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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

ein und ließ sie jeden Morgen mit wehenden Fahnen und klingendem Spiel zu den Werkstätten ziehen und jeden Abend ebenso zurückkehren. Nach Berichten, die allerdings von Gegnern der Arbeiterbewegung ausgehen und der Uebertreibung verdächtig sind, soll die Zahl der in den Nationalwerkstätten Beschäftigten auf 150,000 gewachsen sein.

Die Nationalversammlung war kaum eröffnet, als ein Bericht über diese Werkstätten gefordert wurde. Trelat erstattete ihn und gelangte zu dem Urtheil: Es wird wenig gearbeitet und dieses Wenige ist nicht verkäuflich. Ein in einer spätern Sitzung gefaßter Beschluß, die Werkstätten von ihren gefährlichen Elementen zu reinigen und die Mitglieder zu entwaffnen, rief den Juniaufstand hervor. So furchtbar gestaltete sich der Kampf dieser Tage und so entschieden bestärkte er die Kleinbürger (bourgeois) von Paris in der reactionairen Stimmung, die unter ihnen bereits Platz gegriffen hatte, daß sie zwischen Reform und Revolution nicht mehr unterschieden, Arbeiterparlament und Nationalwerkstätten durch einander warfen und Louis Blanc für Alles verantwortlich machten. Trotz aller Proteste des Verleumdeten, trotz der Beweise vom Gegentheil, die er beibrachte und die sich selbst in den Schriften seiner Gegner finden, ist die unsinnige Anklage immer wieder aufgetaucht, und es ist mit der Zweck dieser Zeilen den wackern Volksmann von dieser Beschuldigung beim deutschen Publicum zu reinigen.

Louis Blanc.

Fünfzehn Jahre nach dieser merkwürdigsten Epoche seines Lebens sah ich Louis Blanc als Flüchtling in London wieder. Als der Juniaufstand niedergeworfen war, ging das erste Bestreben der antisocialistischen Partei dahin, sich Louis Blanc’s zu entledigen, der an der Spitze der Arbeitercommission im Luxembourg und sämmtlicher Socialwerkstätten stand. Um seiner Verhaftung zu entgehen, floh er in der Nacht des 26. August von Boulogne über das Meer. Es war bei einem Mittagsessen im gastlichen Hause meines Freundes Carl Blind in dem Londoner Stadtbezirke St. John’s Wood, wo ich nach den stürmischen Tagen in Paris dem ehemaligen Minister der französischen Republik wieder begegnete. Es giebt Menschen, auf deren Aeußeres Alter, Schmerzen und getäuschte Hoffnungen wenig oder gar keinen Einfluß ausüben; die Jahre rauschen an ihnen vorüber, ohne ihr Haar zu bleichen, ohne ihre Gestalt zu verändern, ohne den Glanz ihres Auges zu trüben; denn die Schönheit und der Reichthum ihres Geistes drücken auf ihr Antlitz den Stempel ewiger Jugend, den selbst der scharfe Zahn der Zeit nicht zu zerstören vermag. Zu diesen bevorzugten Menschen gehört Louis Blanc. Ich war erstaunt, als ich ihn eintreten sah. Lagen wirklich fünfzehn Jahre zwischen heute und damals, wo die Arbeiter ihn mit dem Titel eines „premier ouvrier de France“ beehrten? Oder träumte ich? Schrieben wir nicht heute 1849 statt 1864 und war es nicht erst vor wenigen Monaten, daß Louis Blanc vor den Häschern der französischen Polizei nach England floh? Gerade so wie heute sah ich ihn vor fünfzehn Jahren, als die Pariser Volksmassen unter der Anführung Blanqui’s, Raspail’s und Barbès’ den Sitzungssaal der Nationalversammlung im ehemaligen Palais Bourbon überflutheten, auf der äußern Galerie des Palastes stehen, die dreifarbige Fahne Frankreichs in der Hand, ganz in ihre Falten eingehüllt, von den tausendfachen Hochs der Arbeiter empfangen, als sie ihren Liebling erblickten. Die Rufe „vive Louis Blanc, vive la république sociale!“ übertönten, wie der Donner des Himmels, das Waffengeklirr und die Commandoworte; jedes andere Geräusch ging unter und verschwand in diesen hochgehenden Wogen des Jubels und der Begeisterung. Das war ein glänzender Festtag in dem einfachen Leben Louis Blanc’s, der, selbst als er an der Spitze der französischen Republik stand, immer sein Diner zu dem mäßigen Preise von zwei Franken verzehrte. Ganz so, wie damals, sah ich ihn heute. Es fehlte nur die äußere Decoration, die Galerie des Palastes, der Faltenwurf der bunten Fahne, die jubelnden Hochs der Tausende, die begeisternde Atmosphäre der Revolution. Aber er war derselbe geblieben. Dieselbe zarte und geschmeidige Gestalt, dasselbe braune, volle Haar, die großen flammenden Augen, aus denen mich der geistvolle Denker und der glühende Politiker anschauten, dieselben lebensfrischen und intelligenten Züge, in denen sich die Humanität des Socialisten mit dem scharfen Verstande des Logikers vereinigte. Als ich nicht umhin konnte, ihm mein Erstaunen darüber zu erkennen zu geben, daß die Zeit keinen Einfluß auf ihn zu haben scheine, sagte er lachend: „Nicht wahr, ich habe mich sogar verschönert!“

Seit jenem Tage habe ich Louis Blanc während meines damaligen Aufenthalts in London häufig gesehen. Er wohnte in demselben Stadtviertel, wo auch Blind, Mazzini, Ledru-Rollin und Kinkel wohnen, in dem schönen, stillen St. John’s Wood, wo man von dem geschäftlichen Geräusch der ungeheueren Weltstadt nichts hört, wo die Blumen duften und der feuchte Westwind im Laube der Ulmen und Kastanien flüstert. Das ganze Viertel besteht aus eleganten und geschmackvollen Landhäusern, von Blumengärten, duftigen Rasenplätzen und schönen Baumgruppen umgeben. Eines von diesen Landhäusern am Melina-Place, ein einfaches zweistöckiges Häuschen im Rahmen von Rasenplätzen und stattlichen Bäumen, bewohnt Louis Blanc. Der Vorübergehende sieht nichts von seiner stillen Einsamkeit; eine hohe Mauer trennt Haus und Garten von der staubigen Straße. Ein Klingelzug öffnet die kleine Thür in der Mauer, und überrascht erblickt das Auge des Eintretenden den duftigen Rasen und die farbigen Blumen. Das Haus gehört einer jungen Dame mit ihrer ältern Tante – Louis Blanc hat während seines ganzen Aufenthalts in England bei dieser Familie gewohnt – sie sind Deutsche von Geburt, leben aber schon seit Jahren in England. Auch die Dienstboten sind Deutsche. Ich war aufs Höchste überrascht, als ich Louis Blanc zum ersten Male in seiner Wohnung am Melina-Place besuchte und im Hause überall Deutsch sprechen hörte. Louis Blanc’s Arbeitszimmer befindet sich im ersten Stock; es ist ein großes, hohes, in comfortabler Weise eingerichtetes Gemach, die Fenster mit Blumen geschmückt, die Aussicht auf Feld und Wald. Da stand der große, mit Büchern, Papieren und Zeitungen bedeckte Schreibtisch, an dem der berühmte Historiker sein Werk über die erste große französische Revolution während seines Exils beendigte – hätte Louis Blanc während seines ganzen Lebens nichts gethan, als dies Werk und „die Geschichte der zehn Jahre“ geschrieben,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 589. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_589.jpg&oldid=- (Version vom 16.9.2022)