Seite:Die Gartenlaube (1865) 587.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

als wäre die Flasche, die ich vor mir hatte, wahnsinnig geworden und komme nun und locke mich immer wieder in den Keller zurück. Was meint Ihr Brüder in Apoll zu diesem Vorschlage?“

Und sich zu dem Vierten des Bundes wendend, einer echt jüdischen Physiognomie, der, den Hut auf dem Kopf, unruhig im Zimmer hin- und herging, rief er: „Nun, Arno, Du philosophischer Ex-Talmudist, laß Dein Singen sein:

‚Was soll ich in der Fremde thun?
Es ist ja hier so schön!‘

und gehe zur Thür hinaus, damit wir folgen können!“

Doch der Angeredete, statt dem Worte Gehör zu geben, wendete sich und sagte unter Lachen, dem aber der bittere Ernst nicht fehlte: „Lieber Ferrand, Du hast Vermögen und kannst ganz Deinen Neigungen leben; ich habe dem Talmud und mit ihm meinen Freitischen und sonstigen Unterstützungen Valet gesagt. Ich bin angehender Journalist, und deren Jahresrente ist, wie Du weißt, verdammt klein, zumal wenn man noch einen Bruder auf den Hals gesendet bekommt, den man unterstützen soll. Laßt uns gehen. Aber nicht in den dumpfigen Keller hinein, sondern hinaus in Sturm und Wind! Iacta alea est. Ich hab’s gewagt!“

Und sofort wieder in seinen alten, heiteren, gemüthlichen Ton einfallend, schritt er zur Thür hinaus und summte vor sich hin, während die drei Freunde folgten:

„Habt Recht! das jetz’ge Leben ist
So fade und so triste!
Drum mög’ ein bessres mir erblüh’n
Als großer Journaliste!“

und fort ging’s, die Treppe hinab, zum Hause hinaus, die Straße entlang.

Unwillkürlich schlug man die Richtung nach dem Thore ein. Gesprochen wurde nicht, nur der Officier sagte einmal flüchtig, sich zu seinem Begleiter wendend: „Das war eine köstliche Idee von Dir: wahnsinnige Flasche. Der Gedanke verläßt mich nicht. Was wird aus demselben und durch denselben zu Tage kommen! Nun, was es auch werden möge, Dir soll es gewidmet sein!“

Man war durch das Hamburger Thor gegangen und schritt das düstere, unheimliche Voigtland entlang, jene damals noch tief verrufene Gegend, wo unheimliche Gestalten scheu an den Häusern entlang schlichen, wo in den Kellern und Spelunken wilde Orgien gefeiert wurden, die sich jeder Beschreibung entzogen. Lampen brannten nicht mehr, der Mond schaute durch wildzerrissene Wolken auf die Erde nieder. Hastiger, ruheloser schritten sie dahin. Und immer einsamer, düsterer, unheimlicher wurde es. Der Mond hatte sich hinter Wolken verborgen, jetzt blickte er wieder durch die wild vom Winde zerrissenen hindurch, sie sahen auf, Häuser fanden sich nicht mehr, sie waren auf freiem Felde, sie standen am Fuße des – Galgens.

Einen Augenblick stutzten die jugendlichen Genossen, es fröstelte sie doch beim Anblick der Richtstätte; war doch erst vor Kurzem ein Mörder gerichtet worden. Dann aber mit Gewalt alle unheimlichen, düsteren Gedanken von sich abschüttelnd, sprangen sie, wie verabredet, wie auf Commando, den Galgen hinauf, drei von ihnen lehnten jeder an einem Pfeiler, und der, welcher den Vorschlag zum Ausgehen gegeben, der Ex-Talmudist, war in der Mitte stehen geblieben, nahm den Hut vom Kopfe und hob begeisterungsvoll zu sprechen an. O, es war eine tiefdurchdachte, glühende, wild phantastische Rede, und nie ist den Zuhörern diese Stunde aus dem Gedächtniß gekommen. Er sprach über den Ort, wo er stand, und über den Mangel an Liebe in der Welt, über die schöne Erde, den gestirnten Himmel, immer denkend und meinend, daß alle jene Tausende von Sternen auch bewohnt seien von denkenden Geschöpfen, daß unser Leben hier nicht abgeschlossen sei, sondern in andern Welten seine Fortsetzung fände. „Gott hat uns das Gemüth aufgehängt in der Mitte zwischen das Spitzchen von Herz und das Spitzchen von der Seele. Wenn die Seele krank ist, legt sich das Gemüth auf das Herz und das thut weh; und wenn das Herz krank ist, legt sich das Gemüth auf die Seele und das thut gut. In wem aber die Seele lacht, in dem tanzt das Gemüth hin und her vor Freude und klopft an unser Herz und unsere Seele, und das ist ein Lachen, welches Gott gefällt.“ Heut leben wir. Wie werden wir enden? Wer wird sich von uns nach zehn, zwanzig Jahren dieser Stunde erinnern?

Es war eine eigenthümliche Rede, die er hielt, wild phantastisch, mit bitterem Spott gewürzt, aber auch zugleich und namentlich von ernster, unendlicher Liebe durchzogen. Seine drei Zuhörer standen lautlos still, Niemand sprach. Und als er geendet, zuletzt noch den Gerichteten Ruhe und Frieden wünschend, hoffend, daß Humanität und allgemeine Menschenliebe alle Richtstätten verschwinden machen werde, stiegen sie die Stufen von dem Galgen hinab und schritten der Stadt wieder zu. Mitternacht war nahe, es war rauh und kalt.

Vor dem Hause Nummer sieben der kleinen Hamburger Straße reichten die Drei dem militärischen Freunde die Hand. „Gute Nacht, Sallet!“ sagten sie und gingen weiter.

An der Ecke der nächsten Straße verabschiedete sich der Mediciner. Es war Julius Minding, der Verfasser des Lehrgedichts „Das Leben der Pflanze“, später bekannter geworden durch seine Lieder vom alten Fritz und sein Gedicht vom großen Kurfürsten. In hastigen Schritten, von tiefer, innerer Sehnsucht getrieben, eilte er der Oranienburger Straße zu. Und hier, dem Hause nahe, wo der große Alexander von Humboldt starb, mäßigte er seinen Fuß, er blieb stehen und blickte zu einem Fenster des nahestehenden Hauses auf. Wie lange er hier gestanden, wer kann es wissen? Ruhelos fast die ganze Nacht hindurch, ging er hier vor dem Hause auf und nieder. Sein wunderschöner, formvollendeter Sonettenkranz: „Daß ich dich liebe, ist’s, warum ich leide,“ war nicht erdichtet, er war erlebt. Er liebte die Frau seines Freundes.

Die beiden andern Freunde aber gingen Arm in Arm der Königsstadt zu. Am Alexanderplatz, wo sie sich trennten, begegnete ihnen Wilhelm Müller, der Herausgeber und Verfasser des in vielen Jahrgängen erschienenen Taschenbuchs: „Des Bettlers Gabe.“ Er war vor Kurzem erst von Pommern nach Berlin übergesiedelt. Der Mann soll tief schmerzliche Lebensschicksale erfahren haben; er war, wie es hieß, lange Zeit in Rußland, woher es also auch kam, daß die meisten seiner wild-düsteren, überreich phantastischen Geschichten auf jenem Boden spielten. Seine früheren Genossen, Schauspieler, dem, auch dies sollte er lange Zeit gewesen sein, nannten ihn zum Unterschiede von Andern seines Namens den Todtenkopf-Müller. Woher dieser Name rührte, haben wir nie erfahren können, wie wir denn auch nicht einmal wissen, ob der selbe überhaupt noch lebt oder nur in dem großen, weiten Berlin vergessen und verschollen ist, wie seine vielen Erzählungen und Romane vergessen sind. Die Woge der Zeit hat ihn dahingespült. Das Glück stand nie an seiner Seite. Und doch war er eine so überaus reichbegabte Natur!

Bald darauf, nach dem Mitgetheilten, kehrte Friedrich von Sallet nach dem Rhein in seine Garnison zurück. Von hier aus sendete er sein heroisches Epos in zwei Sitzungen: „Die wahnsinnige Flasche“, versprochenermaßen seinem Freunde E. Ferrand, dem das Werkchen auch gewidmet war. Es ist gänzlich verfehlt und Sallet’s unwerth. Er würde es selbst später niemals unter seine Gesammtwerke aufgenommen haben, denn Sallet war überaus streng gegen sich selbst, wie er denn auch an die Menschheit ernste Forderungen stellte. Als Verfasser des „Laien-Evangeliums“, „der Atheisten und Gottlosen unserer Zeit“ war er sich dies schuldig.

Dem Freunde schrieb er: „Ich versumpfe und vertrockne in meiner Stellung. Drei Jahre bekomme ich Pension. Außerdem stehe ich nicht gerade hülflos da. Meine Absicht ist, durch literarische Arbeiten mir fortzuhelfen, dabei aber mich ernsten Studien, namentlich denen des classischen Alterthums, hinzugeben und auf eine Professur loszuarbeiten.“

Er trat mit dem Ende des Jahres 1838 aus dem Officierstande, verließ Trier und ging nach Breslau. Das Journal, welches er hier zu gründen beabsichtigte, kam nicht zu Stande. Ihm zum Glück, denn seine Natur war nicht dazu angethan, Redacteur eines Journals zu sein, besonders bei seinem Hange zum einsamen Leben und bei seinem Studium der Hegel’schen Philosophie. Wie schön aber schrieb er einem Freunde: „Das Leben ist kurz, doch vorwärts! erst wenn wir ermattet am Ziele des Lebens stehen, wollen wir uns umsehen, wen wir hinter uns haben; für jetzt nur daran gedacht, wie unendlich viel noch vor uns liegt!“ So dachte und schrieb er. Allein es war ihm nicht vergönnt, lange auf der Bahn des Lebens dahinzuschreiten. Ein früher Tod machte seinem Streben ein Ende, nachdem er vorher noch an der Seite einer überaus geliebten Frau wenige Jahre in angestrengter Thätigkeit, ganz seinen Ideen und Neigungen gemäß gelebt hatte. Mit Recht

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 587. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_587.jpg&oldid=- (Version vom 16.9.2022)