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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

„Großmama, es sind fremde Leute in der Hausflur!“

Die alte Räthin, die mit einem sehr dicken Herrn langsam im Gespräch herabkam, beeilte möglichst ihre Schritte, und als sie nun unten stand, zornig das falsche Toupet unter der großen Haube schüttelnd, da versammelten sich die in Kapuzen gehüllten jungen Freundinnen schleunigst um sie, wie die Lämmer um den getreuen Hirten, in den frommen, schuldlosen Zügen einen nicht zu bezweifelnden Abscheu, verbunden mit dem Ausdruck unendlicher Wißbegierde. Selbst der Bediente gesellte sich zu der Heerde und hielt, trotz des Lampenlichtes, das von der Decke herabfloß, seine Laterne über die Köpfe der Delinquentinnen, um sie gleich von vornherein der Möglichkeit zu berauben, ihre verbrecherischen Absichten in ein wohlthätiges Dunkel zu hüllen.

Die alte Dame faßte ohne Weiteres das schwarze Tuch, das die Seejungfer über ihren Kopf gebunden hatte, und zog es herunter.

„Das ist ja die Seejungfer,“ sagte sie mit harter blecherner Stimme. „Und wer ist denn diese Mamsell da?“ fuhr sie fort, indem sie ihren dürren Zeigefinger nach Magdalenen ausstreckte. „Die mummt sich ja ein, als wäre sie das böse Gewissen selbst. … Auf der Stelle sagt, was Ihr hier gewollt habt.“

Magdalene schwieg abermals, und die Seejungfer brachte vor Schrecken kein Wort heraus.

„Nun, könnt ihr nicht antworten?“ fragte streng der dicke Herr, ohne Zweifel ein allmächtiger Beamter, dem die Justiz aus Stirn, Augen, Nase, ja, womöglich aus den Rocktaschen guckte. Er hatte mit der Frage zugleich seinen Stock derb auf das Steinpflaster gestampft und schien die unglückliche Seejungfer mit seinen Blicken durchbohren zu wollen. Diese Manöver brachten denn auch endlich Suschens erstarrte Zunge in den erwünschten Fluß, und stammelnd erklärte sie, daß sie bei Jacob gewesen seien.

„Ach, liebster Egon,“ rief in diesem Augenblick sich umdrehend, die alte Räthin mit möglichst weicher und milder Stimme, als am oberen Treppengeländer der junge Werner erschien, „hier hast Du den schlagendsten Beweis, daß meine wohlgemeinten Vorstellungen begründet gewesen sind. Mit diesem Jacob hast Du Dir – mich will ich gar nicht nennen – eine wahre Ruthe aufgebunden. Unter dem Vorwand, ihn zu besuchen, schleicht sich bei Nacht und Nebel allerhand Volk in’s Haus, und man wird künftig genöthigt sein, über jeden silbernen Löffel die Hand zu halten.“

Bei dieser abscheulichen Schlußwendung trat Magdalene rasch gegen die Sprechende vor. Das Tuch war vom Kopf auf die Schultern gesunken, und so stand sie mit sprühenden Augen, das ideale Haupt hoch gehoben, vor der alten Frau, welche sie erschrocken und verblüfft ansah. Zugleich war Werner die Treppe herabgesprungen. Eine flammende Röthe bedeckte sein Gesicht, und als er zu sprechen anfing, bebte seine Stimme wie im heftigen Zorn.

„Was fällt Ihnen ein, Tante,“ rief er, „diese Leute ohne Weiteres so zu beleidigen? … Ist es ein Verbrechen, wenn sie Bekannte aufsuchen? … Ich habe Ihnen bereits einigemal erklärt, verehrteste Frau Tante,“ fuhr er fort, und sein Ton klang spöttisch, „daß ich durchaus nicht leide, wenn Sie mir den Jacob anfechten, und sehe mich in diesem Augenblick genöthigt, diese Erklärung insofern zu vervollständigen, als ich auch Diejenigen unangefochten sehen will, mit denen er verkehrt.“

Mit diesen Worten schritt er nach der Hausthür, öffnete sie und sagte mit einer leichten Verbeugung den zwei Frauen gute Nacht, die eiligst hinausschlüpften.

Bald nachher entlud sich ein heftiges Gewitter über der Stadt; und wenn die gelben Blitze um das alte Kloster zischten und die kleine Kammer Magdalenens tageshell durchflammten, da beleuchteten sie das Mädchen, wie sie bleich, die Hände tief eingewühlt in das aufgelöste, reiche Haar, auf dem Bett saß – einem größeren inneren Sturm preisgegeben, als der war, der draußen an den alten Mauern rüttelte.


„Ach, Du lieber Gott, Jacob, ist das ein Schicksal mit dem Lenchen!“ seufzte die Seejungfer einige Tage nach jenem Vorfall, indem sie Jacob’s Stübchen betrat.

„Ja, was ist denn mit dem Mädchen?“ fragte Jacob erschrocken.

„Hättet Ihr denn geglaubt, daß mir das Mädchen das noch in meinen alten Tagen anthun würde?“ entgegnete Suschen, und heiße Thränen liefen über ihre Wangen. „Ich bin ein armes, geplagtes Weib mein Lebtag gewesen,“ fuhr sie fort, „aber ich habe Alles geduldig auf meinen Rücken genommen, so wie mir’s unser Herrgott bescheert hat, aber jetzt wird mir’s zu viel… Das ist doch das Schlimmste, was ich nun noch erleben soll, das Lenchen will fort, will durchaus fort in die weite Welt, und ich soll nun wieder allein sein. Bin nun meine sechszig Jahre alt, muß jeden Tag auf mein selig Ende gefaßt sein, und habe keine Menschenseele, die mir die Augen zudrückt… Ach, ach!“

„Ja, wie kommt denn das Mädchen mit einem Mal auf den Gedanken?“ fragte Jacob erstaunt.

„Ich weiß nicht,“ entgegnete die Seejungfer, indem sie ihre Augen mit dem Schürzenzipfel trocknete, „aber sie ist gerade wie ausgewechselt seit dem Abend, wo die alte Räthin da drüben – na, die Strafe wird da auch nicht ausbleiben – so grob mit uns war. Das Mädchen ißt und trinkt nicht mehr, und gestern Abend, als wir still bei einander saßen und noch kein Licht angesteckt hatten, da legte sie ihren Arm um meinen Hals, wie sie als Kind immer gethan hat, wenn ich ihr was gab, oder sie ins Bett brachte… ‚Liebe, gute Muhme,’ sagte sie, ,Ihr habt mich lieb, gelt? … Ich weiß es ja, so lieb, als ob ich Euer eigen Kind wäre… Eine gute, echte Mutter bringt ihrem Kind jedes Opfer und fragt nicht, ob es schwer oder leicht ist – gerade so habt Ihr ja auch immer an mir gehandelt… Und wenn nun so eine Mutter weiß, daß ihr Kind rechte Schmerzen leidet, und einsieht, daß es nur wieder gesund werden kann, wenn sie sich von ihm trennt, so – thut sie das auch, gelt, Muhme?’ Ach, Jacob,“ unterbrach sich die Seejungfer, und neue Thränen stürzten hervor, „ich wußte zwar eigentlich noch nicht, wo sie hinaus wollte, aber so viel merkte ich doch, daß sie nicht mehr bei mir bleiben will, und da weinte ich bitterlich… Sie sagte mir nun, daß sie’s hier nicht mehr aushalten könne – die Menschen seien nicht gut gegen sie; sie wolle in einer fremden Stadt einen Dienst suchen. Gelernt hätte sie ja ihre Sache und verspräche mir heilig, daß sie mir jeden Groschen, den sie verdiene, schicken wolle… All mein Zureden war in den Wind gesprochen, und als ich Licht gemacht hatte, da holte sie ihr Sparbüchschen aus dem Schranke und zählte das Geld – es waren sechs Thaler – wie sauer hat sie die verdient! Sie meinte, damit käme sie freilich nicht weit, doch bis in eine andere größere Stadt reiche es vielleicht… Ach, Jacob, ich bitte Euch um Gotteswillen,“ wandte sich die Seejungfer an den Alten, „redet dem Mädchen die Sache aus! … Ich schlafe keine Nacht mehr ruhig, wenn ich das Lenchen unter fremden Leuten weiß … sie ist ja so absonderlich; es wird Niemand die Geduld mit ihr haben, wie ich, und sie wird schlecht behandelt.“

Jacob’s Frau, eine sehr praktische Natur, beleuchtete die Sache von einer anderen Seite und meinte, das könne vielleicht dem Lenchen sein Glück sein. Die Seejungfer habe ja auch nicht das ewige Leben, und dann müsse das Mädchen doch hinaus. Davon aber wollten weder Suschen, noch Jacob Etwas hören, und letzterer versprach der geängsteten allen Jungfer, heute Abend noch ins Kloster zu kommen und Lenchen den Kopf zurecht zu setzen, wie er sich ausdrückte.

Die Seejungfer hatte nicht übertrieben, wenn sie Magdalenen gänzlich umgewandelt nannte… Wo war die Elasticität ihrer Bewegungen geblieben? Jene sichere, stolze Haltung des Kopfes, die an ihr stets auffallen mußte und die im Verein mit den ausdrucksvollen Gesichtszügen und dem eigenthümlich bewußten Blick auf eine große geistige Kraft schließen ließ? … Das Aussehen des jungen Mädchens schien selbst den Klosterbewohnern aufzufallen; denn heute, als sie der Muhme den Waschkorb bis an das äußere Thor getragen hatte und nun über den Hof langsam zurückkehrte, da schob der Nachbar, ein fleißiger Leinweber, sein Fenster auf und rief:

„Na, Lenchen, Du bist wohl so traurig, weil die ungezogenen Kinder das alte Muttergottesbild aus dem Kreuzgang drüben, Deine Marie, vor der Du so oft sinnend gesessen hast, von dem Postamente heruntergeworfen haben?“

Magdalene sah auf, als erwache sie aus einem Traume; er aber sagte: „Nun ja, wenn Du’s noch nicht weißt, da gehe einmal hinein – ich hab’s heute Morgen gesehen.“

Auf des Leinwebers Mittheilung hin öffnete Magdalene die Thür und sah auch schon von Weitem das Marienbild vor dem Postament liegen. Vor einigen Wochen noch, als einer der Knaben hinaufgeklettert war und im Begriff stand, das hölzerne Gesicht

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