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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

eifersüchtige Neugier erregt. Der silberne Schlüssel war daran befestigt. Sie schloß es auf. Da lag der unheilvolle Gegenstand so vieler Kümmernisse, das schone blonde Haar des Mädchens von Caen. Lange, lange schaute Melanie darauf hin, die Gestalt der wunderbaren Frau selber, wie sie Gaston beschrieben, schwebte schattenhaft vorüber. Der Kopf des blonden Malers tauchte auf, neben ihm ein finsteres, wildes Antlitz; es war Armand Rouer, wie sie ihn sich dachte; der schlangengewandte Philipp Valeur, mit den blitzenden Augen und dem Spottlächeln auf den Lippen, wie sie es in dem Zimmer von Alphons in Paris gesehen, erschien; neben ihm das reizendste Frauenbild, die blonde Spanierin, mit den Augen einer Murillo’schen Madonna, und endlich jene bleiche, wunderschöne Frau mit dem tiefen Gram in allen Zügen und dem Licht unendlicher Liebe in den Augen, wenn sie auf den Sohn blickte, und dieser Sohn selber, Gaston, den sie jetzt einen Feigling nannten, weil er das Leben seiner Mutter höher hielt, als seine Ehre bei den Menschen.

Zuletzt löste sich Alles, verschwamm Alles in einem Strom von heißen Thränen. Sie tropften nieder auf die blonde Locke der Charlotte Corday. An demselben Abend ging in kleines Paket nach Paris, von folgenden Zeilen begleitet:

„Die Kraft einer schwachen Frauenhand sollte doch weiter reichen, als der trotzige Wille eines Mannes; hier ist die unselige Locke. Möge sie nun Frieden bringen und selbst still und friedlich ruhen in der Nähe dessen, dem man sie einst raubte! O Gaston, warum hat Alles so kommen müssen! Wir werden uns nie wieder sehen! Nie! Ich habe das Alphons versprochen. Er hat jetzt einen Grund, uns zu trennen: Sie haben sich ja geweigert, sich mit ihm zu schlagen, nachdem er Sie mit Worten beschimpft und Sie ihn durch Ihre Erwiderung tödtlich beleidigt. Mein armer Kopf ist mir so verwirrt, ich kann alle diese wunderlichen Gesetze, alle diese trostlosen Conflicte mit meinem Mädchenverstande mir nicht zurechtlegen. Ich bin so fern von allem Verwirrten und Traurigen aufgewachsen. Man hat mich allezeit behütet und geschützt, Alles war so friedensvoll und die Geschichten, die mir die gute Köhler erzählte, und die Bücher, die wir zusammen lasen, waren nur dann und wann traurig, aber am Schlusse kam immer wieder Sonnenschein. Jetzt ist mir, als sei Alles dunkel, als könne es nie wieder hell und blau werden über mir. Wunderliche Pläne sind durch meinen Kopf gegangen in diesen letzten Wochen, ich stand oft vor dem Atelier meines guten Vaters, die Hand auf der Thürklinke, und wollte zu ihm hineingehen, um ihn zu bitten – doch wozu Ihnen sagen, was ich bitten wollte? Ich ging wieder zurück; war’s aus Feigheit, oder weil ich hoffte, es solle für uns Alle ein bequemes Wunder geschehen ? Ach, es war ja so recht die Zeit dazu! Aber es geschah nichts! Die Todte kam nicht wieder und löste meine Hand aus der meines Verlobten. Ich darf Ihnen nicht, wie ich wollte, jene Last tragen helfen, die ich jetzt auf Ihren Schultern sehe, jene Last, die Sie um einer Mutter willen auf sich genommen. O Gaston, ich weiß, daß diese Last Sie schwer drückt, und ich werde, mag kommen was da wolle, die Hände dankend falten an jenem Tage, wo Sie die Bürde von sich werfen dürfen. Jeden Vorwurf kann ein Mann vom andern tragen, nur den einen nicht, welchen Alphons jetzt mit Ihrem Namen verbindet. Bis zu Ihrem Erlösungstage werde ich bei Ihnen sein mit meinem Gebet und meinen Thränen und mit tausend Gedanken.

In wenigen Wochen bin ich die Frau eines Andern, aber die gestorbene Mutter will es so, und nur durch das Opfer meines ganzen Selbst habe ich die Locke der Charlotte Corday erkauft. Sorgen Sie sich nicht um mich, ich werde ihm und mir kein Leides thun; der gute Vater und meine treue Pflegerin sollen nicht über mich erschrecken. Ich werde nicht den Verstand verlieren und von Alphons weggehen, ich will Alles thun, was er von mir verlangt, und ihn nicht elend machen, aber ich werde leben, wie jene armen Vögel leben, denen man in ihrem Käfig die Augen ausgestochen. Ich sehe kein Blau mehr und kein Gold und keine Farben, ich hatte sie früher nur unbewußt gesehen, bis mich Einer wirklich und wahrhaftig sehen lehrte. Jetzt ist Alles vorüber! Gottes Segen über Sie und Ihre Mutter! Vergessen Sie mich nicht! Nie habe ich begriffen, wie man sagen konnte: ,Vergiß mich!’ Das ist ja wie Selbstmord. Also vergiß mich nicht, wie ich Deiner nicht vergessen werde, so lange ich athme.   Melanie.“




Seit einer Stunde war Melanie M. die Frau des Alphons Dacier. Man saß beim Hochzeitsmahle. In der Nacht noch wollte das junge Paar nach Italien abreisen. Eine glänzende Gesellschaft war versammelt. Der Tag war trübe, in der Nacht vorber hatte ein unbarmherziger Wind die letzten bunten Blätter von den Bäumen gerissen, der Park sah kahl und melancholisch aus. Dagegen prangten die Zimmer des grauen Herrenhauses in der üppigsten Blumenfülle, und die Riesenbouquets auf den Tafeln, die man aus Paris hatte kommen lassen, entzückten jedes Auge. Das Diner war fein und luxuriös, Tafelservice und Arrangement glänzend, die Bedienung vortrefflich, die Weine vorzüglich, nur die Stimmung war eine seltsam gedrückte. Herr M. kämpfte sichtlich mit seiner Rührung, der Abschied von seinem einzigen Kinde ging ihm an’s Herz; er hatte sogar seit zwei Tagen sein Atelier nicht betreten; die Köhler erschien unruhig und aufgeregt; die übrigen Gäste hatten jene Hochzeitsstimmung, welche wie eine schwere Garnitur an den hochzeitlichen Gewändern hängt, noch nicht abzustreifen vermocht. Die jungen Mädchen flüsterten mit einander und warfen verwunderte Blicke auf die todesblasse Braut. Melanie’s Toilette war tadellos und erregte den heimlichen Neid aller Frauen; man sah selten ein Kleid von so schönen points d'Alençon über einer Robe von weißem Taffet, und einen so geschmackvoll gefaßten und reichen Smaragdschmuck, wie ihn die junge Frau trug. Die zierlichen Reisekoffer standen gepackt, und im Ankleidezimmer Melanie’s lagen der Reiseanzug von grauer Seide und der weite Mantel von dunkelrothem, weichem Flanell; Alles war aus Paris, vom Hütchen aus der Rue Rivoli bis zu den grauen Stiefelchen aus dem Palais royal und den Handschuhen von Jouvin.

Es dunkelte bereits, die Kronleuchter und zahllose Kerzen brannten, als die Köhler hinaufschlüpfte, um ihrer Schülerin beim Umkleiden zum letzten Mal behülflich zu sein. Das Fräulein war tief ergriffen. Sie hing wirklich mit ganzer Seele an dem schönen Geschöpf, das sie seit fünfzehn Jahren bemuttert hatte. Ehe Melanie heraufkam, schrieb die Dichterin unter strömenden Thränen noch folgende Verse nieder:

„Kirchenglocken, Kirchenglocken,
Myrthenzweige in den Locken,
Abschiedsthränen, leises Zagen,
Liebessehnen, Reisewagen,
Kofferträger, Schienengleise,
Nach Italien geht die Reise.
Land, wo die Citronen blüh’n!“

In diesem Augenblick trat die junge Frau in’s Zimmer. „Wissen Sie nicht, Liebste, wer vor einer Viertelstunde Alphons abrufen ließ?“ fragte sie aufgeregt.

„Nein!“ lautete die in erstauntem Tone gegebene Antwort. „Ich sah ihn gar nicht fortgehen und war wohl schon hier oben.“

„Wir wollen Jacques, seinen Diener, rufen lassen; er weiß sicher, wo sein Herr geblieben.“

„Aengstige Dich nur nicht gleich, Kind, Du siehst ohnehin so blaß und traurig aus. Es würde Alphons gewiß viel Freude gemacht haben, wenn Du Dich etwas zusammengenommen hättest. Du siehst uns ja schon im Winter wieder. Dein Herr und Gebieter war wirklich in etwas gereizter Stimmung. Ein einziges Lächeln –“

Ein Mädchen war auf das Klingeln der Gouvernante eingetreten. Man schickte sie hinunter, um den französischen Diener des Neuvermählten herbeizurufen.

(Schluß folgt.)




Jagdmühen im bairischen Hochlande.
Von Heinrich Noë.

An einem sonnigen Herbsttage war es, als sich mir die wunderbare Landschaft aufthat, welche dem durch ungeheuerliche Felsthore Eintretenden die Nähe Berchtesgadens, des vielbesuchten und vielgefeierten Städtchens im östlichsten Winkel des bairischen Hochlands, verkündet. Schon waren die vom Mühlsturzhorn herabgewetterten Kalktrümmer überschritten; die Eiszinken des Hochkaltern schauten über das üppige Grün des Ramsauer Engthales, und das Rauschen des Klausbaches übertäubte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 660. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_660.jpg&oldid=- (Version vom 7.11.2022)