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haben, aber auch einen Leichenstein, und darauf soll stehen: Jungfer Susanna Hartmann.“ In dem Päckchen befanden sich dreißig blanke Silberstücke, die gaben mit dem Erlös der verkauften Sachen zusammen fünfundvierzig Thaler.

Eines Morgens sah man hinter den Fenstern der Seejungfer statt der weißen Kattunvorhänge festanschließende, mit blauem Papier beklebte Fenstereinsätze, und die Blumentöpfe auf den Simsen waren verschwunden. Die Seejungfer hatte sich, zum maßlosen Erstaunen der Klosterbewohner, aufgemacht, das Kind der verstorbenen Schwester zu holen. Drei Wochen blieb sie aus; da plötzlich, an einem Sonnabend Nachmittag, trat die Seejungfer wieder in den Klosterhof, ebenso geräuschlos kommend, wie sie gegangen war. Alt und Jung stürzte aus den Thüren und umringte die Ankommende, die, scheu und wortkarg wie immer, auf alle Fragen des andringenden Haufens nur erwiderte, daß sie in Wien gewesen sei, und als Beweis dafür auf ein kleines Mädchen zeigte, welches den Kopf ängstlich in den Rockfallen der Seejungfer zu bergen suchte. Es war aber ein merkwürdiges kleines Wesen, das die Alte da mitgebracht hatte, ein wahres „Taternkind“ (Zigeunerkind), wie die Nachbarinnen meinten, ein Wechselbalg, vor dem man sich fürchten könne – es sei ganz unmöglich, daß die schneeweiße, goldhaarige Magdalene solch ein schwarzgelbes Ding zur Welt gebracht habe. Die Seejungfer sei angeführt worden, das müsse ein Kind einsehen. Und in der That, das braune Gesicht der Kleinen, die ziemlich große Nase und der Wust pechschwarzen Haares, der auf eine niedrige Stirne fiel, dies Alles hatte auch die Seejungfer erschreckt. Trotzdem konnte sie die Zweifel der Nachbarinnen nicht theilen, denn das Mädchen trug unverkennbar die Züge ihres italienischen Vaters. Es hatte auch seine wunderbar tiefen, glänzenden Augen, deren Schönheit jedoch durch die schwarzen, zu stark entwickelten Brauen sehr beeinträchtigt wurde, welche auch dem Gesicht jede Spur von Kindlichkeit nahmen.

Nach einigen Tagen der Ruhe, welche hauptsächlich dazu benutzt wurden, der Kleinen ein möglichst sauberes, gefälliges Ansehen zu geben, führte die Seejungfer ihren kleinen Fremdling in Begleitung der üblichen Zuckerdüte nach der Schule. Die erste Vorstellung fiel, wie die zaghafte Alte richtig vorausgesehen hatte, nichts weniger als glänzend aus. Das Kind hielt krampfhaft die Hand der Muhme umschlossen und fuhr mit dem Kopfe heftig unter deren Mantel, als der Lehrer es anredete. Die sanften Bitten der Seejungfer und die eindringlichen Reden des Lehrers bezweckten nichts weiter, als daß die Kleine sich nur um so tiefer in die Kleider der Alten einwühlte, bis endlich dem Lehrer die Geduld riß und er scheltend das kleine Mädchen unter dem Mantel hervorzog. Da brach aber die ganze Classe in ein schallendes Gelächter aus, denn der mittelst Pomade und Kamm mühsam gebändigte Haarwust hatte sich bei der heftigen Gegenwehr des Kindes aufgelöst und starrte nun nach allen Himmelsgegenden. Zu gleicher Zeit aber erhob die Kleine ein so schmerzliches Geschrei, daß der Lehrer sich zornroth die Ohren zuhielt und die Seejungfer vor Angst am ganzen Leibe zitterte.

Von jenem Tage an war die kleine Fremde so zu sagen vogelfrei in den Augen der anderen Kinder. Die verwarfen ihren Eigennamen Maddalena, der so sanft klang, und nannten sie einstimmig „Tater“, ob auch die Kleine wüthend wurde, ihre weißen Zähne zornig wies und mit dem Fuße stampfte. Sie lief meist wie gescheucht nach Hause, der Kinderschwarm lärmend hinterdrein, bis sich die Verfolgte auf einen Eckstein flüchtete, dort die verschränkten mageren Arme über die Augen hielt und regungslos stehen blieb. Dann sah man nur noch an der kleinen, heftig athmenden Brust, daß Leben in ihr war; sie rührte sich auch dann nicht mehr, wenn die wilden Kinder sie an den Kleidern zupften oder mit Wasser bespritzten, und wartete geduldig, bis vernünftige Erwachsene sie befreiten und ihre kleinen Peiniger nach Hause gehen hießen. Bei den Lehrern fand sie wenig Schutz. Sie fühlten keine Sympathie, für das kleine unheimliche Wesen, das bei jeder Frage die düsteren Augen wild erschreckt auf sie heftete und nur selten, am allerwenigsten aber mittelst Drohungen oder rauher Worte zu einer Antwort sich bewegen ließ. Freilich zeugte dieselbe dann stets von einer merkwürdigen Fassungskraft und von einem klaren Verständniß dessen, was der Lehrer vorgetragen; allein die wenigen Worte wurden gewöhnlich rauh und in fremdklingendem Deutsch hervorgestoßen und von so heftigen Gesten begleitet, daß allgemeines Gelächter entstand.


Seit jenem denkwürdigen Abend, an welchem die kleine Waise aus dem Süden zum ersten Male die Freistätte des Elends betrat, mochten ohngefähr zwölf Jahre verstrichen sein – und hier beginnt eigentlich diese Erzählung – als an einem Pfingstsonntag, und zwar gerade als die sogenannte große Glocke mit tiefem, mächtigem Klange in das Nachmittagsgeläute einfiel, ein junger Mann am Eingang der schmalen Gasse erschien, welche nach dem Kloster führte. Offenbar war er dem Geläute bis hierher gefolgt. Er blieb einen Augenblick stehen, gleichsam überwältigt von der Macht dieser wundervollen Harmonie. Zwei greise Mütterchen, festlich angethan mit dem silberbesetzten Bürgerhäubchen und in den stattlichen, radförmigen Tuchmantel gehüllt, schritten an ihm vorüber nach der Kirche und grüßten freundlich. Auch verschiedene Fenster öffneten sich, aus denen Männer in Hemdärmeln und Frauen mit der Kaffeetasse in der Hand die neugierigen Gesichter steckten. Der junge Mann aber bemerkte dies Alles nicht; das Auge auf den Thurm gerichtet, durch dessen offene Luken man deutlich die schwingenden Glocken sehen konnte, ging er langsam weiter bis zu dem Gärtchen auf der Mauer. Dort, durch den Kastanienbaum gegen die brennenden Sonnenstrahlen geschützt, lehnte er sich an das Gemäuer und lauschte bewegungslos. Da erhob sich ein schwacher Luftzug: ein weißes Blatt flatterte vom Mauerrand herab zu seinen Füßen, zugleich lief eine weibliche Gestalt droben durch das Gärtchen und verschwand in dem offenstehenden Fenster. Die Erscheinung war flüchtig und lautlos vorübergeglitten wie ein Schatten. Der junge Mann hatte nur einen feingeformten Hinterkopf mit einem prächtigen bläulich schwarzen Flechtengewirr und einen entblößten, schöngerundeten Arm gesehen, der das Fensterkreuz umschlang, während der schlanke Leib sich in das Innere des Hauses bog; allein in dieser einen Bewegung lag so viel jugendliche Anmuth, eine so schlangengewandte Biegsamkeit, daß der Beobachter drunten auf der Straße ohne Zweifel auch ein dazu gehörendes Gesicht voll Liebreiz voraussetzte, denn er musterte sofort mit großem Interesse die Fensterreihe mit den weißen Vorhängen, hinter deren einem jedoch nur das scharfe Profil der Seejungfer sichtbar war, wie sie, die Brille tief auf die Nase herabgedrückt und das Gesangbuch weit abhaltend, ihr Nachmittagsgebet las.

Der Fremde hob das Blatt auf, das noch vor ihm auf dem Boden lag. Es enthielt das flüchtig, doch correct mit Bleistift hingeworfene Portrait einer Frau, ein wunderliebliches, aber echt deutsches Gesicht, von lichten, Haar umrahmt, unter dem kleidsamen Schleier der Neapolitanerinnen. Das Blatt war jedenfalls von dem Steintisch droben auf der Mauer herabgefallen, dessen Platte mit verschiedenen Papieren bedeckt war; auch mehrere Bücher lagen dort. Diese Zeichen einer höheren geistigen Beschäftigung sammt dem improvisirten hohen Gärtchen voll Blüthenduft und Käfergeschwirr sahen merkwürdig genug aus inmitten der zerfallenen, armseligen Umgebung, fast wie ein versprengtes Märchen, das sich in die rauhe Wirklichkeit verirrt hat.

Unterdeß hatte das Geläute einen immer mächtigeren Aufschwung genommen, ein Zeichen, daß es seinem Ende nahte. Der junge Mann sah wieder hinauf nach dem Thurmfenster, aber statt der schwingenden Glocken erschien jetzt eine helle Gestalt in der schmalen Oeffnung, es war dieselbe Erscheinung, die vorhin so rasch über die Mauer gehuscht war. Der Fremde hatte nicht so bald dies bemerkt, als er auch das Kloster und die Kirche umschritt und die alte, ausgetretene Steintreppe des Glockenthurmes hinanstieg. Als er oben war, fiel sein erster Blick auf die Gestalt im Fenster, und überrascht blieb er stehen. Es war ein junges Mädchen, das da still und regungslos mit gefalteten Händen auf dem Sims saß. Das Spitzbogenfenster mit seinen feingemeißelten Arabesken umschloß sie wie ein enger Rahmen, und gegen den tiefblauen Himmel draußen, der sich erst in weiter Ferne auf einen schöngeschwungenen, in zartes Violet getauchten Bergrücken legte, zeichnete sich ein bewundernswürdiges Profil ab, rein und tadellos in der Form und von einem hinreißenden Ausdruck beseelt.

Der Blick des Fremden, der unverwandt und erstaunt auf dem Gesicht haftete, schien indeß etwas wie eine magnetische Kraft zu besitzen, denn das Mädchen wandte plötzlich den Kopf nach innen. Ihr dunkles Auge öffnete sich weit und starrte ihn einen Augenblick an, als käme er aus der Geisterwelt, dann aber sprang sie mit einem Schrei vom Sims herab, barg den Kopf in beiden Händen und rannte in dem schmalen Gange, der zwischen den Glocken und der Mauer blieb, wie in Todesangst einen Ausweg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 563. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_563.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2016)