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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Buch zu zeichnen. Ich hatte Nichts dagegen. Im Zimmer stand eine Büchse zur Aufnahme der freiwilligen Gaben der Besucher. Zur Casse des Rauhen Hauses – wenn auch nur ein paar Schillinge – beizusteuern, konnte ich mich jedoch nicht entschließen. Ich dankte dem Oberhelfer aufrichtig für die Mühe, die er mehrere Stunden lang durch mich gehabt, und schied. –

„Aber – ein paar Schillinge hätten Sie doch in die Büchse werfen sollen, sei’s auch nur Anstands halber,“ sagte eine zufällig anwesende Freundin meiner Frau, als ich nach der Heimkehr von meinem Besuch im Rauhen Hause erzählte.

„Verehrte Frau,“ entgegnete ich ihr, „ich glaube, Ihre Bemerkung richtet sich selbst. Eine Gabe der Sympathie wagen Sie mir nicht zuzumuthen, aber die Gabe des Anstands soll ich nicht versagen? Ich denke, daß solche mit kaltem Herzen gereichte Anstandsgaben uns sehr wenig ‚anstehen‘. O über die Anstandsrücksichten und das sogenannte anständige Handeln! Eine lange Vorlesung ließe sich darüber halten, den Männern und den Frauen! Der Anstand, dies hohle Wort, beherrscht unser Leben. Um des Anstands willen scheuen wir es, offen und rückhaltlos Partei zu ergreifen, um des Anstands willen verbergen wir unsere Ueberzeugungen, um des Anstands willen unterstützen wir sogar unsere schlimmsten Gegner!“

„Schlimmsten Gegner?“ sagte unsere Freundin; „aber sollten wir in der Anstalt des Rauhen Hauses denn blos etwas Gegnerisches finden und nicht auch etwas uns Verwandtes? Ich habe keine Vorliebe für diese Methode der Rettung verwahrloster Kinder. Die Erziehung, wie Sie dieselbe schildern, ist mir viel zu fromm, viel zu religiös, viel zu pietistisch. Ich mag nicht dies unablässige Beten, dies herzbrechende Seufzen über die Sünde, dies hirnverdrehende und geisttödtende Aufsagen biblischer Sprüche. Ich meine, daß verständige Belehrung, menschlich-liebreiche Behandlung, freundliche Gewöhnung an regelmäßiges Arbeiten ohne den Glaubensapparat besser den Zweck der Rettung verlorner Kinderseelen erreichen würden, als Herrn Wichern’s Methode. Aber ich dächte, wie der Zweck und das Ziel der Rettungsanstalt – das Retten überhaupt – ein edles wäre, so hätten Sie auch in Ihrer Erzählung anerkannt, daß in der Anstalt Manches zu loben sei. Steht diese Anerkennung nicht im Widerspruch mit einer Feindseligkeit, die auch die kleinste Gabe versagt?“

„Ich denke nicht,“ erwiderte ich. „Doch zur Verständigung darüber werden wir nicht zwischen Thür und Angel“ – die Freundin war aufgestanden und hatte den Hut genommen – „gelangen. Erinnern Sie mich, wenn wir uns wiedersehen, daß ich Ihnen eine Antwort schuldig geblieben bin.“




Land und Leute.
Nr. 22. Ein verstecktes Paradies.

Mit jedem Sommer werden die Touristenschwärme dichter, welche sich über die Alpen ergießen; auf jedem Steg erwartet man den grünen Hut eines Berliner Gemsenjägers, der nach jöttlichen Sennerinnen späht; von den Höhen flattert der blaue Schleier englischer Ladies, und doch giebt es noch stille Winkel, wo noch kein befrackter Kellner nach Fremden auslugt, noch nicht die Bevölkerung sich rüstet, für die schöne Landschaft Geld einzunehmen. Wir kennen manchen solchen Winkel; einer der schönsten …

Montavonerin mit dem Mäßle.

Verlassen wir außerhalb Bludenz in Vorarlberg die Straße zum Arlberg und wenden wir uns gegen den föhrenbewachsenen Felsen, der sich zwischen Ill und Alfenz vorschiebt, so kommen wir bald in enge Schluchten, an tosenden Bergwässern vorbei, bald zu Wiesenthälern von ganz eigenthümlichem Schmelz. Prächtige Buchenwälder bilden ihren Saum, und rings tönt der Klang der Heerdeglocken herab. Es ist eine schöne, milde Gegend, die der Fuß des Wanderers zögernd durchschreitet, bald rückt jedoch der Abhang rechts und links wieder näher an den Fluß, der stellenweise den Boden mit Geröll übergossen hat und voll stürmischen Ungestümes an die Felsen schlägt. Noch einige Schritte, und wir haben Tschagguns und Schruns, den Hauptort des Montavon, vor uns. Diese Dörfer sind zu beiden Seiten der Ill in der anmuthigen Weitung des Thales hingestreut. Die fleißige Hand des Menschen ließ keine Scholle unbenützt, die Halden und Bergterrassen sind weit hinauf mit Höfen, Kornfeldern und Obstbäumen bedeckt. Wie mag es hier im Frühling duften, wenn der Blüthenschnee aus allen Kirschbäumen, die sogar zu einer Allee vereinigt sind, niederregnet; wie mögen die rothen und schwarzen Früchte locken, wenn die Julisonne brennt! Die Montavoner denken aber auch an den Winter, sie brennen viel und vortrefflichen Kirschengeist, Chrisiwasser, was an das lateinische Wort cerasus mahnt. Die Schrecken der Alpenwelt sind dieser glücklichen Gegend ziemlich fern gerückt, die Spitzen, welche majestätisch vom Rhätikon niederschauen, lassen sie nur ahnen; wer sie genießen will, möge sich in die Seitenthälchen wagen, die zum Theil schluchtartig nördlich gegen die Ill abfallen. Sehr empfehlenswerth ist der Uebergang durch das Rellsthal in

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 652. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_652.jpg&oldid=- (Version vom 22.10.2022)