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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

wo sie verschwindet. Alle haben die Gestalt gesehen und verkünden und bestätigen dies der Sichselbstgeschauten.

Leise, in tiefem Sinnen, schließt sie das Buch; in Gedanken verloren schreitet sie durch das Zimmer. Jetzt tritt sie zu ihrem Instrument, sie öffnet es, läßt die feinen, durchsichtigen Finger über die Tasten gleiten und beginnt ihr Lieblingslied zu singen, das sie gedichtet und soeben in Musik gesetzt hat. Mit schöner, ergreifender Melodie hub sie zu singen an:

„Es steht ein Fischlein in einem grünen See,
Danach thu ich wohl schauen, ob es kommt in die Höh’.
Wandl’ ich über grüne Haide bis an den kühlen Rhein,
Alle meine Gedanken bei meinem Feinsliebchen sein.“

Sie sang das Lied bis zu Ende mit ganzer Brust, mit ganzem Herzen:

„Trau’ nicht den falschen Zungen, was sie dir blasen ein,
Alle meine Gedanken, sie sind bei dir allein.“

Die Schwalben und Finken, sie ließen sich nicht stören, sie kamen ungehindert durch das Fenster herein; es war, als müßten auch sie aufhorchen und sich verwundern, daß ihre Wohlthäterin, die noch jüngst auf hohem Thurme gestanden, das Haar im Winde flatternd, den Geistern dort gelauscht zu haben schien, die über Moor und Haide wie ein Elfenkind gehuscht, so schön zu singen und zu spielen vermöge! Aber es kamen später noch andere Lauscher und Geister dazu. Es war Abend geworden, dunkler, märchenhafter im Garten und im Hause. Und draußen in den Gängen lauschte und wisperte es, Buben und Mädchen schlichen herzu, Eines dem Andern zunickend, und doch nur leise, verstohlen ein Wort wechselnd. Sie schlichen durch den Garten, von verschiedenen Wegen her, alle der Treppe zu, die zum Saale hinaufführte. Und hier standen sie, wie von den Schauern einer Märchenwelt durchschüttelt, und lugten in das Gemach hinein. Sie hörten den Gesang und wagten ihn nicht zu unterbrechen. Jetzt aber, als derselbe schwieg, als die Sängerin, vom aufdämmernden Mondenschein umleuchtet, in den Saal trat, da konnten die kleinen, ungeduldigen Geister, die Buben und Dirnen des Dorfes, sich nicht länger halten, sie reckten die Köpfe auf, sie rüttelten an der Thür, riefen und baten: „Vertellen, Frölen, vertellen!“

Und sie, die all die flachsköpfigen Buben und Mädchen kannte, sie öffnete die Saalthür, kauerte auf den Sessel sich nieder, hüllte in ein Tuch sich ein, wie ein Waldelf in seinen Mantel, und begann ihre Märchen zu erzählen, Märchen, aus denen späterhin Lieder wurden.

„Fest hält die Fibel das bange Kind
Und rennt, als ob man es jage;
Hohl über die Fläche sauset der Wind –
Was rasselt drüben am Hage?
Das ist der gespenstige Gräberknecht,
Der dem Meister die besten Torfe verzecht.
Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind –
Hin ducket das Knäblein zage.

Baumstümpfe starren am Ufer vor,
Unheimlich nicket die Föhre;
Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,
Durch Riesenhalme wie Speere.“

Den Kindern gruselt’s, sie möchten entfliehen – und bleiben doch zu gern. Der Mond wirft sein dämmerndes Licht in den Saal, die Bäume rauschen und flüstern dazu. Jetzt aber, jetzt springt sie auf, läßt ihr Tuch, es wild, gespenstisch schwenkend, den Kindern entgegenflattern – und ruft: „Husch! husch! – fort! fort!“ Und die Lauscher eilen davon, jetzt rascher, fester in ihren dicken Holzschuhen auftretend, eins an das andere sich anklammernd.

„Allmählich festet der Boden sich,
Und drüben, neben der Weide,
Die Lampe flimmert so heimathlich,
Der Knabe steht an der Scheide.
Tief athmet er aus, zum Moore zurück,
Noch immer wirft er den scheuen Blick.
Ja, im Geröhre war’s fürchterlich!
Ach! schaurig war’s auf der Haide.“

So lebte und schaffte die Dichterin. Und wer hätte dieselbe nicht schon längst aus ihren Versen erkannt? Es ist Annette Freiin von Droste-Hülshoff, die am 12. Januar 1798 bei Münster geboren, im Mai 1848 auf Schloß Meersburg am Bodensee starb, Westphalens bedeutendste und genialste Dichterin.

Es liegt etwas Männliches in ihrer Poesie, wie man denn auch darin mehr Schilderung als tiefinnerliches Gefühl wahrnimmt. Es ist, als habe der Brust der Dichterin wohl ein männlicher eigenthümlicher Geist innegewohnt, doch die Liebe sei derselben nur im Vorüberrauschen zu Theil geworden. Oder hat sie dies Gefühl mit Gewalt zurückgedrängt, um nicht Schmerzen zu verrathen, von denen die Welt nichts wissen sollte? oder hat sie all ihre Liebe hineingetragen, gleich einem keuschen Herzen, das, von innerem Drange getrieben, sich dem Himmel zuwendet, in jene Lieder, die unter dem Titel „Das geistliche Jahr“ nach ihrem Tode erschienen? Ihr „geistliches Jahr“ ist ein Tagebuch, das ihr Herz für das Herz geführt.

Ihre Schwester war an den Freiherrn v. Laßberg, den Besitzer von Schloß Meersburg, verheirathet. Dorthin reiste die Dichterin gern, um ihre Gedanken über die hohen Alpenfirnen des andern Ufers schweifen zu lassen, um ihre kranke Brust zu stärken an den Gewässern des Bodensees. Hier sind viele ihrer schönsten Gedichte entstanden; hier ließ sie ihre unnachahmliche Gabe, die Natur in ihrer düsteren, dämonischen Seite aufzufassen, in ganzer Kraft walten. Für das Honorar, das sie für ihre Poesieen erhielt, kaufte sie einen kleinen, hübschen Weingarten in der Nähe der Meersburg. Dorthin lenkte sie täglich ihre matten Schritte, bis diese Schritte nach wenigen Jahren matter und matter wurden. Der Lenz des Jahres 1848 kam, ein Herzschlag machte ihrem Leben am 24. Mai gedachten Jahres ein Ende. Ihr Nachlaß ist unter dem Titel „Letzte Gaben“ 1860 veröffentlicht worden.

Wie schön erklingt ihr Lied: „Der Weiher“! Es heißt:

„Er liegt so still im Morgenlicht,
So friedlich, wie ein fromm Gewissen;
Wenn Weste seinen Spiegel küssen,
Des Ufers Blume fühlt es nicht;
Libellen zittern über ihn,
Blaugold’ne Stäbchen und Carmin,
Und auf des Sonnenbildes Glanz
Die Wasserspinne führt den Tanz;
Schwertlilienkranz am Ufer steht
Und horcht des Schilfes Schlummerliede;
Ein lindes Säuseln kommt und geht,
Als flüstr’ es: Friede! Friede! Friede!“

Am Bodensee auf dem Kirchhofe zu Meersburg hat sie ihr Grab gefunden. Friede ihrer Asche! Als Dichterin bleibt sie unvergessen.

F. V.




Blätter und Blüthen.


Das Unglück am Titlis. Es war am 21. August Mitternachts zwölf Uhr, als wir, drei junge Männer aus Engelberg im Canton Unterwalden und ich, durch das dunkle Thor des Engelberger Klosters schritten. Nachdem die Brücke über die von dem häufigen Regen hoch angeschwollene Aa hinter uns lag, stiegen wir auf einem bequemen Waldwege hinauf zur Gerschni-Alp. Mitten durch ringsum lagerndes Vieh, welches neugierig die späten Wanderer betrachtete, führte der Weg, den wir einschlugen, an dunkelm Fichtenwalde vorbei zum Jochlipaß, einem Zickzackpfade zwischen dem Laubergrat und dem Bitsistock. Nach anderthalb Stunden tüchtigen Steigens hatten wir glücklich, allerdings vom Regen sehr durchnäßt, die sogenannte Trübseealp erreicht; etwas bergabsteigend bogen wir von hier bis zur Matte rechtsum nach der am Trübsee liegenden Sennhütte, dem gewöhnlichen Nachtquartier für die, welche den Titlis besteigen wollen. Auf unser Klopfen öffnete ein Senner die Thür und wir traten in das niedrige Zimmer, das ganz gefüllt war mit jungen Männern, welche zum Theil schliefen, zum Theil sich unterhielten, aber alle, so wie wir selbst, waren in ernster, gedrückter Stimmung. Es galt nicht, von dem Trübsee aus am frühen Morhen eine fröhliche Bergtour anzutreten, es galt, am Morgen die Leichen zweier verunglückter, im Dorfe gar wohlbekannter und wohlgelittener Männer heraufzuholen aus tiefem Abgrunde und sie herabzubringen in das Thal, damit sie nach christlicher Weise bestattet werden könnten. Um diese Unglücklichen drehte sich natürlich das Gespräch: der eine von ihnen war ein Fabrikant aus Dresden, Herr Höppner, der schon acht Mal nach Engelberg gekommen, der andere der wohlbekannte Bergführer Eugenius Imsanger aus Engelberg, von den Leuten nur „der Geni“ genannt. Höppner, ein vortrefflicher Mann, den die Armen im Engelberger Thale gar hoch schätzten und dem Imsanger sehr viel galt, hatte mit einer gewissen Vorliebe für kühne und sehr schwierige Bergtouren, wenn auch ohne viel Gewandtheit und ohne die nöthige Ausdauer der Kraft, schon manche schwindelnde Höhe erklimmt, schon manchen schwer zugänglichen Paß überschritten, immer an der Hand Imsanger’s, welchem Höppner unter Anderem das erste Zeugniß eines guten Führers ausgestellt hatte. Imsanger


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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 622. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_622.jpg&oldid=- (Version vom 15.10.2022)