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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

No. 39. 1865.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Die zwölf Apostel.
Von E. Marlitt.
(Schluß.)

Werner hatte bewegungslos zugehört. Er mochte fürchten, durch einen tieferen Athemzug oder einen Blick die weiche Stimme zu verscheuchen, die ihm hier, in Luft und Schmerz halb gebrochen, die Tiefen einer Mädchenseele enthüllte. Als Magdalene schwieg, sagte er langsam und ohne sich nach ihr umzuwenden:

„Und fiel kein einziger Liebesstrahl in Ihr Kindesleben?“

„Die Muhme hat mich mütterlich und zärtlich gepflegt – ihr Herz ist voll Liebe gegen mich,“ sagte Magdalene rasch und bewegt, „aber sie mußte für Brod sorgen, und es blieb ihr keine Zeit, zu beobachten, was in meinem Innern vorging. Auch hatte sie gewissermaßen eine Scheu vor meinem stürmischen Wesen, was mich später bewog, ihr gegenüber so ruhig wie möglich zu sein, um ihr keinen Kummer zu machen… Dann saß in der Schule neben mir ein schönes, kleines Mädchen mit einer sanften Stimme, die ich unbeschreiblich liebte; das Kind war barmherzig gegen mich; es spielte mit mir und nahm mich sogar einmal mit in sein elterliches Haus. Seitdem aber wurde es scheu und wich mir aus, und als ich einstmals sehnsüchtig auf der Steintreppe vor dem Hause saß, da kam ein Dienstmädchen heraus und hieß mich rauh meiner Wege gehen – die Frau Secretairin leide es nicht, daß ihr Töchterchen mit hergelaufenen Kindern spiele… Oft, wenn ich aus der Schule nach Hause ging, begegnete ich einem Knaben, der ernst und stolz den Kopf in den Nacken warf und der doch so mild aussehen konnte mit seinen blauen Augen. Seine Locken waren so golden, wie die meiner Mutter, und deshalb mußte ich ihm immer nachsehen, so lange ich konnte. Ich betrachtete ihn mit ehrfurchtsvoller Scheu und meinte, in den schön gebundenen Büchern, die er unter dem Arme trug, müßten Wunderdinge stehen. Er war viel älter als ich und der Sohn vornehmer Eltern; das kümmerte mich nicht – er sah ja aus wie meine Mutter, und deshalb mußte er gut und edel sein und ein Herz voll Mitleiden haben… Als mich aber einst eine Horde wilder Knaben mit Steinwürfen verfolgte und mich mit höhnendem Geschrei umringte, ging er vorüber. Er führte ein kleines Mädchen mit lichten Augen und farblosen Haaren sorgsam an der Hand; sie war ihm verwandt und hieß Antonie, sie zeigte geringschätzend auf mich, das berührte mich nicht, aber von ihm dachte ich, er wird dich schützen und die bösen Kinder verjagen … o, wie wehe that es, als er von fern stehen blieb, Abscheu in den Zügen, und das kleine Mädchen an sich drückend, als könne mein Anblick ihr schaden… Wahrlich, er war schlechter noch, als meine Verfolger; denn es hätte nur eines Wortes aus seinem Munde bedurft, um mich vor der Verwundung zu schützen, deren Narbe ich noch am Arme trage… Es war, als drehe sich in jenem Augenblick mein Herz um, und es ward voll Haß gegen den Knaben!“

Magdalene war einen Schritt näher getreten. Sie hatte immer lauter und heftiger gesprochen, und ihre Augen, die sie jetzt fest auf den jungen Mann richtete, flammten, als käme erst in diesem Augenblick jenes Gefühl zum Durchbruch.

Werner blickte auf. Er sah bleicher aus als vorher, nahm aber gelassen den Bleistift auf und schnitt ihn zurecht, indem er fragte:

„Und – hassen Sie ihn noch?“

„O, mehr als je!“ stieß Magdalene leidenschaftlich heraus.

„Ich mag ihm nie mehr begegnen! … Einen Gifttropfen, der zerstört, segnet man nicht!“

Mit diesen Worten wandte sie sich um und eilte durch den Kreuzgang hinaus in die Stube, die sie hinter sich verriegelte. Hier stand sie eine Weile athemlos und mit starren Augen am offenen Fenster und wiederholte sich, was eigentlich geschehen war. Sie hatte sich hinreißen lassen, vor einem Manne, den sie selbst herzlos und hochmüthig nannte, die Wunden ihrer Seele zu enthüllen, sie, die bis dahin zu stolz gewesen war vor fremden Ohren je eine Klage laut werden zu lassen. Sie hatte ein Erlebniß erzählt, das, wenn auch in ihr Kindesleben fallend, doch von großem Einfluß auf ihr innerstes Sein gewesen war und das in jüngster Zeit wieder die heftigsten Kämpfe in ihr hervorgerufen hatte… Nie hatte selbst die Muhme erfahren, wie dem armen Kinde der ganze Sonnenglanz seiner Seele, die kindliche Schwärmerei für ein aus der Ferne abgöttisch verehrtes Wesen grausam entrissen wurde. Nie aber auch hatte Magdalene sich selbst eingestehen mögen, daß das heranwachsende Mädchen später jenen Vorfall in der Erinnerung zu verwischen suchte und gern das Ideal ihrer Kindheit mit dem stolzen, lockenumwallten Gesicht in ihren Träumen heraufbeschwor. Sie sträubte sich ja noch in diesem Augenblick leidenschaftlich gegen das Bewußtsein, daß kein Gedanke sie beseele, der nicht ihm gehöre, keine Regung in ihrer Brust auftauche, die nicht von ihm spreche, ja, daß sie mit jeder Faser ihres Lebens an ihn gekettet sei, der auf der eisigen Stirn ihr nur Hohn und Spott entgegenhielt… Und nun war Vieles über ihre Lippen geschlüpft, das aus dem tiefinnersten Geheimniß hervorging, und zwar vor ihm, der es nie und nimmer hätte wissen sollen… Mußte nicht die Treue, mit der sie jene Episode der Kinderzeit festgehalten, die leidenschaftliche Aufregung, in die sie bei ihrer Erzählung gerieth, ihm nothwendig zeigen, in welchem Maße ihre Seele von ihm erfüllt war? … Es war ihren Blicken

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 609. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_609.jpg&oldid=- (Version vom 24.7.2017)