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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Hier unterbrachen die Uebrigen das Gespräch. Der Wagen fuhr vor, Melanie reichte Fräulein Köhler zum Abschied die Hand. „Ich wollte, Sie führen mit nach H. an meiner Stelle; ich habe keine Lust in’s Theater zu gehen,“ flüsterte sie.

Der Wagen rollte aber trotzdem wenige Minuten darauf mit ihr davon. In der Loge nahm ihr Vater neben ihr Platz, die beiden jungen Männer saßen hinter ihrem Sessel. Die Lustspiele waren allerliebst, Melanie blieb jedoch schweigsam und zerstreut. Im Zwischenact des Theaters besuchte Alphons das Foyer, er glaubte in der Loge der Schauspielerinnen eine hübsche Sängerin der Opéra comique erkannt zu haben und ging, sie zu begrüßen. Herr M. plauderte mit einem Logennachbar.

„Warum so ernst?“ fragte plötzlich Gaston leise.

„Um Ihretwillen,“ hätte das Mädchen beinahe geantwortet, aber sie bezwang sich und sagte nur: „Ich bin traurig und – und habe Kopfschmerzen.“

„Wird Herr Dacier Sie bald verlassen?“

„Uebermorgen.“

„Er wird ja in wenigen Monaten wieder hier sein.“

Es war ihr in diesem Augenblick unerträglich, daß er denken könnte, es sei der Schmerz der Trennung, der jetzt schon ihr Herz belaste, und die ganze Offenheit ihres Wesens brach hervor, als sie antwortete: „O, ich bin nicht traurig um ihn, ich war noch nie traurig um seinetwillen! Ich freue mich, daß ich mit Papa noch allein zusammenbleiben und zeichnen lernen darf.“

Sie wendete nach diesen Worten ihr Gesicht nach ihm hin und sah zum ersten Mal ein Lächeln in seinen Augen. Wie eine Fluth von Licht überströmte es sie plötzlich. Eine wunderbare Freudigkeit durchdrang ihr Herz. Aller Kummer war wie mit einem Zauberschlag verschwunden. Sie hörte freundlich und geduldig den Berichten ihres Verlobten zu, der jetzt wieder hinter ihr Platz nahm, und Alphons war am Schlusse der Vorstellung äußerst zufrieden mit dem Erfolg seiner Unterhaltung. Melanie war offenbar in heiterer Stimmung. Alle Gereiztheit schien vergessen. Und nie war sie ihm hübscher erschienen, als eben jetzt, wo sie ihm in dem rasch dahinrollenden Wagen in der hellen Mondnacht gegenüber saß. Ihr Gesicht in dem Rahmen des rothen Cachemircapuchons strahlte, die Lippen lächelten und ihre Stimme klang so süß, wenn sie ihrem Vater Schmeichelworte gab.

Sie redete mit den Andern fast gar nicht, aber sie scherzte mit dem Vater über seine Studien, und Gaston betheiligte sich an diesem Scherz, Alphons hatte ihn nie so belebt gesehen. Aber was kümmerte ihn der Maler! Melanie war ja sein unbestrittenes Eigenthum, und seine Freunde hatten wirklich ein Recht, ihn um die Braut zu beneiden; er war wirklich ein Glückskind. Als der Wagen hielt, nahm er sich allen Ernstes vor, ein wenig freundlicher gegen Gaston Dumont zu sein. Mit lebhafter Zärtlichkeit drückte er die Hand des jungen Mädchens, als er Melanie unter dem Portal des Schlosses aus dem Wagen hob und in’s Haus führte.

Aber die feinen Finger, die er umschloß, erwiderten seinen Druck nicht. „Bist Du wieder gut?“ fragte er leise.

„Gewiß,“ antwortete sie ruhig, doch sie zog die Hand langsam aus der seinen.

Dann sagte sie dem Vater zärtlich gute Nacht, bat, sich zurückziehen zu dürfen, und bot ihrem Verlobten die Hand. Er umfaßte Melanie, aber sich sanft aus seiner Umarmung lösend, ging sie auf Gaston zu und reichte ihm zum ersten Mal die Spitzen ihrer Finger. Sie berührten sich einen flüchtigen Moment, diese schlanken Hände, dann war Melanie verschwunden.

Nach der Abreise Alphons’ kamen ruhige Tage, reizende helle Stunden, Sonnenschein und Blumen. Man lebte fast den ganzen Tag im Freien und Melanie nahm ihre Zeichenstunden unter einem schattigen Zelt auf der Terrasse. Herr M. arbeitete weniger eifrig als sonst, er studirte Lichter und Schatten unter den grünen Bäumen; auch der Roman der Gouvernante blieb liegen, dagegen entstanden zahllose Gedichte mit Sonne und Wonne, Flieder und Lieder, Blätter und Geschmetter – wäre nur eine mitfühlende Seele da gewesen, sie zu verstehen! Sie konnte es nicht verschmerzen, daß der Maler so gar nicht poetisch war. Wie war es nur möglich, daß Melanie so gern mit ihm plauderte! Was sie sich nur immer zu erzählen hatten? Wie sie an seinen Lippen hing, wenn er redete! Zuweilen hörte die Köhler ein Weilchen zu – allein es war wirklich gar zu langweilig, fortwährend von einer kranken Mutter reden zu hören, oder von Gegenden und Menschen, die man nicht kannte. Sie begriff ihre sonst so ungeduldige Schülerin nicht!

Es war an einem Julimorgen, als Melanie den Stift niederlegte und zu ihrem Lehrer aufblickend sagte: „Ich habe eine Bitte an Sie.“

„Ich würde glücklich sein, sie erfüllen zu können,“ lautete die Antwort, und die großen dunkeln Augen begegneten den ihren.

„In wenigen Wochen feiern wir Papa’s Namenstag, ich möchte ihm so gern mein Portrait schenken, würden Sie dasselbe als Bleistiftzeichnung ausführen mögen?“

Eine tiefe Blässe flog über das Gesicht des Künstlers.

„Nein,“ sagte er hastig, fast rauh, „ich darf nicht! Es bringt Unglück, wenn eine Hand aus unserer Familie eine Frau malt.“

„Ueber wen? Ueber den Maler oder über die Frau?“ frug Melanie erstaunt.

„Ueber Beide.“

„Dann werde ich Sie nicht mehr bitten! Aber Sie malten, wie Sie mir erzählten, einst Ihre Mutter?“

„Das war zu jener Zeit, als ich noch nichts von dem seltsamen Fluche wußte. Und doch folgte die Strafe. Meine Mutter verlor ihren Gatten und ihre einzige Schwester kaum einen Monat nachher. Sie hat jetzt nur noch mich!“

(Fortsetzung folgt.)




Vom Vater Zschokke.
Von Friedrich Nüsperli.[1]

Wer den Rheinstrom bei Schaffhausen mit Donnerrollen über die Felsen herunterstürzen, oder von der Pfalz zu Basel hinab in sanftem Dahingleiten die liebe Schweiz verlassen, oder im Rheingau sich zwischen herrlichen Weinbergen hindurchwinden sieht, mag wohl in seinem Herzen den lauten Wunsch aufkommen fühlen, den Mächtigen auch einmal daheim, im hohen Rhätien, an seinen Quellen besuchen und beobachten zu können.

So geht es uns auch gegenüber großen Männern, deren Namen uns die Geschichte in auffallenden Schriftzügen vorführt, deren Werke wir im Leben wirksam sehen, deren Schriften wir lesen, die sie schrieben, unsere Kenntnisse zu erweitern, zu läutern und zu befestigen und unser Gemüth zu erfrischen, zu bessern und zu veredeln. Es zieht uns eine natürliche Sehnsucht hin zu diesen Männern, Zeugen zu werden, wie sie an ihrem eigenen Heerde, im Kreise der Familie schalten und walten.

Die Hand, die in diesen Zeilen Erinnerungen an Vater Heinrich Zschokke, den berühmten Verfasser der „Stunden der Andacht“, „des Schweizerlandes Geschichte“, der vielgelesenen Novellen und Erzählungen u. a. m., aufzuzeichnen unternommen, will den Leser in Zschokke’s Heimath, in das Innere seines Hauses, in seine allernächste Umgebung bringen. Sie möchte, diese Hand, zu solcher Führung wohl vor anderen geeignet sein, weil sie selber geleitet worden ist durch den gefeierten Dahingegangenen von den ersten Kinderjahren an bis in’s reifere Mannesalter, da Zschokke’s Gattin dem Verfasser dieser Zeilen nahe Blutsverwandte und Pathin war und zwischen Heinrich Zschokke und ihm ein Band bestanden hat, innig, wie zwischen Vater und Sohn.

Bekanntlich war Zschokke als Statthalter nach Basel berufen worden; damit wurde er dem Familienkreise näher gerückt, in den er bald aufgenommen werden sollte.

Am linken Ufer der Aare, eine halbe Stunde von Aarau entfernt, erhebt sich ein mäßiger Hügel, bepflanzt mit Obstbäumen, Weinreben und Wald, der Kirchberg genannt. Auf dem östlichen Ende des Bergrückens steht, mit ausgezeichneter Aussicht auf die Ebenen und Hügel des Aargau, auf den Jura und eine lange Kette des Alpengebirges, einsam die Kirche nebst Pfarrhaus, eine Viertelstunde noch weiter östlich, hart am Ufer der Aare, aber liegen Schloß und Dörfchen Biberstein, nach Kirchberg pfarrgenössig.

  1. Zschokke’s Schwager.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 628. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_628.jpg&oldid=- (Version vom 7.11.2022)