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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

No. 43.   1865.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Prinzessin Champagner.

Der Tag aller Seelen, der 2. November des Jahres 184*, neigte sich, der Abend nahte mit leichten Schritten. Ein dichter Nebel, der sich allmählich in eisige Tropfen auflöste, hing über der ruhelosen Riesenstadt London. Unaufhörlich wogte und strömte das Leben durch die Straßen, rollten die Wagen, kreischten die Stimmen der Verkäufer, klagte das Elend; es war ein athemloses Jagen und Rennen, Rufen und Drängen, Mühen und Sorgen, Ringen und Hasten um – ein Leichentuch, das Ende allen Strebens. Eine kurze Spanne Zeit und Andere beteten für Jene, die da eben vorübereilten, wie diese am Morgen für ihre Todten gebetet.

All diesen Lärm, sowie die melancholische Unbehaglichkeit der Atmosphäre, ahnte Niemand in jenem reizenden Salon der gefeierten Tänzerin Cyrilla, die von ihren Bewunderern „der Abendstern“ genannt wurde. Die dunkelrothen Seidengardinen waren zugezogen, es glühte und flackerte im Kamin, ein Meer von Licht ergoß sich von den Kronleuchtern und Girandolen auf die heitere Gesellschaft, die sich hier versammelt und in anmuthigen Gruppen auf den Sammetdivans und in den tiefen Fauteuils Platz genommen hatte. Im Nebensaal stand eine reichbesetzte Tafel, funkelnd von Silbergeschirr und geschmückt mit Blumen. Man wollte fröhlich sein und heut’ am Tag aller Seelen nicht der Todten gedenken, sondern sie vielmehr jetzt um jeden Preis vergessen. Heute Morgen in der Kirche hatte man seine Pflicht gegen sie erfüllt, der Rest des Tages gehörte den Lebenden. Etwa fünfzehn Personen, Schauspielerinnen vom Drurylane-Theater, Sänger von der italienischen Oper, einige junge Tänzerinnen, Schülerinnen der Cyrilla, mehrere der vornehmsten jungen Männer der Londoner Aristokratie, der alte Herzog von D., langjähriger Beschützer der gefeierten Tänzerin, und eine Cousine des Abendsterns, eine Pariserin, seit mehreren Wochen Cyrilla’s Gast – das war die Gesellschaft in dem eleganten Salon. Die Pariserin war die Sonne der Variétés, bekannt unter dem Namen Melusine. Ihre intimeren Freunde nannten sie Prinzessin Champagner. Es war eine Vereinigung von weiblichen Schönheiten, die sich in diesem Zimmer zusammengefunden, und auf den ersten Blick erschien Melusine die unbedeutendste. Die junonische Schönheit Cyrilla’s blendete besonders bei Kerzenlicht. Dies zarte Weiß und Roth erschien so echt, die Augen so leuchtend in dem Schmuck tiefschwarzer Wimpern und Brauen, das dunkle Haar so üppig, Arme und Hände so verführerisch, das ganze Wesen so bezaubernd im Glanz der ausgesuchtesten Toilette. Nach ihr fiel die blonde Arabella auf, die zweite Tänzerin mit dem holdseligsten Madonnengesicht und einer Fülle goldenen Haares, das wie ein Mantel um ihre vollendete Gestalt floß, wenn sie es, wie sie das zuweilen zu thun pflegte, löste. Die jungen Schülerinnen der Cyrilla waren blendend schöne Geschöpfe, und die drei Schauspielerinen von Drurylane hübsch und geistvoll. Alle plauderten und scherzten lebhaft durcheinander, nur Melusine war heut auffallend still. Sie saß auf einem Tabouret neben dem Kamin und hatte, wie das ihre Art, die Hände um ihre Kniee gefaltet. Es lag etwas Träumerisches in ihrer Haltung und in dem Ausdruck ihres Gesichts. Wie erloschen blickten die großen, in unbestimmter Farbe schillernden Augen vor sich hin. Ein klein wenig zusammengezogen hatten sich die fein gezeichneten Brauen über der Nasenwurzel, die Lippen waren fest geschlossen. Hellbraune Locken hingen an den Wangen nieder, das blasse Gesicht mit den feinen Zügen einrahmend. Die junge Schauspielerin trug tiefe Trauer, schweren Taffet und Krepp, im grellen Gegensatz dazu eine rothe Rose im Haar.

War das wirklich jene gaukelnde Sylphide der Variétés, die gefeierte Königin des Lustspiels, der Liebling der Pariser, dessen Erscheinung alle Sorgen verscheuchte und ein Lächeln selbst auf jene Lippen zauberte, die längst das Lachen verlernt; dies übermüthigste Geschöpf in ganz Paris, war das unsere Prinzessin Champagner?

„Sie hat wieder ihren dunkeln Tag,“ lächelte Cyrilla, „laßt sie gewähren!“

„Warum in Trauer, Melusine?“ fragte ein Mann von vornehmem Wesen und echt englischer Schönheit nachlässig, der ihr gegenüber in einem Fauteuil ausgestreckt lag. „Welche wunderliche Caprice!“

Melusine antwortete nicht, veränderte auch keinen Zug ihres Gesichts.

„Kind! bist Du zu Stein erstarrt?“ lachte Cyrilla. „Hörst Du nicht, daß Lord Francis mit Dir redet?“

Und der Herzog von D. warf eine Camellie nach ihr.

Melusine fuhr auf. Ihre Augen funkelten in seltsam grünem Licht, eine Röthe überflog einen Augenblick Wangen und Stirn. Verächtlich schleuderte sie die Blume von sich, wie ein widerliches Insect.

„O weh, die arme Blume!“ rief Arabella. Sie dachte daran, daß diese prächtige weiße Camellie sicherlich heut Morgen mit einem halben Sovereign bezahlt worden war.

„Warum thatet Ihr das, Herzog?“ fragte jetzt eine erregte Stimme, und von einem Kissen am Boden, zu den Füßen Melusine’s, erhob sich die Gestalt eines sehr jungen Mannes. Er lag halb auf den Knieen und sah drohend nach dem Angeredeten hin. Zugleich zerrissen seine Finger mit konvulsivischer Hast die weißen Blumenblätter. Es war Guy, der jüngste Bruder des Lord Francis.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 673. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_673.jpg&oldid=- (Version vom 6.12.2022)