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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

dreihundert von selber erlernt, mechanisch durch täglich wiederholte Uebung im Sprechen und Hören. Sie sprach vollkommen und flüssig Englisch, der deutsche Gelehrte wie ein fauler Junge in der Schule, der seine Verse nicht gelernt hat. Das viele, leichte, flüssige Sprechen in einer oder in mehreren Sprachen ist sehr leicht erlernt, wie unsere deutschen Kellner in deutschen, französischen, englischen, amerikanischen Hotels, Kinder mit französischen Bonnen und englischen Gouvernanten beweisen. Mit ein paar hundert Worten, die man in allen ihren Wendungen und Windungen und Stellungen mechanisch erlernt, ist für das beste Geplauder Alles abgemacht. Mit etwa tausend solchen Wörtern des gemeinen Lebens, der Umgangssprache d. h. etwa dreihundert in ihrem deutschen, französischen und englischen Klange und deren idiomatischer, d. h. jeder Sprache eigenen Gefügigkeit, spricht man für den gewöhnlichen Umgang und dessen Unterhaltungsstoff vollkommen Deutsch, vollkommen Französisch, vollkommen Englisch.

Man kann schon mit achtzehn bis zwanzig Wörtern eine lange Rede halten.

Mein Buch ist auf ihrem Tische.
Ihr Ring war bei meinem Glase.
Sein Messer liegt unter ihrem Stuhle.

Das sind drei richtige deutsche Sätze mit achtzehn Wörtern, die jedes Kind leicht lernt. Sind sie ordentlich gelernt, so kann man damit etwa eine halbe Stunde richtig und flüssig sprechen, ohne die drei Sätze nur ein einziges Mal zu wiederholen. Man kann nämlich aus diesen drei Sätzen etwa siebenhundert machen, jeder von dem andern verschieden, indem man immer das eine oder das andere Wort (oder mehrere) des einen Satzes mit einem oder mehreren darunter stehenden vertauscht, also: „Mein – Ring – liegt – auf – ihrem – Tische“ etc. siebenhundert Mal, jedesmal verschieden, jedesmal richtig. Die Unterschiebungen einzelner Wörter an die Stelle anderer, können ganz mechanisch, gedankenlos gemacht werden, es wird doch immer ein richtiger deutscher Satz. Dieses mechanische Durcheinanderwürfeln der Wörter behufs der Einprägung und des flüssigen Gebrauchs in allen Fügungen übernimmt nun die metabolische Maschine. Es ist die „Ollendorf’sche Sprachlehrmethode“ in vereinfachter und vervollkommneter Form. Sie geht von der richtigen Voraussetzung aus, daß man eine Sprache nur flüssig und geläufig sprechen kann, wenn man sich zunächst an die nöthigsten und gewöhnlichsten Worte hält und diese nicht als einzelne Vocabeln, sondern in allen möglichen idiomatischen Verbindungen lernt.

Die Maschine übernimmt es, alle möglichen Verbindungen und Satzbildungen zu erleichtern. Sie besteht aus einem Kasten mit Würfeln und einem Glasdeckel. Auf den Würfeln stehen verschiedene einzelne Wörter, so gewählt, daß sie, wie sie auch fallen, immer einen richtigen Satz bilden. Damit keine ungrammatische oder unsyntaktische Verbindung entstehe, sind Zellen im Innern so eingerichtet, daß jeder Würfel sich nur auf seinem Platze drehen und irgend ein Wort seiner sechs Seiten obenhin bringen kann. Eine Handhabe zum Drehen am Kasten verändert die Würfel mit jeder Umdrehung mechanisch. Als Beispiel der Mannigfaltigkeit der Verbindungen solcher gewürfelten Wörter wird angeführt, daß zehn Würfel, jeder nur mit zwei Worten beschrieben, die zwei Sätze von je zehn Worten bilden, sich zu mehr als fünftausend richtigen Sätzen – alle verschieden – verwürfeln lassen. Man denke nun an die Combinationen mit zehn bis zwölf Würfeln, von denen jeder sechs statt zwei Wörter enthält!

Der specielle Nutzen dieses mechanischen Hülfsmittels für richtigen, flüssigen Gebrauch der Wörter besteht darin, daß des Lernenden Aufmerksamkeit immer nur auf je einen Satz auf einmal gerichtet wird, während in Lehrbüchern die vielen Sätze neben- und untereinander die Aufmerksamkeit zerstreuen und ermüden; daß es dieselbe zu erlernende Sache in immer neuen Formen herausspielt und dieses Spiel frisch erhält; daß dieses Würfelspiel wegen des Zufalls, der dabei herrscht, das Auge immer für den nächsten Wurf schärft (wie dies bei allen Zufallsspielen der Fall ist); daß die Beschreibung der Würfel in der einen Reihe mit den Worten der zu erlernenden Sprache, in der andern mit denen der Muttersprache (die Würfel werden mit Bleistift beschrieben und können leicht gereinigt werden), immer Gelegenheit und Uebung in doppelter Uebersetzung giebt; daß zu dem ordentlich Erlernten immer leicht und unmerklich etwas Neues gefügt und so der ganze Sprachreichthum allmählich spielend und in stets lebendigen, richtigen Sätzen in Fleisch und Blut, in die Sprachwerkzeuge, nicht in Papier und verwirrende Regeln und Ausnahmcn übergeht; daß die Maschine den Werth und Nutzen aller andern Maschinen hat, nämlich dem Geiste, der Arbeitskraft abzunehmen, was blos mechanisch ist; daß sie die bessere Kraft für bessere Zwecke schont und spart. Sie ersetzt das mechanische Erlernen einer Sprache, das „Vonselberlernen“, wie es durch Aufwachsen in einem bestimmten Volke oder künstlich durch Bonnen und Gouvernanten geschieht, so gut eine Maschine dies überhaupt ersetzen kann.

Es mag für deutsche Lehrer und Gelehrte wie eine Spielerei aussehen, aber „ein tiefer Sinn liegt oft im kindischen Spiel“. Die Sache scheint genauerer Prüfung werth. Wir empfehlen deshalb das Originalwerk zur Lectüre, resp. Uebersetzung. Der Titel ist: „The Mastery of Languages; or the Art of speaking foreign tongues idiomatically. By Thomas Prendergast. London, Bentley.“ (Die Bemeisterung der Sprachen, oder die Kunst, fremde Zungen in deren Eigenthümlichkeit richtig sprechen zu lernen.)

H. B.




Der Leierkasten als Volkserzieher. Dem aufmerksamen Beobachter wird, wohl in allen Theilen unseres großen deutschen Vaterlandes in gleicher Weise, eine eigenthümliche Erscheinung auffallen. Wir meinen das gleichsam epidemische Auftreten eines volksthümlichen Lieblingsliedes aller Welt. Dasselbe verbreitet sich, meistens von einer großen Stadt ausgehend, strahlenförmig über ganze Provinzen, ja Länder, bis in die entlegensten Dörfer und Flecken derselben, wird von Alt und Jung in rastlosem Eifer gesungen und verschwindet dann wieder – um von einem neuen verdrängt zu werden.

Meistens sind es klägliche, elende Gassenhauer, die zu dieser größten Popularität gelangen. „Schmeißt ihn ’raus, den Juden Itzig“, „So’n janzen, janzen kleenen, so’n janzen kleenen Mann“, oder „Uns’re hübschen, jungen Mädchen muß man auf dem Balle seh’n“ – das sind einige aus der neuern Zeit, die noch keineswegs zu den schlechtesten gehören. Oft werden sie auch gar nicht einmal gesungen, sondern blos gepfiffen; so z. B. der „Düppler Sturmmarsch“ im nordöstlichen Preußen.

Unschwer aber vermögen wir nun auch den eigentlichen Ursprung der außerordentlichen Popularität dieser Lieder zu erkennen – und zwar in dem wandernden Leierkasten. Noch ist die Zeit nicht lange vorüber, da er jene alten, gleichsam classischen Lieder zum Besten gab:

„Hier meine Herr-
en ist zu sehn,
wie eine Mord-
that ist geschehn,
im Jahre acht-
zehnhundertzehn.“

Oder: „Sie hat ihr Kind, sie hat ihr Kind mit einer Gabel umgebrungen.“ Seitdem hat der Leierkasten sich nun allerdings bedeutend civilisirt und, wie ja fast Alles und Alle, so huldigt auch er jetzt vollständig dem Zeitgeist. Wohl kein wichtiges Ereigniß geht vorüber, das nicht auf dem Leierkasten seinen Wiederhall fände. Namentlich Schleswig-Holstein mußte seiner Zeit in ganz unbeschreiblicher Weise herhalten und der Refrain: „Wir reichen Dir die Bruderhand“ wurde von früh bis spät in solchem Eifer gedudelt, daß man darüber hätte wahnsinnig werden können.

Dafür ist der Leierkasten aber in unserer Zeit auch wirklich zu einer gewissen culturgeschichtlichen Bedeutung gelangt. Man beobachte es nur: sobald seine ersten Töne auf einem Hofe oder an einer Straßenecke sich losquälen, sammelt sich sofort ein andächtiger Kreis von Zuhörern um ihn, und je nachdem er bloße Molltöne von sich giebt oder noch von menschlichen Philomelen begleitet wird, kann man, bald nach seinem Weiterrücken, das Vorgetragene sehr vielstimmig nachgrölen oder nachpfeifen hören. Ja, das, was er vorträgt, erreicht die vollständigste Popularität – und Louis Napoleon hätte in der That gescheidter daran gethan, statt in den Gleichnissen des „Leben Cäsar’s“ zu sprechen, seine hohen Ideen vom Leierkasten herab allem Volke zugänglich zu machen.

Doch allen Scherz bei Seite; der Leierkasten muß den niedrigsten Volksschichten gegenüber in aller Wahrheit als ein Lehrer, ein Erzieher betrachtet werden. Aus seinen politischen Liedern entnimmt der Bube seine ersten Begriffe und Anschauungen von der Welt: er zieht im Geiste mit hinaus nach Schleswig-Holstein und ruft, mit seinen Beinchen auftrampelnd: „Up ewig ungedeelt!“ An den Liebesliedern des Leierkastens entflammen sich die ersten heißen und süßen Gefühle im Herzen des jugendlichen Dienstmädchens und willig wird auch der so sauer erworbene Groschen noch für die „fünf neuen Lieder“ dahingegeben, um die lieblichen Worte sorgfältig nachstudiren zu können.

Leider ist aber der Leierkasten in neuerer Zeit vollständig in die Fußstapfen des Volkstheaters getreten, hat sich fast ausschließlich der Posse zugewandt und ist daher, fast überall, ebenso wie die Bühne, im Stadium des „höheren Blödsinns“ angelangt. Wenn jene alten, vorhin angeführten Räuber- und „Moritthäter“-Lieder uns auch ganz entsetzlich schauerlich und elend erscheinen mußten, so hatten sie doch Eines voraus: eine gewisse Moral, die den erschauernden Zuhörern die Strafe für die grausigen Mordthaten meistens im allerfurchtbarsten Lichte erscheinen ließ. Dagegen nun die Leierkastenlieder unserer Zeit! Bei ihnen ist das politische Gebiet noch immer das beste, denn die hierher gehörenden Witze sind dem großen Haufen entweder unverständlich, oder doch unschädlich. Was soll man aber dazu sagen, wenn der Grote’sche Mord in Berlin mit Wittwe Quinche und Genossen in einer Weise vom Leierkasten besungen wird, die in gleicher Weise frivol, frech, geradezu unsittlich, fade witzig und jammervoll gereimt ist; was können daraus die armen, lustig mitsingenden Arbeiterkinder, die leicht erregten Dienstmädchen etc. lernen? –

Unter allen Gelehrten der Welt erscheinen offenbar als die düstersten und allerkläglichsten – die Gelehrten des Leierkastens. Und doch, welchen unendlichen Einfluß haben sie auf die großen Volksmassen! In wie hohem Grade mögen die Lebensschicksale zahlloser Menschen durch die von jenen ausgesäete Moral geleitet und begründet sein! Ja, diese unheimlichen, unbekannten Poeten, die mit bewundernswerther Virtuosität kein Zeitereigniß, keine schwarze That, kein grelles Vorkommniß vorübergehen lassen – ohne davon ihren kärglichen Gewinn zu ziehen, ohne ihrem großen Auditorium „Nutz und Frommen“ davon zu bringen, sie stiften unleugbar viel Unheil und Verderben, indem sie, gleich der jetzigen modernen Posse, gleich gewissen Zeitungen das Laster und Verbrechen in lustiger Weise darzustellen und in seichter Moral nur Gelächter darüber zu erzwingen suchen.

An die Humanität und Einsicht aller wahren Volksfreunde appellirend, mache ich auf diesen argen Mißstand nicht blos aufmerksam, sondern füge auch eine dringende Mahnung hinzu. Meines Erachtens ließe sich nämlich unendlich Segensreiches stiften, wenn in jeder Stadt wohlmeinende und befähigte Männer zusammentreten und Vereine gründen möchten, welche sich die Aufgabe stellen: die volkserziehenden Leierkasten, in billigster Weise, immer mit guten und volksthümlich gedichteten Liedern, namentlich nationalen und patriotischen Inhalts, zu versehen. Sehr schwierig könnte dies Ziel wahrlich nicht zu erreichen sein – und welch reicher Segen würde daraus erblühen!

Möchte diese Anregung nicht unbeachtet vorübergehen! Die „Gartenlaube“ bietet den besten Vereinigungspunkt für diese Bestrebungen; man wolle daher nur überall baldmöglichst zusammentreten und durch häufige Mittheilungen an das allverbreitete Blatt das gewiß sehr wichtige Werk zur recht vielseitigen Erfüllung bringen.

R.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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