Schuster ausdrückte, auf dessen Dach abermals niederließ; seit dem letzten Kind, das er todt gebracht hatte, war er neun Jahre ausgeblieben. Mit schwerem Herzen und sorgenvoller Stirn zog die Meistersfrau die wurmstichige Wiege aus dem dunkelsten Bodenwinkel, verjagte die erschrockenen Spinnen aus dem kleinen Bett, fuhr mit einem nassen Tuch über dessen schmale Seitenwände, worauf alsbald großgemalte Engelsköpfe mit brennendrothen Backen und himmelblauen Augen triumphirend erschienen, und stellte es sacht neben ihr Bett, unweit des alten Dreibeins, auf welchem der Schuster mit wahrer Wuth eine unglückliche Stiefelsohle behämmerte.

Das half aber Alles nichts; die Wiege konnte er doch nicht in Stücke zerhämmern, und später hätte er es wahrscheinlicher Weise auch gar nicht gethan, denn da lag etwas Niedliches darin. Aber es war gerade, als sei der uralte Storch mit einem Mal blödsichtig geworden und als hätte er die aufgehangenen Leisten in der Schusterstube für Ahnenschilder eines alten erlauchten Geschlechts gehalten, denn das Kind in der Wiege sah gar nicht in die eigentlich sehr unschöne Schusterfamilie, und sah überhaupt nicht aus wie ein Schusterkind; es lag vielmehr mit seiner blendend weißen Haut, dem zartgoldenen, feinen Haar und den großen, blauen Augen wie eine Prinzessin in den groben Kissen. Dafür wurde es aber auch der Augapfel des Vaters – die Mutter starb bei der Geburt der Kleinen – und ein Gegenstand der unausgesetzten Bewunderung seiner Geschwister. Während der junge Lateiner mit gewandter Feder seine Uebersetzungen schrieb, erhielt sein Fuß die Wiege im sanften Schwunge. Alle weiblichen Schönheiten des classischen Alterthums schmückte seine jugendliche Phantasie mit den feinen Zügen des Schwesterchens, und das erste Lächeln des Kindes begeisterte ihn zu Versen. Suschen dagegen ließ der Kleinen die sorgfältigste körperliche Pflege angedeihen. Sie hielt sie stets fleckenlos sauber und ging nie mehr aus ohne das Kind auf dem Arm, denn die Menschen blieben ja auf der Straße stehen und konnten sich nicht satt sehen an dem reizenden kleinen Blondkopf.

Als der Bruder Leberecht todt war und der Schuster auch bald darauf das Zeitliche segnete, da bezog die Seejungfer die ihr mitleidig gewährte Freistätte im alten Kloster und etablirte sich als Feinwäscherin. Sie brachte nichts mit, als ihre unerzogene Schwester, die geringen ererbten Habseligkeiten und ihre arbeitenden Hände. Was aber die Aufmerksamkeit und besonders den Tadel der neugierig gaffenden Klosterbewohner erregte, das war ein netter, kleiner Glasschrank mit grünen Wollvorhängen, den die Seejungfer in die neue Wohnung schaffen ließ. Dies Schränkchen enthielt die sämmtlichen Bücher des verstorbenen Bruders. Für Suschen selbst konnten diese literarischen Schätze freilich keinen Werth haben, denn sie verstand ja nichts von all dem, was darin stand; allein sie hatte oft genug gesehen, mit welch innigem Behagen der Bruder diese Lieblinge musterte, wie er darbte und sparte, um dies oder jenes heißgewünschte Werk anschaffen zu können. Auf jedem Titelblatt stand sein Name mit der zierlichen Schrift, die sie immer so bewundern mußte; aus jedem Buch guckten einzelne Papierstreifen, welche er bei bemerkenswerthen Stellen eingelegt hatte; manches steckte noch im schützenden Papiereinband, der sorgfältig mit Oblaten drüber geklebt war, und das waren für sie lauter Heiligthümer, von denen sie sich um keinen Preis der Welt getrennt hätte, lieber wäre sie Hungers gestorben. Deshalb aber wurde sie auch zum ersten Mal in ihrem Leben heftig, als die Nachbarinnen ihr riethen, das unnütze Zeug zu verkaufen.

Die Seejungfer lebte von nun an nur ihrer Arbeit und der Erziehung ihrer kleinen Schwester, Magdalene, die denn auch im Laufe der Zeit zu einem auffallend schönen Mädchen heranblühte. Suschen betrachtete sie oft mit geheimer Lust und sah sie schon im Geiste als die stattliche Hausfrau eines ebenso stattlichen Bürgers und Meisters. Allein das Schicksal fragt ebensowenig, wie ein junges liebendes Herz nach den Plänen einer mütterlichen Liebe und Fürsorge, und so wurde Suschen sehr bald und sehr unsanft aus ihren Versorgungsträumen geweckt.

Nicht weit von der Stadt, in der diese kleine Geschichte spielt, lebte zu jener Zeit auf einem einsamen Schlosse eine einsame, verwittwete Prinzessin, in deren Diensten sich, da sie eine leidenschaftliche Kunstliebhaberin war, ein italienischer Künstler befand. Dieser Neapolitaner nun war es, welcher den Strich durch Suschens Zukunftspläne machte. Er war ein schöner Mann mit feurigen, dunklen Augen und kohlschwarzen Locken. Eines Tags sah er die blonde Magdalene Hartmann, wie sie, einen Korb voll feiner Wäsche auf dem Kopfe, durch den Schloßgarten schritt. Alsbald entbrannte er in heftiger Leidenschaft für sie, und als er ihr, wenige Wochen darauf, nachdem er verschiedene Male mit ihr gesprochen, in der schattigen Lindenallee des fürstlichen Gartens seine glühende Liebe gestand, da konnte auch sie nicht widerstehen und versprach ihm, wenn auch unter Thränen und heftigen Angstschauern, ihm in seine prächtige südliche Heimath zu folgen.

Das war aber ein furchtbarer Schlag für die Seejungfer, als Magdalene ihren Entschluß aussprach und zugleich versicherte, daß sie sterben würde, wenn sie dem Geliebten nicht folgen dürfe. Suschen wollte jammern und bitten, allein infolge der letzten Drohung des jungen Mädchens verschluckte sie ihre Thränen und ließ es widerstandslos geschehen, daß eines Morgens, nach einer einfachen Trauung, der Bildhauer Bervaldo seine junge, blonde Frau in den Wagen hob und für immer der deutschen Heimath entführte. Vierzehn Jahre lang kamen regelmäßig Briefe aus Italien und berichteten wechselnd Glück und Leid, im fünfzehnten aber erschien eines Morgens ein dickes Briefpaket aus Neapel; es war gar nicht von Magdalenens Hand, und als es geöffnet wurde, da fiel ein Brieflein der Schwester heraus, in welchem sie die Seejungfer beschwor, sich ihres einzigen Kindes anzunehmen, weil sie sich dem Tode nahe fühle. Dabei lag ein Schreiben der Behörde, welches besagte, daß der Bildhauer Giuseppe Bervaldo sammt seiner Ehehälfte an einem hitzigen Fieber und mit Hinterlassung einer achtjährigen Tochter das Zeitliche gesegnet habe. Ein Freund des Verstorbenen wolle das verwaiste Kind bis nach Wien mitnehmen, von wo es aber die Verwandte abholen müsse, sofern sie nicht wolle, daß es einer öffentlichen Anstalt übergeben werde. Zugleich wurde darauf hingewiesen, daß die Eltern völlig mittellos gewesen seien und der Kleinen auch nicht das geringste Erbe hinterlassen hätten.

Anfänglich weinte die Seejungfer bitterlich, dann aber faßte sie sich wunderbar schnell und entfaltete eine ungemeine Energie und Rührigkeit. Sie nahm die Ohrringe der seligen Mutter und die, welche sie selbst an ihrem Confirmationstage als Pathengeschenk erhalten, aus dem sogenannten Heiligthum, einer alten, mit Watte gefüllten Schachtel; dann trennte sie aus dem weißen Bürgerhäubchen, das der Mutter höchster Schmuck gewesen war, den goldgestickten Boden; die dicke silberne Uhr des Vaters und zwölf silberne Westenknöpfe wurden auch dazu gelegt. Dies Alles trug sie zum Goldschmied und verkaufte es. Hierauf schloß sie das Glasschränkchen auf und nahm – kein Buch – sondern ein schweres Päckchen mit bebender Hand und feuchtem Auge heraus. Um das Päckchen war ein weißes Papier gelegt und darauf stand in großen, steifen Buchstaben und sehr unorthographisch geschrieben: „Ich möchte gern für dieses Geld ein ehrliches Begräbniß

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 562. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_562.jpg&oldid=- (Version vom 22.12.2020)