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Angst war wohl eine ausreichende Folter, der Kern seiner Geständnisse aber dieser, daß ihm von Seite der altrussischen Partei der Rath zugekommen sei, sich zu verstellen, Alles stillschweigend geschehen zu lassen, nöthigenfalls auch in ein Kloster zu gehen, aber nach dem Tode des Vaters die Maske abzuthun und die altmoskowitische Herrlichkeit wieder aufzurichten.

Darauf hin wurden in Moskau allein siebenzig Verhaftungen vorgenommen, und Fahndungsbefehle gingen in alle Theile des Reiches, so daß die Procedur rasch ganz monströse Verhältnisse annahm. An die Klosterpforte von Ssusdal klopften ebenfalls Haftboten: die verstoßene Czarin Awdotja wurde als Gefangene nach Moskau abgeführt. Auch des Czaren ränkesüchtige Schwester Maria wurde verhaftet, sowie die Fürstin Galizyn, eine abgefeimte Creatur, welche ihre alten Tage zwischen Ausschweifungen und Verschwörungsversuchen theilte. Hinter den verschworenen Frauen stand als Antreiber ein Pfaffe, der Erzbischof Dosithei von Rostow, – was ganz in der Ordnung; denn wo und wann hätten in lichtscheuen Geschäften die „Diener des Herrn“ nicht mitagirt? Czar Peter war freilich der Mann, auch sothane Diener des Herrn sehr nachdrucksam bei ihren höchst ehrwürdigen Bärten zu packen. Nicht als Mann aber, sondern als Unmensch und rechter Gräuelpeter erwies er sich, als er seiner Wuth so sehr Zaum und Zügel schießen ließ, daß er nicht nur der alten Galizyn, sondern auch der Mutter seines Sohnes, der verstoßenen Awdotja, eigenhändig die Knute gab. Allerdings war die Ex-Czarin schwer compromittirt, wenigstens in den Augen des Czaren wirklich und schwer compromittirt. Unter ihren Papieren hatte man die Beweise ihrer unlauteren Vertraulichkeit mit Stephan Glebow aufgefunden, sowie einen förmlichen Plan, den Czaren vom Throne zu stoßen. Waren aber diese Documente echt? Oder waren sie von der Sorte, wie sie zu unseren Zeiten in verschiedenen Ländern aus gesellschaftsretterlichen Fabriken hervorgegangen sind? Dame Historia muß mit verlegenem Augenniederschlag der Wahrheit gemäß eingestehen, daß sie bis zur Stunde außer Stande sei, die eine oder die andere dieser Fragen mit Bestimmtheit zu bejahen oder zu verneinen.

Das Blut begann zu strömen. Schon am 25. März 1718 wurde über Dosithei, Kikin, Wäsemski und Glebow das Todesurtheil gefällt. Die drei Ersteren wurden gerädert, der Letzte asiatisch-barbarisch gepfählt. Glebow ist wie ein Held gestorben. Die raffinirteste Folterpein hatte ihn nicht dazu bringen können, gegen die Czarin Awdotja zu zeugen, und selbst auf dem schrecklichen Pfahle behauptete er bis zum letzten Athemzug seine Standhaftigkeit. Dieser muß es gedankt werden, daß gegen Awdotja nicht weiter verfahren werden konnte. Im Uebrigen aber war das Unheil einmal im Schwung und Zug und mußte seinen Fortgang haben. Nachdem noch in Moskau eine große Anzahl von Beschuldigten, darunter an fünfzig Popen und Mönche, hingerichtet worden, befahl der Czar, daß die Fortführung der Procedur in St. Petersburg statthaben sollte, wohin er selber ging und wohin er auch den gefangenen Czarewitsch bringen ließ.

Zum Unheil für Alexei kehrte die Finnin Affraßja, welche er in’s Ausland mitgenommen hatte, gerade jetzt von dort zurück, und sei es, daß sie wirklich nur gezwungen mit dem Prinzen gelebt hatte und ihm deshalb Haß trug, sei es, was wahrscheinlicher, daß Alexei’s Feinde in ihr ein förderndes Werkzeug erkannten und zu gewinnen wußten: genug, dieses Weib, welches der unglückliche Czarewitsch wirklich geliebt hat – denn er bat nach seiner Verurtheilung seine Wächter weinend, sie möchten ihm die Erlaubniß auswirken, Affraßja nur noch einmal zu umarmen – dieses Weib ward an ihm zur Verrätherin und Anklägerin. Sie gab an, der Prinz habe allezeit den entschiedensten Widerwillen gegen das ganze Wesen und Walten seines Vaters gehegt und geäußert. Er habe kein Hehl daraus gemacht, daß er dereinst, sofort nach seiner Thronbesteigung, dem Peter’schen System sein Ende bereiten würde, und er habe mit der altrussischen Partei in engen Beziehungen gestanden, mit der Partei, welche geplant, daß nach Peter’s Tod seine Haupthelfer und Günstlinge, wie Mentschikow, Jaguschinky, Scheremetew, Schaffirow und Andere, gespießt und sämmtliche Deutsche im Reiche niedergehauen werden sollten. Dann wollte man Petersburg zerstören, das stehende Heer auflösen und im Kreml zu Moskau unter Czar Alexei auf gut Altmoskowitisch residiren und regieren.

Niemand hat in des Czaren Seele geblickt und uns gesagt, was Alles in derselben durcheinander und übereinander wogte und wallte, als er erkennen mußte oder erkennen zu müssen glaubte, daß er zwischen dem Sohn und der Zukunft Rußlands zu wählen habe. Ueber das Vatergefühl hinauszukommen, gehört ohne Frage zu dem Schwersten, was einem Menschen auferlegt werden kann, und nichts berechtigt uns, anzunehmen, daß dieses Schwere und Schwerste zu vollbringen dem schrecklichen Czaren nicht harten Kampf und bitteres Leid gekostet habe. Den Kampf zu enden, mag dann die weitere Anklage, daß die um den Czarewitsch her thätigen, obzwar bislang nur mit Worten thätigen, Umtriebler auch im Sinne gehabt, ihr Reactionswerk dadurch zu beschleunigen, daß sie dem Czaren nach dem Leben trachteten, bedeutend mitgewirkt haben. Peter war jetzt entschlossen, zum Aeußersten zu schreiten.

Am 6. Juni berief er eine Versammlung von zwanzig Prälaten und einhundert vierundzwanzig hohen Staatsbeamten. Jene sollten begutachten, ob es auf Grund der Bibel zulässig, den Czarewitsch zu strafen; diese sollten sich als Tribunal constituiren, um den Prinzen und seine Mitschuldigen zu richten. Die Priester sagten nicht Ja und nicht Nein, sondern wickelten salbungsvoll ihr Gutachten, das weder warm noch kalt, in ein Convolut von Bibelstellen, aus welchen der Czar entnehmen konnte, was ihm beliebte. Der Gerichtshof constituirte sich, allein seine Zusammensetzung war so, daß das ganze Verfahren nur eine düstere Komödie sein konnte. Die Richter nannten sich selbst die „Sclaven“ des Czaren und sie sind in Wahrheit nichts gewesen, als Ja sagende Marionetten an den Drähten, welche die Matadore der katharinischen Partei in Händen hielten. Es war ein politischer Parteiproceß und die Besiegten wurden von den Siegern gerichtet, damit ist Alles gesagt.

Wir besitzen keine völlig verläßliche Berichterstattung weder über die Einzelheiten der Procedur noch über die der Katastrophe, welche dieselbe beschloß. Die vorhandenen Relationen widersprechen sich, sogar in Hauptsachen. Die Trübheit vollends der officiellen Quellen ist ganz augenscheinlich, wie ja das in solchen Fällen naturgemäß. Aber auch in den nicht officiell-russischen, in den Berichten, welche die auswärtigen Gesandten an ihre Höfe abstatteten, ist Alles voll Dunkel, Verworrenheit und Widerspruch. So wußte der sächsische Geschäftsträger zu berichten, Alexei habe sich vor seinen Richtern keineswegs als Schwächling und Feigling benommen, sondern sei vielmehr sehr mannhaft und kühn aufgetreten, seinem Vater in’s Angesicht trotzend. „Er wisse sehr wohl,“ habe er geäußert, „daß der Czar ihn nicht liebe, und deshalb hätte auch er sich von der Liebespflicht, welche gegenseitig sein müsse, entbunden geglaubt. Er hätte es also für kein Unrecht gehalten, seinen Haß gegen die Neuerungen und Günstlinge seines Vaters kundzugeben, unter deren Druck das gequälte russische Volk seufze.“ Das stimmt nun aber gar nicht mit dem ganzen Wesen und Gebahren des Prinzen. Wahr mag sein, daß er, das Wenige, was von Kraft noch in ihm war, zusammenraffend, anfänglich versuchte, seinen Richtern stolz gegenüber zu treten; aber nicht minder wahr mag sein, daß er, wie der preußische Gesandte Mardefeld (?) heimschrieb, zuletzt „zu Allem sich bekannte, was er wußte, und wohl auch zu Solchem, was er nicht wußte.“ Daraufhin habe der Gerichtshof über den Unglücklichen das Todesurtheil gesprochen, und dieses wurde ihm am 7. Juli 1718 in feierlicher Sitzung des Senats kundgemacht. Diese Verkündigung des Todesspruchs am genannten Tage steht unzweifelhaft fest.

Nun aber läßt sich ein österreichischer Berichterstatter aus Petersburg vernehmen, der von einem Eingeständniß und Sündenbekenntniß des Czarewitsch Nichts, dagegen folgendes Schreckliche zu melden weiß: „Die Todessentenz konnte vermöge der russischen Gesetze nicht zur Execution gebracht werden, bevor der Prinz durch sein eigenes Geständniß seines Verbrechens überzeuget worden wäre, und weil er Alles leugnete und sich Niemand wollte finden lassen, der die Hand an seinen Kronprinzen, um solchen zu torquiren, hätte legen wollen, so nahm der Czar solches Amt selbsten über sich. Da er aber dieses Amt noch nicht so meisterlich als der ordinäre Büttelknecht verstehen mochte, versetzte er seinem Sohn mit der Knutpeitsche einen solchen unglücklichen Streich, daß Alexei gleich sprachlos zur Erde sank und die anwesenden Ministri nicht anders meinten, als daß der Prinz sogleich verscheiden würde. Der Vater hörete zwar auf zu schlagen, ließ aber im Weggehen diese häßlichen Worte verlauten: ‚Der Teufel wird ihn noch nicht holen!‘“

Falls diese Scene geschichtlich-wahr, so würde sie uns den Czaren als einen Wilden, als einen rasenden Barbaren und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 665. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_665.jpg&oldid=- (Version vom 28.10.2022)