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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

rechts in’s Blaue hinuntergeht. Wir waren schon Alle glücklich darin im Ofenloch, als zufällig unter den Tritten von Einem der Vorderen sich ein großer Stein losmachte. Der rollte gleich wie rasend durch die Schlucht hinab; der Maler, der zuletzt ging, sah ihn auf sich zukommen. Was wollte er thun? Der Stein konnte an ihm vorbeispringen, er konnte ihn aber auch zerschmettern, und das war das Wahrscheinlichste. Er besann sich deshalb nicht lang, sondern kehrte um und sprang mit einem Satze in die freie Luft hinaus, in der Hoffnung, mit den Füßen auf die Schneid’ zu stehen zu kommen, aus der wir herausgekrochen waren. Da hatte er nun ein wunderbares Glück; er kam wirklich darauf zu stehen, obschon er sie von der Mündung des Ofenloches nicht zu sehen vermochte, überhaupt dort nichts Anderes erblicken konnte, als den blauen Himmel. Ich hätte aber Hundert gegen Eins gewettet, daß es ihm wie dem Stein gegangen wäre, der einen Augenblick nachher auf den Gletscher Blaueis hinabstürzte, daß es durch das ganze Gebirg’ nur so krachte.“

Als wir in’s Wirthshaus kamen, erhielt Jack seinen Lohn für das Hirschherabholen. Derselbe besteht aus achtundvierzig Kreuzern. Sein Tagelohn als Holzarbeiter läuft dabei fort, was er für eine große Gnade hält.

Frage sich der Leser, um welchen Preis er wohl zwei Centner vom Hochkaltern herabholen würde!

Wir ließen es uns schmecken, als ob man uns fürstliche Speisen auftrüge. Das Gefühl der Behaglichkeit erhöhte bald, wie Graßl vorausgesetzt hatte, ein mächtiger Sturm, der Flocken und Graupeln an die Scheiben warf. Der See heulte wie ein gewaltiges Gewässer, und als wir am nächsten Morgen erwachten, war die glänzende Decke der hohen Firste bis in die grüne Ramsau ausgebreitet.




Czar und Czarewitsch. [1]
Eine russische Haus-, Hof- und Staatstragödie.
Von Johannes Scherr.
(Schluß.)
4. Die Entsagung.

Am Morgen des 4. Februar 1718 ging im Kreml, dem alten Nationalheiligthum Rußlands, allwo vierundneunzig Jahre später der Glück- und Glanzstern Napoleon’s in Brandrauchwolken versank, eine Haupt- und Staatsaction vor sich.

Im Innern des bunten Durcheinanders von Palästen, Tempeln, Arsenalen, Hallen und Höfen stand die preobraschenskische Garde unter den Waffen. Andere Regimenter hielten die Umgebungen und Zugänge der weiten Czarenburg besetzt. Die höchsten Würdenträger des Reiches, Senatoren, Prälaten, Generale und Admirale waren im Conferenzsaale versammelt. Umgeben von einer Wolke von Hofbeamten, erschien der Czar. Die Flügelthüren des Prunkaudienzsaales sprangen auf. Peter schritt, von der ganzen Versammlung gefolgt, hinein und setzte sich auf den Thron. Es verdient Erwähnung, daß in dem glänzenden Kreise von Reichsmagnaten, welcher ihn umgab, auch eine Abordnung der Bürgerschaft von Moskau in ihren langen, dunkeln Röcken Platz gefunden hatte.

Auf einen Wink des Herrschers trat der Czarewitsch ein, gefolgt von Peter Tolstoi. Der Prinz ging zum Throne, kniete auf die Stufen desselben nieder und überreichte seinem Vater ein Papier, dessen Inhalt der Czar durch einen Staatsschreiber vor der Versammlung verlesen ließ. Es enthielt das Bekenntniß der Verfehlungen Alexei’s und dessen Bitte um Gnade.

Der Czar, auf dessen Stirn eine schwere Zornwolke lag, entlud seinen Kummer und Groll in einer langen Strafrede, deren Schluß der Ausruf bildete, daß die Verschuldungen eines so unkindlichen Sohnes eigentlich von Rechtswegen durch die Todesstrafe gesühnt werden müßten.

Der Czarewitsch warf sich dem Vater zu Füßen. „Ich flehe um keine andere Gnade, als nur um das Leben.“

„Das sei Dir gesichert. Aber es ist nothwendig und es ist mein unabänderlicher Wille, daß Du dem Throne entsagest. Willst Du?“

„Ja.“

„So sei es, und ich weise Dir von heut ab ein Jahreseinkommen von vierzigtausend Rubeln an.“

Dies gesprochen, erhob sich der Czar und begab sich an der Spitze der ganzen Versammlung in feierlicher Procession nach der uspenskischen Kirche. Hier mußte der Czarewitsch die geschehene Verzichtleistung mit einem Eidschwur bekräftigen und wurde hierüber eine Urkunde aufgesetzt, welche die sämmtlichen zur Versammlung Geladenen mit unterfertigten. –

5. Das Strafgericht.

Was bis dahin der Czar in dieser Sache gethan hatte, mag und muß sogar ein unbefangenes Urtheil vom Gesichtspunkt begründeter Sorge um das Staatswohl aus begreiflich und gerechtfertigt finden. Nun aber nahm die mißliche Angelegenheit eine Wendung, vor welcher europäische Nerven zurückbeben, weil diese Wendung alle Gräuel asiatischer Despotie mit sich brachte.

Es untersteht keinem Zweifel, daß während der Fluchtreise des Czarewitsch schlimme Zettelungen den Czaren umsponnen hatten, Zettelungen, welche darauf hinausliefen, den unglücklichen Prinzen nicht allein um die Thronfolge, sondern auch um das Leben zu bringen. Der Mittelpunkt dieses Ränkespiels, dessen Betreiber sehr geschickt auf die wilde Leidenschaftlichkeit Peter’s speculirten, ist sicherlich die Czarin Katharina gewesen, obzwar ihre direct persönliche Betheiligung an dem gräßlichen Spiele nicht mit völliger Sicherheit aufgedeckt werden kann. Es handelte sich darum, auch nach dem Tode des Czaren Rußland auf der Bahn, auf welche es Peter geworfen hatte, festzuhalten; denn nur in diesem Falle sahen alle die Werkzeuge und Günstlinge des Czaren, Katharina voran, ihre Zukunft gesichert. So lange aber der legitime Thronnachfolger lebte, war der dereinstige Wiederhereinbruch des Altrussenthums und somit ein über alle Förderer und Anhänger von Peter’s Reformwerk ergehendes Rachegericht nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine Wahrscheinlichkeit, ja eine Gewißheit. Demgemäß mischten die, welche schon um ihrer eigenen künftigen Sicherheit willen den Czarewitsch gänzlich beseitigen und der Katharina die Thronfolge zuwenden wollten, die Karten, von welchen sie dem Czaren eben nur solche sehen ließen, die er ihren Absichten gemäß sehen sollte. Das ganze Spiel hat er nicht durchschaut oder wenigstens erst dann, als es zu spät war. Denn es muß ihm zugestanden werden, daß er es mit der gewährten Begnadigung des Sohnes ernstlich gemeint hatte. Aber umgarnt, wie er war, ließ er sich von den Ränklern weiter und weiter fortziehen, und seine zügellosen Leidenschaften thaten das Uebrige.

Der Hauptkartenmischer scheint Allem nach der Senator und Staatsrath Tolstoi gewesen zu sein. Auch ein Fürst Dolgoruki tritt unter der Regisseuren des Trauerspiels zeitweilig in den Vordergrund und zwar zweideutig genug. Er soll dem Czarewitsch aus Auftrag des Czaren zugeredet haben, die Mönchskutte zu nehmen, aber mit dem Beifügen: „Sie brauchen sich darob keine grauen Haare wachsen zu lassen. Nach dem Tod Ihres Vaters verlassen Sie das Kloster und besteigen den Thron.“ Für die Hände solcher Intriguenkünstler mußte der Körper- und Geistesschwächling Alexei ein leicht herzurichtendes Opfer sein. Dieses eine Opfer genügte aber der neurussisch-katharinaischen Partei nicht, es galt vielmehr, mit dem Schlage, womit der unbequeme Czarewitsch getroffen werden sollte, zugleich auch die altrussische Partei, wenigstens in ihren Spitzen, niederzuschmettern und wegzusäubern.

Noch am Tage der Haupt- und Staatsaction vom 4. Februar wurde der Prinz einem Verhör unterzogen, damit seine Mitschuldigen, d. h. alle diejenigen, welche ihn zu seinen Verkehrtheiten ermuntert und angeleitet hätten, bekannt würden. Wir müssen annehmen, daß sich der geängstigte, arg in die Enge getriebene Unglückliche Aussagen entpressen ließ, wie man sie wünschte, Aussagen, welche für eine Menge von Personen sehr beschwerend waren. Daß Alexei schon jetzt mittels der Knute oder sonstiger Qualwerkzeuge gefoltert worden, ist unerwiesen und auch unwahrscheinlich. Seine

  1. S. Nr. 40.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 664. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_664.jpg&oldid=- (Version vom 28.10.2022)