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mit schwarzen Augenbrauen und einem eben solchen Bart zu versehen, hatte sie dem kindlichen Vandalen eine so leidenschaftliche Strafpredigt gehalten und ihn mit so zornigen Augen dabei angesehen, daß er erschrocken davongelaufen war. Heute aber hob sie still und geduldig das geschändete Bild auf, wischte die Erde aus dem Gesicht und lehnte es sorgfältig in die Ecke neben das Postament. Dann schritt sie langsam durch den großen, offenen Bogen hinaus auf den Rasenplatz, der, von Kirche und Kloster rings eingeschlossen, einsam und sonnenbeschienen dalag… Wie oft war sie flink über diesen Grasfleck weggehuscht, um gewandt auf einigen Mauervorsprüngen nach dem offenen Kirchenfenster zu klettern, in welchem sie verschwand. Dann war sie allein in der schaurig stillen Kirche; nichts störte sie, als der Schall ihrer eigenen Schritte, oder das Gezwitscher eines Vogels, der sich draußen auf dem Hollunderbusch niederließ, neugierig den Kopf in die düsteren, kühlen Hallen steckte und dann erschrocken davon flog, um sich aufs Neue im Sonnenglanz zu baden. Hier unter diesen gewaltigen Säulen athmete sie auf, und ihrer im engen Stübchen mattgedrückten Seele wuchsen die Schwingen… Ihre Phantasie beschwor die Zeiten heraus, wo noch der Weihrauch durch diesen Raum fluthete, wo die Hora klang und prächtige Meßornate am Hochaltar schimmerten. Sie sah bleiche Nonnengesichter an der zertrümmerten Orgel sitzen und mit bebenden, blassen Händen die vergilbten Tasten berühren … wie manchmal mochten diese Töne den Schmerz eines heißen, gewaltsam unterdrückten Herzens ausgehaucht haben… Sie beobachtete die Sonnenstrahlen, wie sie durch die Reste der bunten Glasmalerei im hohen Fensterbogen glitten, die Farbenpracht zitternd auf die schlanken Säulen warfen und sie hinauftrugen in die kunstvollen Schnörkel und Rosetten der Knäufe, die wohl seit dem letzten Meißelschlag des längst in Staub und Asche zerfallenen Meisters keine Menschenhand wieder berührt hatte. Stundenlang konnte sie neben jenem alten Madonnenbilde sitzen und sich in die Heimath träumen, wo sie Tausende in heißer Inbrunst vor einem solchen Bild hatte knieen sehen, wo ihr Vater nie vorübergegangen war, ohne ehrfurchtsvoll das Haupt zu entblößen und gläubig das Zeichen des Kreuzes zu machen. …

An alle diese Dinge aber schien Magdalene in diesem Augenblick nicht zu denken. Es war, als bebe sie fröstelnd vor den dunklen Kirchenmauern zurück und als fühle sie zum ersten Mal die todtenähnliche Stille des verlassenen Tempels, der im glühenden Sonnengold dalag wie ein riesiger Leichnam unter Purpur und goldenen Decken. Sie hatte sich, den Rücken nach der Kirche gewendet, unter einen alten Apfelbaum gesetzt, auf dessen verwittertem Stamm sich nur noch ein einziger, aber breiter und voller Ast wiegte. Lang aufgeschossene Gräser, an denen grüngoldene Käfer geschäftig auf- und abliefen, bogen ihre befiederten, blühenden Spitzen an ihre Kniee, und eine zahlreiche Familie großer Camillen duftete zu ihren Füßen.

… Und wenn sie nun Muhme, Kloster und Stadt verließ; wenn sie hinausging in die weite Welt, über dem Haupt mit den quälenden Gedanken einen anderen Himmel; wohin sie blickte, fremde Gesichter, auf denen nichts Wohlbekanntes stand; ihr ungestümes Herz inmitten einer Menschenfluth, die achtlos vorüber brauste, nichts von ihr nahm und nichts zurückgab – ja, das gerade wollte sie, allein sein, nichts mehr hören vom Vergangenen, keinem liebevoll und ängstlich fragenden Blick begegnen … vergessen, vergessen! Darin lag die Heilung eines plötzlich aufgerüttelten Herzens, das im Riesensturm ungeahnter, neuer Empfindungen ihr ganzes Inneres aus den Fugen zu reißen drohte… Wohl fielen die Thränen der alten, treuen Muhme schwer in die Wagschale und rissen an tausend zarten Fäden ihrer Seele; aber wie klein war dieser Schmerz gegen die Qual, die sie sich durch ihr Bleiben auferlegte, unter der sie erliegen mußte, wenn sie nicht floh! … Wie furchtbar hatte sie in den letzten Wochen gelitten! Sie meinte, sich selbst verachten zu müssen, weil sie da nicht hassen konnte, wo sie sollte und mußte… Wie geschäftig war ihr Herz gewesen, einen strahlenden Nimbus um sein Bild zu zaubern, als er neulich sie und die Muhme gegen seine Tante beschützte! Tags darauf begegnete sie ihm im Klosterhof, als er den Kirchenschlüssel bei der Muhme holen wollte. Sein eisiges Gesicht, die vornehme Ruhe seiner Haltung und die welligen, gleichgültigen Worte, die er an sie richtete, zeigten ihr abermals, wie thöricht es sei, in diesem kalten Herzen reges Mitgefühl vorauszusetzen. Er hatte einfach seine Rechte als Hausherr der anmaßenden Tante gegenüber vertreten wollen, und deshalb war es ihm jedenfalls sehr gleichgültig, wer die Veranlassung zu dieser Zurechtweisung gewesen.

Ein Vogel, der lange auf einem Zweig über ihr auf- und abspaziert war, flog schnell davon. Sie beachtete es nicht; als sie aber den seinen Duft einer Cigarre plötzlich einathmete, da fuhr sie erschrocken in die Höhe und blickte um sich. Eine Männergestalt, den Rücken nach ihr gekehrt, saß nicht weit von ihr auf einem großen, bemoosten Steine und zeichnete. Diese Männergestalt war Werner … Er schien in seine Arbeit so vertieft, daß Magdalene, welcher das Herz vor Schrecken heftig klopfte, hoffen konnte, er habe sie gar nicht gesehen und sie könne unbemerkt entschlüpfen.

Leise erhob sie sich und glitt wie ein Schatten unter dem überhängenden Ast weg, das Auge voll Angst auf den emsig Zeichnenden geheftet. Aber kaum hatte sie sich einige Schritte weit entfernt, als Werner, ohne aufzublicken, hinüberrief:

„Verzeihen Sie, daß ich in Ihr Reich eingedrungen bin!“

Darauf wendete er sich um nach ihr und lüftete den Strohhut, der leicht auf seinem dunkelblonden Haar saß.

Augenblicklich verwandelte sich Magdalenens Gesicht und Haltung. Die scheue Angst verschwand und machte einem finsteren Trotz Platz.

„Mein Reich?“ wiederholte sie bitter, indem sie stehen blieb.

„Nicht eine Fußstapfe Weges hier möchte ich so nennen, ohne mit der wohllöblichen Stadtbehörde in Conflict zu gerathen.“

„Nun, auch ich will sie nicht in ihrem Besitz verkürzen,“ entgegnete Werner, indem er gleichmüthig mit dem Gummi eine nichtgerathene Linie wegwischte. „Ich kann jedoch nicht glauben, daß sie auch Beschlag legt auf die mystische Luft, die um die alte Kirche weht, und in diesem Reich, meine ich, begegnen wir uns. Ich kann nicht einen Augenblick auf diesem Stein sitzen und das dunkle Gemäuer gegenüber ansehen, ohne daß nicht auch sogleich geheimnißvolle Gestalten auftauchen, welche jene Bögen, Nischen und Pfeiler bevölkern … In der Fensterhöhle dort, die auch nicht eine einzige Glasscheibe mehr aufzuweisen hat, sehe ich z. B. stets eine Mädchengestalt aus- und einschlüpfen, so oft ich auch hinüberblicke … vielleicht der Schatten einer unglücklichen jungen Nonne, welche das schöne Leben gänzlich nicht verstanden hatte und nun ruhelos das verschmähte Glück sucht – was meinen Sie dazu?“

Magdalene fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß. Ohne Zweifel hatte Werner sie auf ihrem Weg in die Kirche beobachtet. Sie war entrüstet über diese Indiskretion, sagte aber ziemlich ruhig:

„Ich habe hier ganz und gar keine Meinung. Die Spukgestalten des Klosters haben mich bis jetzt nicht für würdig gehalten, sie sehen zu dürfen. Auf alle Fälle möchte ich jedoch jener vermeintlichen Nonne rathen, sich künftig auf ihre enge Behausung zu beschränken, denn es mag selbst einem Schatten nicht gleichgültig sein, wenn ein fremder Blick in sein Walten und Wesen eindringt.“

Ein feines Lächeln, das jedoch ebenso schnell wieder verschwand, erschien im Gesicht des jungen Mannes. Er blickte aufmerksam nach dem Kirchenfenster, warf in zarten Linien die schöne, reine Spitzbogenform auf das Papier und sagte gelassen:

„Gewiß nicht, vorzüglich wenn dieser Schatten, von bitterer Weltanschauung erfüllt, in jedem harmlosen Begegnenden eine feindliche Gestalt sieht, die ohne Weiteres mit Feuer und Schwert bekämpft werden muß …. Weh mir, wenn jene Himmelsbraut so denkt! Ich komme dann vielleicht in den traurigen Fall, bei der nächsten Begegnung als unschuldiges Opfer einer Rache zu fallen, welche die Erdbewohner des sechszehnten Jahrhunderts heraufbeschworen haben.“

„Wie leicht mag es sein, über trübe Lebenserfahrungen zu spotten, wenn man im Schooße des Glückes sitzt!“

„Ohne Zweifel sehr leicht, nicht ganz recht zwar und vielleicht auch ein wenig leichtsinnig … aber ich weiß nicht, ob ich diesen gefährlichen Uebermuth nicht weit weniger verdammungswürdig finden soll, als z. B. das Gebahren einer jungen Seele, die nach trüben Erlebnissen und Enttäuschungen alle Fühlfäden einzieht und sich der gräulich verderbten Welt nur bis an die Zähne bewaffnet zeigt. … . Ah, ich sehe deutlich an Ihrem Gesicht, daß Sie nicht meiner Meinung sind!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 596. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_596.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2016)